Große Chronik von Gramatneusiedl, Marienthal und Neu-Reisenberg
1923
1923
In der Sitzung der
Gemeindevertretung von Gramatneusiedl
vom 2. März 1923 wird mit elf gegen drei
Stimmen beschlossen, dem Verein »Kinderfreunde«, Ortsgruppe Marienthal, eine Subvention in der Höhe von 1,000.000 Kronen zu gewähren.
In derselben Sitzung verpachtet die Gemeinde dem
»Sportclub
Marienthal. Gegründet 1908« den
Sportplatz für weitere drei Jahre bis 21. Mai 1926
gegen Zahlung
einer jährlichen Pacht von 20.000 Kronen; in der Sitzung der Gemeindevertretung vom 11. April 1923 wird außerdem die Vergrößerung des Umkleideraumes bewilligt.
Im Februar 1923 lehnt die Niederösterreichische Landesregierung das Ansuchen der
Freien Gemeinde Gramatneusiedl um Verkauf eines gemeindeeigenen Grundstückes in der Größe von 5.615 m2 an die »Sozialdemokratische Arbeiterpartei«
(SDAP),
Ortsgruppe Gramatneusiedl-Marienthal, aus formalen Gründen ab. Auf dem Grundstück sollen ein Erholungsheim für Arbeiter und Arbeiterinnen (das spätere Arbeiterheim Marienthal) sowie ein Kindergarten (das spätere
Heim der Kinderfreunde) errichtet werden. Über Antrag des christlichsozialen Gemeinderats Matthias Spiegelgraber (1865–1939) soll nach einstimmigem Beschluss der Gemeindevertretung vom 2. März 1923 der Grund nicht mehr der Partei, sondern an die Sozialdemokraten
Josef Bilkovsky (1871–1940), Rudolf Böhm (um 1893–1941), Robert Malik (um
1878–1956) und Karl Swoboda (1885–?) verkauft werden, und zwar um 280.750 Kronen. Dies ist der Beginn des in der
Marienthal-Studie häufig genannten Arbeiterheims Marienthal, das
1925 als Genossenschaft gegründet wird, welche 1926 das Gebäude errichten lässt.
(
Dokument.)

1923
Mit Stichtag
7. März 1923 findet in Österreich eine Volkszählung statt, die für Gramatneusiedl 2.292 Bewohner in 133 Häusern ausweist; es gibt ein letztes Mal für Marienthal detaillierte Daten: Auf dem Gemeindegebiet von Gramatneusiedl leben in Marienthal 1.406 Personen in 20 Häusern, auf jenem von
Reisenberg 363 Personen in 16 Häusern. (
Text.)

1923
In der Sitzung der
Gemeindevertretung von Gramatneusiedl vom 11. April 1923 wird im Zuge der vom Land
Niederösterreich geförderten Instandsetzung von Bezirksstraßen beschlossen, sich an der Beschotterung der Straße von Gramatneusiedl nach Velm (heute zu Himberg,
Niederösterreich) zu beteiligen.

1923
Nach einem vergeblichen Versuch
1919, in Gramatneusiedl ein
Kino zu bauen, wird 1923 in der Siedlung
Neu-Reisenberg »Anna Gartner’s
Elite-Ton-Kino Marienthal-Reisenberg« im Hof des Gasthauses »Zum Südpol«,
Reisenberg 136
(heute Reisenbergerstraße 11), von Anna Gartner, geborene Meindl (1883–1971), eröffnet. Das später »Lichtspiele Marienthal–Reisenberg–Gramatneusiedl« genannte Kino wird
1962 geschlossen. Anna Gartner wird
1928 versuchen, ein
weiteres Kino, diesmal direkt in Gramatneusiedl, zu eröffnen.

1923
In der Sitzung der Gemeindevertretung von Gramatneusiedl vom 30. Mai 1923 wird erstmals die Vergabe von
Ehrenbürgerschaften in der
Republik (gemäß Niederösterreichischer Gemeindeordnung vom 23. Juli 1904) beschlossen. Der Schuldirektor Adolf Altenbacher
(1865–1928) und der Oberlehrer Ferdinand Wilhelm Liebhart (?–1925) werden anlässlich ihrer Versetzung in den dauernden Ruhestand die ersten
Ehrenbürger Gramatneusiedls in der Ersten Republik: wegen »ihrer Verdienste, die sich die beiden Herren als langjährige Jugendbildner einerseits und als
Gemeindevertreter von Gramatneusiedl für das öffentliche Wohl der Bevölkerung von Gramatneusiedl andrerseits erworben haben« (Sitzungs-Protokoll zur Gemeinde-Ausschuß-Sitzung der Ortsgemeinde Gramatneusiedl am 2. März 1923, S. (7)).

1923
Am 10. Juni 1923 begeht der »Deutsche Turnverein Gramatneusiedl-Marienthal« unter Leitung des Obmanns »Fritz« Friedrich Albrecht sein
zehnjähriges Gründungsfest mit einer großen Feier und einem
Bezirksturnen auf der Gramatneusiedler Hutweide, an welchem auch dessen kurz zuvor gegründete »Schüler- und Schülerinnenriege« beteiligt ist. (
Dokument.)

1923
In der Sitzung
der Gemeindevertretung von Gramatneusiedl
vom 21. Juli 1923 wird die Reparatur und
Wiederinbetriebnahme der gemeindeeigenen Brückenwaage sowie die Wiederinbetriebnahme der Gemeindeuhr am
Schloss Gramatneusiedl beschlossen.
Weiters wird die Bereitstellung von drei Millionen Kronen monatlich aus dem Fürsorgefonds der Gemeinde für Bedürftige beschlossen, was angesichts der hohen Arbeitslosenrate von
42 Prozent in der Freien Gemeinde Gramatneusiedl dringend erforderlich
scheint. ( Dokument.)

1923
Gemäß Weisung der Bezirkshauptmannschaft Mödling
(Niederösterreich) vom Juli 1923 halten in Gramatneusiedl
weiterhin 24 Personen gegen Felddiebstahl Flurwache, wobei deren Organisierung durch die
»Landwirtschaftliche Genossenschaft Gramatneusiedl«
erfolgt.

1923
Am 5. August 1923 entsteht die Ortsgruppe Marienthal des im Mai 1923 gegründeten »Republikanischen Schutzbundes«, eine paramilitärische Organisation der Sozialdemokratie.
Anfangs hat sie mit 120 Mann Kompaniestärke. Folgt man den Gruppenfotos, dürfte die Ortsgruppe zuletzt etwa 150 uniformierte Mitglieder umfasst
haben. 1933 wird die Organisation vom Ständestaat-Regime behördlich aufgelöst.

1923
In einem Schreiben des Obmanns der »Kinderfreunde« Karl Swoboda (1885–?)
an die Gemeindevertretung von Gramatneusiedl vom 21. August 1923 wird um Unterstützung für das
Montessoriheim angesucht, weil die Arbeitslosigkeit einen Erhalt durch die Eltern unmöglich mache; im September 1923 werden fünf Millionen Kronen bewilligt.
Seither wird der Kleinkindergarten von der
Freien Gemeinde Gramatneusiedl regelmäßig subventioniert, und auch die »Union der Textilarbeiter Österreichs« beteiligt sich an den Personalkosten.
( Dokument.)

1923
Am 23. September 1923 findet eine Begehung des Gemeindegebietes
von Gramatneusiedl durch eine bezirksbehördliche Sanitätskommission und den Gemeindearzt Andreas Hauswirth (1885–1975) statt, wobei arge sanitäre
Missstände festgestellt werden.

1923
In der Sitzung
der Gemeindevertretung von Gramatneusiedl vom 24. September 1923 wird dem
Bahnhof Gramatneusiedl die Konzession erteilt, eine Funkanlage zu errichten.
Weiters wird dem »Deutschen Turnverein Gramatneusiedl-Marienthal« eine Unterstützung von zweieinhalb Millionen Kronen für den Ankauf von Jugendbüchern und Jugendspielgeräten für die dem Verein
angeschlossene »Schüler- und Schülerinnenriege« gewährt.

1923
Am 29. September 1923 ersucht der
»Sportclub
Marienthal. Gegründet 1908« die
Freie Gemeinde Gramatneusiedl um Überlassung eines kleinen Grundstücks, um den
Sportplatz erweitern zu können. Dies wird am 13. November 1923 bewilligt. ( Dokument.)

1923
Am 2. Oktober 1923 ersucht der »Arbeiter-Turn- und Sportverein Marienthal« die
Freie Gemeinde Gramatneusiedl um eine Subvention zur Reparatur der Turngeräte, da die Arbeiterschaft angesichts der
herrschenden Arbeitslosigkeit dies nicht mehr bezahlen kann. Am 13. November
1923 bewilligt die Gemeinde dafür drei Millionen Kronen. Der damals
neu gegründete »Arbeiter-Turn- und Sportverein Marienthal«
ist in den 1920er Jahren der mit Abstand mitgliederstärkste Verein Marienthals, eine Art Dachorganisation, der verschiedene Arbeitersportgruppen angehören, gegliedert in mehrere Sektionen: Bis 1929 entstehen sieben Fußball- und drei Radfahr-Riegen,
je eine Geräteturner-, Knaben-Turner-, Mädchen-Turner-, Faustballer-,
Raffballer-, Handballer-, Handballerinnen-, Ringer-, Stemmer-, Radball-
und Radreigen-Riege. Der Verein wird im Zuge des behördlichen Verbots sozialdemokratischer
Organisationen
1934
aufgelöst. ( Dokument.)

1923
Am 13. November 1923 ersucht der Inhaber der Bahnhofsrestauration, Gramatneusiedl 58 (ab 1961: Bahnstraße 64), Karl Wittner
(1884–1953) die
Freie Gemeinde Gramatneusiedl um die Erlaubnis, sein von der Gemeinde
gepachtetes Lokal auf eigene Kosten mit elektrischem Licht vom
Lagerhaus Gramatneusiedl der »Landwirtschaftlichen Genossenschaft
Gramatneusiedl« auszustatten, was ihm genehmigt wird.

1923
1923 wird die
1920 begonnene Kommassation, also eine Zusammenlegung von Grundstücken, von der
Freien Gemeinde Gramatneusiedl abgeschlossen.

1923
1923 wird der
»Burschenverein Gramatneusiedl« als
erster ausschließlich Männern vorbehaltener katholischer Verein im Ort
gegründet. Obmann ist Franz Schorn (1905–1983), der den Verein
1927 freiwillig auflöst
und das Vereinsvermögen der »Freiwilligen Feuerwehr Gramatneusiedl« überlässt.
Der Verein hat allerdings eine stark eingeschränkte Zielsetzung: In seinem Schreiben an die
Gemeindevertretung von
Gramatneusiedl vom 11. Dezember 1923 wird um Unterstützung für die Errichtung eines Kriegerdenkmals angesucht, was in der Sitzung der Gemeindevertretung vom 12. März
1924
positiv erledigt wird. ( Dokument.)

© Reinhard Müller
Stand: Juni
2010
 |