Große Chronik von Gramatneusiedl, Marienthal und Neu-Reisenberg
1926
1926
Bei einem Lokalaugenschein am 13. Januar 1926 wird beschlossen, das Verladegleis beim
Bahnhof Gramatneusiedl auszubauen und hinter das Südbahn-Heizhaus zu verlegen. Die
Gemeindevertretung von Gramatneusiedl
spricht sich allerdings dagegen aus, weil dadurch Mehrkosten für die Instandhaltung des Weges zum neuen Verladegleis entstünden.

1926
Am
30. Januar 1926 nimmt der neue Sender auf dem Rosenhügel in Wien den
Betrieb auf. Damit können Radiosendungen der seit 1. Oktober 1924 in
Wien ausstrahlenden »RAVAG« (Radio-Verkehrs Aktien-Gesellschaft) auch in Gramatneusiedl empfangen
werden.

1926
In der Sitzung
der Gemeindevertretung von Gramatneusiedl vom 30. Januar 1926 wird die Pflasterung der
Bahnstraße von der
Volks- und Bürgerschule Gramatneusiedl zum
Bahnhof Gramatneusiedl mit Granit-Kleinsteinpflaster einstimmig beschlossen. Für diese erste gepflasterte Straße des Ortes muss die Gemeinde 26.200 Schilling aufbringen. Die Arbeiten werden zwischen dem 16. April und 11. Juni 1926 von der Firma »Landl & Ebert« aus Wiener
Neustadt (Niederösterreich) ausgeführt.
In derselben Sitzung wird die von der Niederösterreichischen Landesregierung mit Schreiben vom 12. Dezember 1925 vorgeschlagene Trennung der Gemeinde Gramatneusiedl vom Bezirk Mödling
(Niederösterreich)
und Eingliederung in den Bezirk Bruck an der Leitha
(Niederösterreich)
von der
Gemeindevertretung einstimmig abgelehnt.
Weiters wird einstimmig
beschlossen, gemäß Verordnung der Niederösterreichischen Landesregierung
vom 22. Dezember 1925 mit Wirksamkeit vom 1. Januar 1926
Verwaltungsabgaben für verschiedene Leistungen der Freien Gemeinde
Gramatneusiedl einzuheben; diese Gebühren werden in Gramatneusiedl am
31. Januar 1926 kundgemacht. ( Dokument.)

1926
Bürgermeister Josef Bilkovsky
(1871–1940) wird als erster Bewohner Gramatneusiedls in
den Niederösterreichischen Landtag gewählt, dem er vom 24. März 1926 bis 20. Mai 1927 als sozialdemokratischer Abgeordneter angehört.
1932 wird
er neuerlich in den Landtag gewählt werden.

1926
Mit 1. Mai 1926 wird das
bisher an Adolf Scherer vermietete
Gemeindewirtshaus
Nr. 1 im
Schloss Gramatneusiedl an Adalbert Siegl (1895–1976)
aus Groß-Enzersdorf (Niederösterreich) bis 1. Mai
1929 verpachtet. Wie aus einer Sitzung der Gemeindevertretung von Gramatneusiedl im Dezember
1927 hervorgeht, befindet sich hier auch das einzige Fremdenzimmer des Ortes.

1926
Mit Schreiben vom 7. Mai 1926 fordert der Obmann der neu gegründeten »Mietervereinigung
Österreichs, Landesorganisation Niederösterreich, Lokalorganisation
Gramat-Neusiedl«, der Konditormeister und sozialdemokratische Politiker Julius Jung
(1894–1979), die Gemeindevertretung von Gramatneusiedl
auf, eine Verordnung zu erlassen, nach der alle leer stehenden Wohnungen im Ort verpflichtend gemeldet werden. Da die
Freie Gemeinde Gramatneusiedl keine gesetzgebende Gewalt sei, wird dieses Ansuchen in der Sitzung der Gemeindevertretung
von Gramatneusiedl
vom 17. Mai 1926 als erledigt betrachtet.

1926
Mit dem 8. Mai 1926 wird auf Anregung von Marianne Hainisch, geborene Perger (1839–1936), Mutter des amtierenden Bundespräsidenten Michael Hainisch (1858–1940), der so genannte Muttertag in Österreich eingeführt.

1926
In der Sitzung
der Gemeindevertretung von Gramatneusiedl vom 17. Mai 1926 wird die Wiederbelebung des
Marktwesens
in Gramatneusiedl diskutiert, ohne zu einem Beschluss zu gelangen. ( Dokument.) Nachdem man sich auch in der Sitzung der der Gemeindevertretung von Gramatneusiedl vom 8. Juni 1926 zu keinem Beschluss durchringen kann, wird die Angelegenheit erst im Juli 1926
geregelt. ( Dokument.)
Weiters wird in der Sitzung vom 17. Mai 1926 die Einsendung eines schriftlichen Protests gegen die geplante
Neuregelung der Arbeitslosenversicherung
durch das Bundesministerium für soziale Verwaltung an das zuständige
Ministerium und die drei im Österreichischen Nationalrat vertretenen
Parteien beschlossen. ( Dokument.)

1926
In der Sitzung
der Gemeindevertretung von Gramatneusiedl vom 8. Juni 1926 wird die Pflasterung des
Wiener-Gasserls (nicht mehr
vorhandene Straße beim
Schloss Gramatneusiedl Richtung Norden, etwa
parallel zur heutigen Wiener Straße) einstimmig beschlossen.

1926
Mit 1. Juli 1926 tritt die 17. Novelle zum Arbeitslosenversicherungsgesetz gemäß
dem Bundesgesetzt vom 30. Juni 1926 in Kraft.
Gegen dieses Gesetz hatte die Freie Gemeinde Gramatneusiedl im Mai
1926 vergeblich
protestiert.

1926
Mit Erlass der Niederösterreichischen Landesregierung vom 22. Juni 1926 müssen in allen Ortsgemeinden Ortstafeln aufgestellt werden.

1926
Im Juni 1926 kauft die Pfarre Moosbrunn
(Niederösterreich)
den Grund an der damaligen Pfarrgasse (heute etwa Georg Grausam-Gasse 1), unmittelbar bei der
Kirche Sankt Peter und Paul und der Kinderbewahranstalt um 2.700 Schilling, wobei der »Katholische Mädchenbund« dafür insgesamt
3.000 Schilling sammelt. Hier und auf einem
1927 erworbenen Grundstück wird 1928 das Katholische Vereins- und Kinderheim errichtet werden.

1926
Mit dem Landesgesetz vom 25. Juni 1926 erhält die
Freie Gemeinde Gramatneusiedl durch den Landtag von Niederösterreich die Bewilligung zur Einhebung eines neunzigprozentigen Zuschlages zur Landesgrund- und Landesgebäudesteuer des Jahres 1926.

1926
Am 27. Juni 1926 findet auf der Wiese hinter dem
Gerätehaus der
»Freiwilligen
Feuerwehr Gramatneusiedl«, Gramatneusiedl 50 (ab 1961: Hauptstraße 1), die Fahnenweihe des »Deutschen Turnvereins
Gramatneusiedl-Marienthal« statt. Für diese Feierlichkeit wird eigens ein Altar auf dieser Wiese errichtet. Der Verein ist eng mit dem im Mai 1926 in Wien gegründeten
»Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterverein« (Hitlerbewegung) verbunden, welcher sich der deutschen Mutterpartei »Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei« (N.S.D.A.P.) unterordnet.

1926
1926 nimmt die
Textilfabrik Marienthal – erstmals seit
1922 – wieder ihre Bautätigkeit auf und lässt zunächst vier Holzbaracken mit je drei Wohneinheiten aufstellen, welche später nach ihrem Verwalter,
dem Weber Josef Stahl (1896–1959), »Stahls
Wohnbaracken« genannt werden:
Gramatneusiedl 147,
Gramatneusiedl 148,
Gramatneusiedl 149 und
Gramatneusiedl 150 (1960 und
2000 abgerissen). Außerdem lässt die Fabrik das
Angestelltenwohnhaus Mautner-Haus, auch »Neues Haus« oder »Beamtenhaus«
genannt, Gramatneusiedl 154 (ab 1961: Dr. Löw-Gasse 1), errichten. Damit
hat die Textilfabrik Marienthal ihre größte bauliche Ausdehnung bis zur
Fabrikschließung 1930 erreicht. (
Plan
1926.)
Im Juli 1926 wird infolge einer schweren
Wirtschaftskrise die Hälfte der Belegschaft der
Textilfabrik Marienthal entlassen, wodurch es – allerdings nur vorübergehend – zu einem massiven Ansteigen der
Arbeitslosenrate in Gramatneusiedl kommt. Diese Maßnahme der Fabrikleitung dauert bis Jahresende an. Die Entlassenen fallen jedoch überwiegend in die Arbeitslosenunterstützung, wie Angaben der Gemeinde für den
September 1926 zeigen. Erst im Januar
1927 wird wieder der alte Beschäftigtenstand in der Textilfabrik erreicht.

1926
Im Juli 1926 erhält die
Freie Gemeinde Gramatneusiedl vier Grundstücke im Ausmaß von etwa zehn Joch aus der Liquidationsmasse der »Gemeinnützigen Wirtschaftsgenossenschaft der Mitterndorfer Industrie, registrierte Genossenschaft mit beschränkter
Haftung« unentgeltlich. Es handelt sich dabei um
1915 zur Errichtung des »k(aiserlich) k(öniglichen) Barackenlagers Mitterndorf« beschlagnahmten Grund, der nunmehr in das Eigentum der Gemeinde und nicht in jenes der ehemaligen Besitzer
übergeht. Damit ist der 1924
zwischen den Gemeinden Gramatneusiedl und
Mitterndorf an der Fischa
(Niederösterreich) aufgeflammte Streit um diese Grundstücke vorläufig beigelegt.

1926
In der Sitzung
der Gemeindevertretung von Gramatneusiedl vom 21. Juli 1926 wird beschlossen, die Krautgartenbrücke und die
Jesuitenbachbrücke zu erhalten. Im Dezember 1926 beschließt die Gemeindevertretung die Ersetzung der hölzernen Krautgartenbrücke durch eine Brücke aus Beton, welche
1927 durch die Firma »Ing. A(dolf) Sterba & F(ranz) Pahl«,
Wien 5. (mit
Filiale in Gramatneusiedl), ausgeführt wird.
In derselben Sitzung wird die
seit Mai 1926
diskutierte »Markt-Ordnung der Gemeinde Gramatneusiedl« beschlossen. Diese tritt mit Erlass der Bezirkshauptmannschaft Mödling
(Niederösterreich) vom 8. März 1927 in Kraft. Zum ersten Marktkommissär wird Vizebürgermeister Josef Doleček (1885–1952) bestellt. Neue Markthütten werden erst
1927
aufgestellt. ( Dokument.)

1926
Mitglieder der im
Vorjahr gegründeten »Arbeiterheim
Marienthal, registrierte Genossenschaft mit beschränkter Haftung« bauen im Sommer 1926
in Eigenregie das
Arbeiterheim Marienthal, Gramatneusiedl 158, an dessen Westseite sich die
Aufschrift befindet: »Erbaut 1926 / Arbeiterheim /
Marienthal«. Dieses verfügt über einen großen Saal sowie ein Sitzungszimmer. Es dient seither als Vereinslokal der »Sozialdemokratischen Arbeiterpartei« (SDAP) und der ihr angeschlossenen und nahe stehenden Vereine. Bis dahin erfüllte das in
Neu-Reisenberg gelegene Gasthaus Sam diese Funktion. Man kann im Arbeiterheim Marienthal ohne den in Gasthäusern üblichen Konsumzwang verkehren, kostenlos Karten und Schach spielen oder Zeitungen lesen. Außerdem ist hier die zuletzt etwa 1.300 Bände umfassende Bibliothek der sozialdemokratischen Organisationen untergebracht.
Das Arbeiterheim Marienthal, das nach der
Textilfabrik in der
Marienthal-Studie am häufigsten genannte Gebäude, dient während der Recherchen dem
Projektteam als wichtiger Kommunikations- und auch Beobachtungspunkt. Das Arbeiterheim Marienthal wird
1977 baupolizeilich geschlossen und
1989 abgerissen; an dessen Stelle befindet sich heute das
Gemeindezentrum Gramatneusiedl,
Marie-Jahoda-Platz 1.
Auf demselben Grundstück, welches
1923 von den Sozialdemokraten Josef Bilkovsky
(1871–1940), Rudolf Böhm (um 1893–1941), Robert Malik (um 1878–1956)
und Karl Swoboda (1885–?) erworben wurde, wird im rechten Winkel zum Arbeiterheim Marienthal und parallel zur
Hauptstraße das
Heim der Kinderfreunde, Gramatneusiedl 157, aufgestellt. Es handelt sich dabei um eine von der Werksiedlung Kienberg (heute Sankt Wolfgang–Kienberg, Steiermark) nach Marienthal transportierte Holzbaracke, welche nunmehr Vereinslokal der Ortsgruppe Marienthal der
»Kinderfreunde« ist, ebenso Stützpunkt der lokalen
Organisationen des »Verbands der sozialistischen Arbeiterjugend Österreichs« sowie der »Roten Falken«. Das Heim der Kinderfreunde wird
am 1. April 1945 von Angehörigen der Deutschen Wehrmacht niedergebrannt.
Das Arbeiterheim Marienthal und das
Heim der Kinderfreunde sind die beiden einzigen Gebäude Marienthals auf dem Gemeindegebiet von Gramatneusiedl, welche sich nicht im Besitz der
Textilfabrik Marienthal befinden.

1926
In der Sitzung
der Gemeindevertretung von Gramatneusiedl vom 22. September 1926 wird es abgelehnt, für 44 Arbeitslose im ehemaligen »k(aiserlich) k(öniglichen) Barackenlager Mitterndorf«
zu zahlen, da die Zuständigkeitsfrage zwischen den Gemeinden
Gramatneusiedl und
Mitterndorf an der Fischa
(Niederösterreich) noch nicht geklärt sei. Tatsächlich verfügt die
Niederösterreichische Landesregierung mit Erlass vom 25. Oktober 1926
die Beibehaltung der bisherigen Gemeindegrenzen bezüglich der
umstrittenen Grundstücke. ( Dokument.)
Zugleich werden die Auswirkungen der mit 1. Oktober 1926 in Kraft tretenden Teile der 18. Novelle des
Arbeitslosenversicherungsgesetzes gemäß dem Bundesgesetz vom 28. Juli 1926 für die Gemeinde dem Gemeinderat mitgeteilt, welche die Zahlungen der
Freien Gemeinde Gramatneusiedl für ihre momentan 73 Ausgesteuerten
betreffen. (
Dokument.)

1926
Anlässlich der
1925 erfolgten Umstellung auf Schillingwährung wird mit Stand vom Oktober 1926 eine »Gebäude-Schätzung
der Aktien-Gesellschaft der Baumwoll-Spinnereien, Webereien, Bleiche,
Appretur, Färberei u(nd) Druckerei zu Trumau – Marienthal. Fabrik
Marienthal« angefertigt, welche eine detaillierte Beschreibung und Bewertung aller Gebäude der
Textilfabrik
Marienthal enthält.

1926
Die »Landwirtschaftliche Genossenschaft Gramatneusiedl« errichtet eine
Roggenmühle, Gramatneusiedl 102 (ab 1961: Bahnstraße 66). Die Mühle, welche
täglich 3.000 Kilogramm Roggen mahlen kann, wird zunächst als Lohnmüllerei betrieben. Da dies unrentabel ist, wird
1929 auf Handelsmüllerei umgestellt und die Mühle Leistung steigernd umgebaut;
1935 erfolgt neuerlich ein grundlegender Umbau.

1926
In der Sitzung
der Gemeindevertretung von Gramatneusiedl vom 4. Dezember 1926 wird beschlossen, eine
Ergänzung der Kinderspielzeuge und Einrichtungsgegenstände des
1922 eingerichteten
Montessoriheimes zu finanzieren. Desgleichen wird eine Unterstützungsaktion für alte, arbeitsunfähige Leute analog der Aktion im Vorjahr beschlossen.
Weiters wird beschlossen, der seit September 1926 von der Zuckerfabrik der »Oesterreichischen Zuckerindustrie-Aktiengesellschaft« in Bruck an der Leitha (Niederösterreich) angestrengten Errichtung einer neuen Verladestation beim
Bahnhof Gramatneusiedl unter finanzieller Beteiligung der
Freien Gemeinde Gramatneusiedl für den Zufahrtsweg zuzustimmen. Die neue Anlage wird
1927 errichtet.

1926
Die Weltwirtschaftskrise führt zum Zusammenbruch der 1921 gegründeten »Neuen Wiener Bankgesellschaft«, deren Präsident
Stephan Mautner (1877–1944) ist. Dieser Bankenkrach führt 1929 zu einem raschen Zerfall des einstigen Industrieimperiums von
Isidor Mautner (1852–1930) und damit
1929 bis 1930 zum Ende der
Textilfabrik Marienthal.

© Reinhard Müller
Stand: Juni
2011
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