Große Chronik von Gramatneusiedl, Marienthal und Neu-Reisenberg
1929
1929
Im Januar 1929 hat Gramatneusiedl 2.920 Bewohner, der höchste Stand in der Geschichte des Ortes. Dasselbe gilt auch für die
Textilfabrik Marienthal, welche zu Jahresbeginn 1929 etwa 1.200 Arbeiter und Arbeiterinnen sowie
rund 90 Angestellte aufweist: Dies ist der höchste Beschäftigungsstand ihrer über hundertjährigen Geschichte. Die Dominanz der Arbeiterschaft im Ort schlägt sich auch in der
wirtschaftlichen Schichtung nieder, wo in der Fabrik beschäftigte Angestellte, Arbeiter und Arbeiterinnen 45 Prozent der anwesenden Bevölkerung Gramatneusiedls ausmachen.

1929
Mit Beschluss des Bezirksgerichtes Ebreichsdorf
(Niederösterreich) vom 9. Januar 1929 ist der für den Neubau der
Hauptschule notwendige Baugrund vollständig im Besitz der
Freien Gemeinde Gramatneusiedl.

1929
Am 18. Januar 1929 reicht der Kaufmann Leopold Schippani
(1899–1959), Gramatneusiedl 78 (ab 1961: Hauptstraße 42 & 44), im Namen der Handels- und Gewerbetreibenden von Gramatneusiedl eine von 33 Personen unterzeichnete Petition ein, die
neuerlich ein Hausierverbot im Ortsbereich fordert. Erst nach einer
neuerlichen Mahnung wird das Gesuch in der Sitzung
der Gemeindevertretung von Gramatneusiedl vom
18. Juni 1929 behandelt.

1929
Am 30. Januar 1929 wird die Kommassation (Grundstückzusammenlegung) in Gramatneusiedl abgeschlossen.

1929
Januar bis März 1929 gibt es den kältesten Winter seit Jahrzehnten. Am 11. Februar wird in Zwettl (Niederösterreich) die Tiefsttemperatur von minus 36,6 Grad Celsius gemessen, in Gramatneusiedl liegt sie bei minus 25 Grad. Fast drei Monate lang liegt
der Schnee ungewöhnlich hoch.

1929
In der Sitzung
der Gemeindevertretung von Gramatneusiedl vom 13. Februar 1929 wird beschlossen, in der
zum 1928 erbauten
Katholischen Vereins- und Kinderheim führenden
Pfarrgasse eine elektrische Beleuchtung zu errichten.

1929
Im März 1929 werden die im
Vorjahr eingeführte zweite Schicht in der Spinnerei der Textilfabrik Marienthal wieder eingestellt und in der
Druckerei Kurzarbeit angeordnet. In Marienthal und im Bauerndorf Gramatneusiedl brodelt die Gerüchteküche: Die
Druckerei sei überhaupt schon gänzlich geschlossen, 60 bis 70 Prozent der Belegschaft seien bereits entlassen und die Fabrik werde bald gänzlich
zugesperrt. Die Spekulationen um die Textilfabrik Marienthal verstärken auch die Kluft zwischen den beiden politischen Hauptlagern Gramatneusiedls. Während
die Sozialdemokraten zumindest nach außen hin von einer nur vorübergehenden Krise und
vom grundsätzlichen Weiterbestand der Fabrik ausgehen, sind die Christlichsozialen vom Ende der Textilfabrik überzeugt und fürchten ein proletarisches Arbeitslosenheer. Faktum ist, dass gemäß den Angaben des
Finanzreferenten der Freien Gemeinde Gramatneusiedl,
Rudolf Theuer (1876–1940), 80 Prozent aller Einnahmen der Gemeinde von der Fabrik und ihrer Arbeiterschaft stammen und dass das Schicksal von etwa 80 Prozent der Bevölkerung vom
uneingeschränkten Fortbestand der Fabrik abhängt.
( Dokument.)

1929
In der Sitzung
der Gemeindevertretung von Gramatneusiedl vom 3. April 1929 wird der auslaufende Pachtvertrag vom Jahr
1926 für Adalbert Siegl (1895–1976) aus Groß-Enzersdorf (Niederösterreich) für das
Gemeindewirtshaus
Nr. 1 im
Schloss Gramatneusiedl auf weitere drei Jahre bis Mai
1932 verlängert.

1929
Im April 1929 beginnt die – mit Unterbrechungen – bis 1936 fortgeführte Regulierung des Neubachs.

1929
Am 14. April 1927 verabschieden unter Führung von Josef Baron (1887–1959) und Georg Fensl (1884–1958) der »Niederösterreichische Bauernbund, Ortsgruppe Gramatneusiedl«, die »Landwirtschaftliche Genossenschaft Gramatneusiedl«, der »Deutsch-österreichische Gewerbebund, Ortsgruppe Gramat-Neusiedl und Umgebung«
sowie 72 Gramatneusiedler Bürger und Bürgerinnen (das sind etwa
zehn Prozent der Steuer zahlenden Bevölkerung des Ortes) eine Protestresolution gegen den geplanten Bau der
Hauptschule. Angesichts der angespannten Lage in der
Textilfabrik Marienthal wäre die ökonomische Situation der
Freien Gemeinde Gramatneusiedl massiv
gefährdet. Diese Resolution, die auch die Gemeinderäte Franz Griesmüller (1868–1938), Josef Moldaschl (1863–1937), Karl Pecha (?–1937)
und Matthias Spiegelgraber (1865–1939)
unterzeichnen, wird an die Niederösterreichische Landesregierung
eingesandt. ( Dokument.)

1929
In der Sitzung
der Gemeindevertretung von Gramatneusiedl vom 7. Mai 1929 wird der Protestresolution
mehrerer Bewohner Gramatneusiedls gegen den geplanten Bau der
Hauptschule
vom 14. April 1929 ( Dokument)
erörtert, über Mehrheitsbeschluss (zehn gegen fünf Stimmen)
zurückgewiesen und eine Resolution der sozialdemokratischen Mehrheit (
Dokument) an die Niederösterreichische Landesregierung als
Gemeinderatsbeschluss verabschiedet. (
Dokument.)
Weiters wird dem Tischler- und Glasermeister Matthias Krammer, Gramatneusiedl 63 (ab 1961: Bahnstraße 6), die Ausübung des Leichenbestattungswesens im Ortsbereich einstimmig bewilligt.

1929
Mit Schreiben vom 8. Mai 1929 legen vier der fünf Gemeinderäte der »Christlichsozialen Wirtschafts-, Gewerbe-, Hausbesitzer- und Bürgerpartei«, nämlich Franz Griesmüller (1868–1938), Josef Moldaschl (1863–1937), Karl Pecha (?–1937) und Matthias Spiegelgraber (1865–1939), wegen Überstimmung der Minderheit in der Sitzung der Gemeindevertretung vom
Vortag in Sachen Neubau der
Hauptschule ihr Mandat nieder. Es ist dies der größte parteipolitische Eklat im Gemeinderat Gramatneusiedl seit 1919, der auch
kurz darauf, am 28. Mai,
einen Erfolg zeitigt. ( Dokument.)

1929
Mit Schreiben der Niederösterreichischen Landesregierung vom 28. Mai 1929 wird der geplante Neubau der
Hauptschule wegen der angespannten finanziellen Situation der
Freien Gemeinde Gramatneusiedl infolge der unsicheren
Lage der
Textilfabrik Marienthal
vorläufig verschoben. (
Dokument.)

1929
Die
Zuspitzung der wirtschaftlichen Lage und das Problem zunehmender
Arbeitslosigkeit belegt auch die Weisung des Amts der
niederösterreichischen Landesregierung vom 1. Juni 1929 über die sofort
einzustellende Gewährung von Vorschüssen auf die
Arbeitslosenunterstützung durch die Gemeinden. ( Dokument.)

1929
Im Juni 1929 wird die
Spinnerei der
Textilfabrik Marienthal mit zuletzt 45.000 Spindeln stillgelegt. Damit beginnt die stufenweise Schließung des Unternehmens, die im Februar 1930 abgeschlossen wird. Alle Angaben über die schrittweise Stilllegung der Fabrik in der
Marienthal-Studie weichen von den hier
festgestellten ab.

1929
In der Sitzung
der Gemeindevertretung von Gramatneusiedl vom 18. Juni 1929 wird die
Einmahnung der am
18. Januar 1929 vom Kaufmann
Leopold Schippani
(1899–1959), Gramatneusiedl 78 (ab 1961: Hauptstraße 42 & 44), im Namen der Handels- und Gewerbetreibenden von Gramatneusiedl eingereichten und von 33 Personen unterzeichneten Petition behandelt, die neuerlich ein Hausierverbot im Ortsbereich fordert. Das Gesuch, welches das Problem aus Sicht
der Gewerbetreibenden darstellt, wird ohne lange Diskussion von der Gemeindevertretung abgelehnt.
( Dokument.)

1929
Mit Bescheid des Bürgermeisters von Gramatneusiedl vom 26. Juni 1929 wird der am 1. Januar 1928 von Emil Tyleček erworbenen Seidenfabrik »Freund & Schöller«
die Einrichtung einer Fabrikkantine gestattet. Die im Ortsteil
Mitterndorf der Freien Gemeinde Gramatneusiedl (heute
Mitterndorf an der Fischa, Lagerstraße 14) gelegene Fabrik wird 1991/92 von der Gemeinde Mitterndorf an der Fischa
(Niederösterreich) vom Nachfolger Emil Tylečeks, dem Neffen Alois Tyleček, erworben und wegen Baufälligkeit abgerissen.
( Dokument.)

1929
Das schwere Unwetter vom 3. Juli 1929, welches große Teile Niederösterreichs verwüstet, hinterlässt in Gramatneusiedl nur geringe Spuren der Zerstörung.

1929
Der »Arbeiter-Radiobund
Österreichs, Ortsgruppe Marienthal«
veranstaltet in der
Volksschule Gramatneusiedl eine »Radio-Schau«.

1929
Ende Juli 1929 wird
die Weberei der
Textilfabrik Marienthal
mit zuletzt 808 Webstühlen stillgelegt.

1929
In der Sitzung der Gemeindevertretung von Gramatneusiedl vom 13. August 1929 werden an Stelle der im Mai 1929 Ausgeschiedenen neue Funktionäre der »Christlichsozialen
Wirtschafts-, Gewerbe-, Hausbesitzer- und Bürgerpartei« angelobt: Johann Gröss (1893–1966), Michael Hums (1877–1954), Karl Röchinger (1876–1929) und Josef Zimmermann (1883–1939); für den ausgeschiedenen Sozialdemokraten, den Graveur Rudolf
Grossmann, wird Franz Malik (1879–1946) angelobt.
In der Sitzung werden notwendige Adaptierungen bei den beiden Armenwohnungen im
Schloss Gramatneusiedl einstimmig beschlossen. Die Arbeiten werden durch Stadt-Maurermeister Richard Hums aus
Sommerein
(Niederösterreich) erst im Juni
1932 ausgeführt.
Weiters wird beschlossen, nach der Pensionierung des bisherigen
Nachtwächters und Totengräbers Johann Nichtenberger,
der von der Gemeinde als nicht fest Angestellter sein bisheriges Gehalt als Gnadenpension weiter bezieht, Franz Predota (1870–1933), ein im
Zuge der Schließung der Textilfabrik Marienthal entlassener Arbeiter, als Nachfolger einzusetzen.
Schließlich wird beschlossen, auf Weisung des Amts der niederösterreichischen Landesregierung eine Broschüre über die zehnjährige Tätigkeit des Gemeinderats Gramatneusiedl zu publizieren. Diese von
Rudolf Theuer (1876–1940) verfasste und im Oktober 1929 publizierte Schrift »Die Aufbauarbeit der Gemeinde in den Jahren 1919–1929. Bericht der Gemeindevertretung von Gramatneusiedl über die Tätigkeit in der Funktionsperiode 1919–1929«
wird später eine wichtige Quelle für die
Marienthal-Studie;
dabei ist zu berücksichtigen, dass die statistischen Daten für das Jahr
1929 den Stand vom August 1929 wiedergeben und – was in der
Marienthal-Studie übersehen wurde – lediglich den in Gramatneusiedl
gelegenen Bereich Marienthals betreffen. (
Dokument.)

1929
1929 umfasst der
1923 gegründete »Arbeiter-Turn- und Sportverein Marienthal« sieben Fußball- und drei
Radfahr-Riegen, je eine Geräteturner-, Knaben-Turner-, Mädchen-Turner-,
Faustballer-, Raffballer-, Handballer-, Handballerinnen-, Ringer-,
Stemmer-, Radball- und Radreigen-Riege. Alle Riegen zusammen haben 1929 etwa 325 Mitglieder. Der
1866 gegründete
und 1869 gemäß dem Vereinsgesetz wiederbegründete »Dilettanten-Verein Marienthal«, welcher sich
1906 als »Arbeiter-Theater-Section Marienthal« der »Union der Textilarbeiter Österreichs« angeschlossen
hat, zählt 1929 insgesamt 58 Mitglieder.
Die zentralen Organisationen der Sozialdemokratie in Gramatneusiedl und
Marienthal, »Republikanischer Schutzbund« sowie »Kinderfreunde« (und die in deren Umfeld agierenden Ortsgruppen der »Roten Falken« und des »Verbands der sozialistischen Arbeiterjugend Österreichs«) haben 1929 zusammen etwa 750 Mitglieder.

1929
Im August 1929 wird die
Druckerei der
Textilfabrik Marienthal mit zuletzt sieben Rohdruckmaschinen
stillgelegt.

1929
Im September 1929 wird der Bleiche- und Appreturkomplex der
Textilfabrik Marienthal stillgelegt. Damit ist die Fabrik praktisch produktionsunfähig. Es wird allerdings noch bis Februar
1930
dauern, bis sie offiziell und vollständig außer Betrieb ist. Fast 1.300 Beschäftigte der Fabrik haben innerhalb von vier Monaten ihre Arbeit verloren.

1929
Als Folge der fast vollständigen Schließung der
Textilfabrik Marienthal muss im Oktober 1929 das
Montessoriheim geschlossen werden, weil die nunmehr Arbeitslosen die Gebühren für den
Kleinkindergarten nicht mehr entrichten können. Stattdessen wird in den Räumlichkeiten des ehemaligen Montessoriheimes 1930 das so genannte
Ledigenheim untergebracht (2005 abgerissen).

1929
In der Sitzung
der Gemeindevertretung von Gramatneusiedl vom 7. November 1929 wird beschlossen, erstmals einen Gemeindesekretär
als Vertragsbediensteten anzustellen, wobei der nach dreißigjähriger Dienstzeit in der
Textilfabrik Marienthal entlassene Gemeinderat
Rudolf Theuer (1876–1940), der diese Arbeit bereits provisorisch übernommen hatte, mit diesem Posten ab 1. Januar 1930 definitiv betraut wird. Bislang wurden die Dienste eines Gemeindesekretärs – allerdings ohne Anstellung und entsprechende Entlohnung – vom Mai 1921 bis Dezember 1930 vom
Lehrer
Johann Posch wahrgenommen.
Weiters wird beschlossen, dass angesichts der schlechten wirtschaftlichen Lage der Bevölkerung alle Kosten für Krankentransporte von der Gemeindekasse bezahlt werden.
Schließlich wird beschlossen, ein Komitee einzusetzen, welches den Anschluss der bisher von der
Textilfabrik Marienthal mit Strom versorgten Siedlungshäuser der Arbeiterkolonie an das Ortsstromnetz organisieren soll.

1929
Am 10. November 1929 finden die letzten Gemeinderatswahlen der Ersten Republik in Gramatneusiedl statt.

1929
In der konstituierenden Sitzung der neuen
Gemeindevertretung von Gramatneusiedl am 30. November 1929 wird
Josef Bilkovsky (1871–1940) mit zwölf Stimmen bei sechs Enthaltungen (leere Stimmzettel) als Bürgermeister wiedergewählt,
ein Amt, das er bis zu seiner politische bedingten Absetzung im Februar
1934 inne hat (zur
vorhergehenden Wiederwahl siehe
1924). Vizebürgermeister wird wieder
der Sozialdemokrat Josef Doleček (1885–1952). Bemerkenswert ist, dass es mit Albert Seifert (um 1886–1957) nunmehr auch einen Gemeinderat für den Ortsteil Mitterndorf gibt, der das Recht hat, an allen Kommissionen der Gemeinde teilzunehmen und der in allen stimmberechtigt ist. Dreizehn sozialdemokratische
Gemeinderäte stehen sechs der »Christlichsozialen
Wirtschafts-, Gewerbe-, Hausbesitzer- und Bürgerpartei«
(ein Wahlgemeinschaft von »Christlichsozialer Partei«, »Niederösterreichischem Bauernbund« und »Christlichsozialem Volksverband für
Niederösterreich«), welche nunmehr auch als bloße »Christlichsoziale Partei« auftritt,
gegenüber.
Es wird
einstimmig beschlossen, angesichts der massiven Arbeitslosigkeit im Ort
und der bevorstehenden Weihnachten an die Armen und Arbeitslosen
Gramatneusiedls insgesamt 2.400 Schilling zu verteilen. (
Dokument.)

1929
Ende 1929 werden allgemein verbindliche Verkehrstafeln
des »Österreichischen Automobil-Clubs« in Gramatneusiedl aufgestellt. (
Dokument.)

1929
Die 1926 von der »Landwirtschaftlichen Genossenschaft Gramatneusiedl« errichtete
Roggenmühle wird 1929 Leistung steigernd umgebaut und von der
unrentablen Lohnmüllerei auf Handelsmüllerei umgestellt.
1935 erfolgt neuerlich ein grundlegender
Umbau.

1929
Der im September
1925 vom Gemeinderat Gramatneusiedl beschlossene Kauf einer Motor- oder Dampfspritze für die
»Freiwillige Feuerwehr Gramatneusiedl«
wird getätigt.

© Reinhard Müller
Stand: Juli
2011
 |