Große Chronik von Gramatneusiedl, Marienthal und Neu-Reisenberg
1931
1931
Dass sich die ökonomische Lage Gramatneusiedls ein Jahr nach
Schließung der Textilfabrik Marienthal nicht verbessert hat, belegt die Klage des neuen Finanzreferenten Johann Thim (1896–?) in der Sitzung der Gemeindevertretung von Gramatneusiedl vom 7. Januar 1931 von der »schweren wirtschaftlichen Bedrängnis, in der sich alle erwerbenden Stände des Ortes infolge der großen Arbeitslosigkeit befinden«. (Gemeinde-Kurrenden, Ausschuss-Sitzung vom 7. Januar 1931, S. 3.) Arbeitslosigkeit ist längst ein überregionales Problem: Gab es 1929 in
Niederösterreich rund 32.000 Arbeitslose, sind es im Mai 1931 bereits etwa 90.000.

1931
Der im
Vorjahr in der
Gemeindevertretung von Gramatneusiedl diskutierte Kauf des ehemaligen
Fabrikspitals der
Textilfabrik Marienthal, Gramatneusiedl 67 (ab 1961: Hauptstraße 43), wird 1931 abgewickelt. Das Gebäude geht am 1. Februar 1931 in den Besitz der
Freien Gemeinde Gramatneusiedl über.
Noch im selbem Jahr beginnt – unter Beibehaltung der Badeanlage – der Umbau zu
einem Wohnhaus.

1931
In der Sitzung
der Gemeindevertretung von Gramatneusiedl vom 11. April 1931 wird auf Ersuchen des
»Rassekaninchen-Zuchtvereins ›Vorwärts Marienthal‹« einstimmig den Kauf der Schrebergärten (etwa sechseinhalb Joch) von der
»Actien-Gesellschaft der Baumwoll-Spinnereien, Webereien, Bleiche, Appretur, Färberei und Druckerei zu Trumau und Marienthal« beschlossen, damit diese weiterhin betrieben werden können und insbesondere Arbeitslosen zugute kämen. Diese Aktion verdeutlicht, wie lang der Weg von
der Beschlussfassung einer Hilfsaktion für Arbeitslose bis zu deren Realisierung ist: Erst am 29. Dezember 1932 kann der Kauf getätigt werden, und die Eintragung ins Grundbuch dauert bis Februar 1933. Erst dann können die Grundstücke von der Gemeinde verpachtet werden.
Diese 1922
angelegten Kleingärten bestehen noch heute, zwischen
Hauptstraße und
Siedlergasse beziehungsweise
Lindenallee /
Marie-Jahoda-Platz und
Bilkovskygasse, allerdings werden Teile davon seit
2005
von der Marktgemeinde Gramatneusiedl nicht mehr weiter verpachtet. (
Dokument.)

1931
In der Sitzung
der Gemeindevertretung von Gramatneusiedl vom 30. Mai 1931 wird einstimmig beschlossen,
trotz der angespannten Wirtschaftslage im Ort das Ansuchen der Marktbudenbesitzer am Marktplatz um vollständigen Erlass der Tagesmiete abzulehnen.

1931
Am 30. Mai 1931 wird der Architekt und Baumeister Friedrich Rauch aus Laxenburg (Niederösterreich) mit dem im Juni
1930 beschlossenen Zubau zur Volksschule für die
Hauptschule beauftragt. Die Gesamtkosten belaufen sich am Ende auf 89.232,33 Schilling. Dazu kommen über 14.000 Schilling für Einrichtungsgegenstände wie Schulbänke, Schultafeln, Öfen und anderes mehr. Der Zubau wird Ende August 1931 fertig gestellt.

1931
Mit Erlass vom 2. Juni 1931 genehmigt die Niederösterreichische Landesregierung die Erweiterung der
Piesting-Regulierung von der Krautgartenbrücke bis
zum Feilbach einschließlich des Umbaus der Krautgartenbrücke. Die geplanten Kosten belaufen sich auf 30.000 Schilling. Die Reparatur der Krautgartenbrücke wird erst im September
1933 durch Zimmermeister Josef Hums (1906–1946) ausgeführt.

1931
Anna Gartner, geborene Meindl (1883–1971), die bereits in der Siedlung
Neu-Reisenberg »Anna Gartner’s
Elite-Ton-Kino Marienthal-Reisenberg« im Hof des Gasthauses »Zum Südpol«,
Reisenberg 136 (heute Reisenbergerstraße 11), betreibt, verkauft im Juni 1931 den
1928 zur
Errichtung eines neuen Kinos neben dem Kaffeehaus, Hauptstraße 25, in Gramatneusiedl erworbenen Grund an die Gemeinde Gramatneusiedl zurück. Angesichts der schlechten wirtschaftlichen Lage im Ort sieht sie von der Errichtung eines weiteren Kinos ab.

1931
Seit Juli 1931
lässt die »Actien-Gesellschaft der Baumwoll-Spinnereien, Webereien, Bleiche, Appretur, Färberei und Druckerei zu Trumau und Marienthal« fast den gesamten
Bleiche- und Appreturkomplex abreißen: der Großteil des Hauptgebäudes sowie 27 Anbauten und Nebengebäude mit zusammen etwa
3.371 Quadratmetern verbauter Grundfläche. Auch der
1889 errichtete
Bleiche-Schornstein (47 Meter hoch) und der
ebenfalls
1889 errichtete
Spinnerei-Dampfschornstein I (40,70 Meter hoch) werden umgelegt. Der
Park
Herrengarten wird verkauft und 1931 fast vollständig abgeholzt und
anschließend der Verwilderung überlassen. Heute ist nur mehr ein Baum des alten Parks erhalten: eine Platane, die nicht, wie vielfach behauptet, unter Naturschutz steht. Auch das architektonische Prunkstück des Parks, der
1894 errichtete Musikpavillon mit
Kegelbahn wird abgerissen.
Im nordöstlich gelegenen Teil, der
1937 vom
Ehepaar Josef Stahl (1896–1959)
und Theresia Stahl (1901–2005)
erworben wird, richtet Josef Alraun
(um 1851–1940)
1938 eine Gärtnerei ein, welche seit 1940 von Erwin Fischer (1903–1961)
und seiner Frau Emilie Fischer, geborene Havatin (1904–1973), bis 1956 betrieben
wird. Auf das Ehepaar Fischer geht auch der Name des heutigen Fischerwegs zurück.

1931
Der
1903 als »Sänger-Riege Marienthal« gegründete und
1906 zur
»Gesang-Section der Textilarbeiter Marienthal« umgewandelte Verein besteht zwar nach
Schließung der
Textilfabrik Marienthal als »Gesang-Sektion Marienthal«
weiter, löst sich aber im Juli 1931 freiwillig auf. (
Programm des letzten Konzerts.)

1931
Der
»Männer-Gesang-Verein
›Geselligkeit‹ Marienthal« verlegt 1931 sein Vereinslokal vom ehemaligen Marienthaler Fabrikgasthaus, Gramatneusiedl 51 (ab 1961: Hauptstraße 70), ins
Bauerndorf, in das Gasthaus Richard Radl (um 1901–1965), Gramatneusiedl 19 (ab 1961:
Oberortsstraße 5).

1931
Die 24 landwirtschaftlichen Betriebe Gramatneusiedls erleiden durch die große Dürre vom Sommer 1931 erhebliche Einbußen bei der Getreideernte; die Krauternte fällt gänzlich aus.

1931
Mit September 1931 nimmt die durch einen Zubau erweiterte Volks- und Hauptschule den Betrieb auf.

1931
In der Sitzung
der Gemeindevertretung von Gramatneusiedl vom 5. September 1931 wird beschlossen, dem
Ansuchen des »Katholischen
Deutschen Burschenvereins Gramatneusiedl« bis auf Widerruf stattzugeben, ein Stück Grund auf der Hutweide als Fußballplatz zu benutzen, allerdings unter der Bedingung, dass die Tore jederzeit entfernt werden können.

1931
Im September 1931 übernimmt das Pfarramt Moosbrunn
(Niederösterreich) die 1844 von Hermann Todesco (1791–1844) gestiftete
und im Mai
1845 eröffnete
Kinderbewahranstalt von der
»Actien-Gesellschaft der Baumwoll-Spinnereien, Webereien, Bleiche, Appretur, Färberei und Druckerei zu Trumau und Marienthal«, gemeinsam mit einer fabrikeigenen
Scheune, 18 Joch Feldern und 1.400 Schilling Bargeld. Die Kinderbewahranstalt wird nach einer gründlichen Renovierung und Ausstattung mit einer neuen Inneneinrichtung seit 16. November 1931 als »Kindergarten« weitergeführt. Betreut wird er
von drei »Mariahilfschwestern
Don Boscos«, welche der Kongregation der
»Salesianerinnen«
angehören. Deshalb wird der Kindergarten von der Bevölkerung Gramatneusiedls seither auch »das Stift«
genannt. (
Denkbuch Moosbrunn.)

1931
Die
Kirche Sankt Peter und Paul lässt 1930 und 1931 die
1902 erworbene barocke Monstranz und alle drei
Messkelche um 190 Schilling vergolden sowie 1931 die Orgel um 270 Schilling reparieren. In diesem Jahr beantragt
Leopold Eder
(1899–1963), dass die Filialkirche Gramatneusiedl eine eigene Pfarrkirche werden möge; es wird noch bis
1949 dauern, dass die eigenständige Pfarre Sankt Peter und Paul errichtet wird.

1931
In der ersten Woche des November 1931 nimmt das Projektteam der
Marienthal-Studie seine Feldforschungen in Marienthal auf. Die Hauptarbeit der bis Mai
1932
andauernden Feldforschung der »Österreichischen Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle« findet in den Monaten Dezember 1931 und Januar 1932 durch Lotte Schenk-Danzinger (1905–1992) statt,
als Fotograf vor Ort wirkt
1930 und 1931
Hans Zeisel (1905–1992).

1931
Am 19. Dezember 1931 berichtet Revierinspektor Johann Bendl vom Gendarmerie-Postenkommando Gramatneusiedl über die Tätigkeiten des
Projektteams der
Marienthal-Studie im Ort. (
Text.)

1931
Im Dezember 1931 führt
Lotte Schenk-Danzinger (1905–1992) in Zusammenarbeit mit dem Bürgermeisteramt der
Freien Gemeinde Gramatneusiedl eine Winterhilfe-Aktion durch, bei der gebrauchte Kleidung an Bedürftige
verteilt wird. Diese Aktion dient auch der Kontaktaufnahme des Projektteams der
Marienthal-Studie
mit den Bewohnern Marienthals.

© Reinhard Müller
Stand: September
2010
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