Große Chronik von Gramatneusiedl, Marienthal und Neu-Reisenberg
1932
1932
In der Sitzung
der Gemeindevertretung von Gramatneusiedl vom 16. Januar 1932 verweist der Finanzreferent, Gemeinderat Johann Thim (1896–?), darauf, dass »die Einnahmen der Gemeinde infolge des
Stillstandes des einzigen hiesigen Großbetriebes, der Trumau-Marienthaler Aktiengesellschaft (Ausfall der Arealsteuer, der Fürsorgeabgabe und
so weiter) stetig sinken, und auch die Gemeindezuschläge dadurch, dass auch in der Landwirtschaft eine
schwere Krise eingetreten, immer weniger werden, auf der anderen Seite aber die Anforderungen in Bezug auf die öffentliche Fürsorge und die Schulerhaltung stetig steigen«. Deshalb werden nunmehr die
Gehälter von Bürgermeister
Josef Bilkovsky (1871–1940) und Gemeindesekretär
Rudolf Theuer (1876–1940) um 20 Prozent gekürzt, ebenso das Einkommen des
Nachtwächters Franz Predota (1870–1933) verringert. Die Subvention für die »Freiwillige Feuerwehr Gramatneusiedl« wird gänzlich gestrichen.
Gemeinderat Rudolf Kappel (?–1941) weist die Gemeindevertretung darauf hin, dass alle Versuche, ein kleines
Nachfolgeunternehmen der
Textilfabrik Marienthal ins Leben zu rufen, am behördlichen Instanzenweg scheitern. Andererseits sei die Hälfte der von der
Schließung der Fabrik Betroffenen mittlerweile
ausgesteuert. Im Januar 1932 liegt die Zahl der
Arbeitslosen und
Ausgesteuerten
in Gramatneusiedl bei etwas über 700. (
Dokument.)
Schließlich werden in dieser Sitzung auch neue Grabgebühren beschlossen, wobei festgehalten wird: »Die Grabgebühren bei Sterbefällen von Arbeitslosen werden von Fall zu Fall individuell bemessen und wird über die Höhe der zu bezahlenden
Gebühren der Gemeinderat entscheiden.« (Sitzungs-Protokoll zur Gemeinde-Ausschußsitzung der Ortsgemeinde Gramatneusiedl am 16. Jänner 1932, S. (5).)

1932
In einem Schreiben an die Niederösterreichische Landesregierung vom 31. Januar 1932 weist Bürgermeister Josef Bilkovsky (1871–1940) neuerlich auf die Notsituation in der
Freien Gemeinde Gramatneusiedl hin und stellt fest, dass von den 1929/30 Entlassen der
Textilfabrik Marienthal noch immer über 60 Prozent arbeitslos oder
ausgesteuert sind. Auch die 24 landwirtschaftlichen Betriebe des
Ortes sind durch die
Missernte und den gänzlichen Ausfall der Krauternte im Vorjahr in ihrer Existenz bedroht. In dem Schreiben wird erstmals die später wiederholt
genannte Zahl von 1.190 Beschäftigten in der Textilfabrik genannt; tatsächlich lag sie um 100 höher, wie die Ende 1929 und 1930 getätigten Angaben der
Freien Gemeinde Gramatneusiedl belegen.
(
Dokument.)

1932
Bürgermeister Josef Bilkovsky (1871–1940) ist – wie schon 1926/27 – vom 24. Februar bis 21. Mai 1932 sozialdemokratischer
Abgeordneter zum Niederösterreichischen
Landtag.

1932
Mitglieder des »Deutschen Turnvereins Gramatneusiedl-Marienthal« und des »Männer-Gesang-Vereins ›Geselligkeit‹ Marienthal« gründen Anfang 1932 die Ortsorganisation Gramatneusiedl der »Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei« (N.S.D.A.P.). Gab es bei den
Nationalratswahlen vom November
1930 nur 24 Stimmen für die Nationalsozialisten im Ort, so stellt
Leopold Eder (1899–1963), Provisor zu Moosbrunn
(Niederösterreich), Ende
1932 fest: »Nationalsozialism(us) wächst bes(onders) in Gr(amat) Neus(iedl).«
(Denkbuch Moosbrunn, Band 2, S. 86.)

1932
Nach
Stilllegung der
Textilfabrik Marienthal 1930 werden die
1876 gegründete »Freiwillige
Fabriksfeuerwehr Marienthal« am 24. Februar 1932 aufgelöst und brauchbare Löschgerätschaften der
»Freiwilligen
Feuerwehr Gramatneusiedl« einverleibt.

1932
In der Sitzung
der Gemeindevertretung von Gramatneusiedl vom 15. März 1932 werden anlog der Winterhilfe
eine Aktion für die Osterwoche (20. bis 26. März) erörtert und das zuständige Komitee mit deren Durchführung beauftragt.
Weiters berichtet Bürgermeister Josef Bilkovsky (1871–1940) über seine seit Januar 1932 getätigten Bemühungen zur
Wiederbelebung der Marienthaler Textilindustrie, »dass die Versuche, den
Betrieb irgendwie wieder in Betrieb zu setzen (Trumau-Marienthaler Aktiengesellschaft) leider bis jetzt ergebnislos geblieben sind. Es ist auch wenig
Aussicht, dass das in absehbarer Zeit der Fall sein wird.« (Sitzungs-Protokoll zur Gemeinde-Ausschußsitzung der Ortsgemeinde Gramatneusiedl am 15. März 1932, S. (2).)

1932
Mit 21. März 1932 tritt das neue Grundbuch der Katastralgemeinde Gramatneusiedl in Kraft, welches mit 5. Juli 1932 rechtswirksam wird. Dieses musste neu angelegt werden, nachdem die entsprechenden Unteralgen beim
Brand des Justizpalastes in Wien
1927 verbrannt waren.

1932
Ende März 1932 findet eine von der Volks- und Hauptschule in der Schule veranstaltete Feier anlässlich des 200. Geburtstags von Joseph Haydn (1732–1809) und des 100. Todestags von
Johann Wolfgang (seit 1782: von) Goethe (1749–1832) statt.

1932
Die »Landwirtschaftliche Genossenschaft Gramatneusiedl«, welche nunmehr das bedeutendste Wirtschaftsunternehmen des Ortes ist, errichtet beim
Bahnhof Gramatneusiedl einen Zubau zum
Lagerhaus Gramatneusiedl: Das dreistöckige Gebäude hat einen Grundriss von 30 mal 7 Metern.

1932
Am 4. April 1932 schließt sich die »Marienthaler Feuerwehrkapelle« der mittlerweile aufgelösten
»Freiwilligen
Fabriksfeuerwehr Marienthal« der »Freiwilligen
Feuerwehr Gramatneusiedl« an und wird so zur ersten Blasmusikkapelle des Bauerndorfs Gramatneusiedl.

1932
Der mit 1. Mai 1932 auslaufende Pachtvertrag
aus dem Jahr 1929 von Adalbert Siegl
(1895–1976)
aus Groß-Enzersdorf (Niederösterreich) für das
Gemeindewirtshaus
Nr. 1 im
Schloss Gramatneusiedl wird
um weitere drei Jahre bis
1935 verlängert.

1932
Die im November
1931 begonnenen Feldforschungen des Projektteams der
Marienthal-Studie werden
Ende Mai 1932 abgeschlossen.

1932
Im Mai 1932 wird der
Kindergarten, die ehemalige
Kinderbewahranstalt, mit einer Mauer umgeben.

1932
In der Sitzung
der Gemeindevertretung von Gramatneusiedl vom 21. Mai 1932 wird nach heftigem Protest
durch die Angehörigen der »Christlichsozialen Partei« dennoch einstimmig beschlossen, die kleinen Wiesen für die
Kleintierzüchter dieses Jahr zum letzten Mal durch die Gemeinde zu verteilen und nicht zur Pachtversteigerung auszuschreiben.

1932
Im Juni 1932 werden
gemäß dem Gemeinderatsbeschluss von
1929 die beiden Wohnungen für Arme des Ortes im
Schloss Gramatneusiedl auf Kosten der
Freien Gemeinde Gramatneusiedl durch Stadtmaurermeister Richard Hums aus
Sommerein (Niederösterreich) renoviert.

1932
In der Sitzung
der Gemeindevertretung von Gramatneusiedl vom 2. Juli 1932 wird mit zwölf gegen sechs
Stimmen beschlossen, dem »Consum-Verein Marienthal«, welcher nach
Stilllegung der
Textilfabrik Marienthal als »Konsumverein
Marienthal« weiter besteht, den Verkauf von Alkohol (Spiritus, Weingeist, Rum, Cognac) in geschlossenen Flaschen zu genehmigen.
Weiters wird einstimmig beschlossen, gemeinsam mit der Gemeinde Reisenberg
(Niederösterreich) bei der Generaldirektion der Österreichischen Bundesbahndirektion eine
vollwertige Haltestelle zu beantragen, um den Bewohnern Marienthals das Auspendeln zu erleichtern. Bisher
müssen diese durch das gesamte Bauerndorf Gramatneusiedl zum
Bahnhof Gramatneusiedl gehen, ein über zwei Kilometer langer Weg. Die
Bahnhaltestelle Reisenberg-Marienthal in Neu-Reisenberg
(Gemeinde Reisenberg) wird noch im September 1932 eröffnet; bis dahin
konnte man bei der am 5. Februar 1907 eröffneten Haltestelle keine
Fahrkarten erwerben. ( Dokument.)

1932
Im Juli 1932 wird die
Pfadfindergruppe Gramatneusiedl – anfangs noch gemeinsam mit
Moosbrunn (Niederösterreich) – des »Österreichischen Pfadfinderkorps
St. Georg« gegründet, welche, im März 1933 legitimiert, als Heim einen adaptierten Schuppen im Garten des
Katholischen Vereins- und Kinderheims bezieht. Die Organisation wird
1938 von den Nationalsozialisten behördlich aufgelöst.
( »Logbuch 1« und
»Logbuch 2«).

1932
Im Juli 1932 wird gemäß Gesetz des Landes Niederösterreich vom 23. März 1932 rückwirkend mit 1. Januar 1932 Andreas Hauswirt
(1885–1975) als Gemeindearzt von Gramatneusiedl bestellt. Außerdem obliegt ihm die Leitung der
1930
eingerichteten Mutterberatungsstelle
Gramatneusiedl und ab Beginn des neuen Schuljahrs 1932/33 die Tätigkeit als Schularzt.

1932
In Anlehnung an den
»Reichsarbeitsdienst« (RAD.) im Deutschen Reich beschließt die österreichische Bundesregierung am 18. August 1932 mit 1. September 1932 die Gründung des österreichischen
freiwilligen Arbeitsdienstes zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit. In dessen Rahmen wird auch in Marienthal
1933 ein lokaler Verein gegründet:
»Jugend in Arbeit«.

1932
Die Bauern Anton Wittner (1885–1953) und Franz Griesmüller (1900–1947) kaufen gemeinsam den ersten Traktor Gramatneusiedls. Bereits 1934 wird er weiterverkauft. 1939 erwirbt Franz Griesmüller einen neuen Traktor, der heute noch im Privatbesitz in Gramatneusiedl
erhalten ist.

1932
Am Sonntag, dem 4. September 1932,
marschiert die Ortsgruppe Gramatneusiedl-Marienthal des »Republikanischen Schutzbundes« während des
Gottesdienstes mit Musik an der
Kirche Sankt Peter und Paul vorbei: an der Spitze des Umzuges Bürgermeister
Josef Bilkovsky (1871–1940). In der Sitzung der Gemeindevertretung von Gramatneusiedl vom
20. September 1932 beschwert sich darüber der christlichsoziale Gemeinderat Johann Pribyl
(1894–1965) heftig, und es gibt eine angeregte Debatte. Dies ist eines
von vielen Indizien für die zunehmenden Spannungen der beiden großen
politischen Lager im Ort. (
Dokument.)

1932
Im November 1932 erscheint die erste gedruckte wissenschaftliche Arbeit mit Ergebnissen aus den Forschungen zur
Marienthal-Studie: »Erhebungen über gesundheitliche Wirkungen der Arbeitslosigkeit«
von Paul Stein
(1897–1962). (
Text.)

1932
Im Dezember 1932 erscheint ein Vorbericht zur noch unpublizierten
Marienthal-Studie: »An Unemployed Village« von Paul Lazarsfeld (1901–1976). Im März 1933 erscheint davon eine gekürzte, deutschsprachige Fassung unter dem Titel »Ein Arbeitslosen-Dorf«.
(
Text.)

© Reinhard Müller
Stand: Mai
2012
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