Große Chronik von Gramatneusiedl, Marienthal und Neu-Reisenberg
1937
1937
Angesichts des Umstandes, dass auf dem Gebiet des ehemaligen »k(aiserlich) k(öniglichen) Barackenlagers Mitterndorf« sechs Unternehmen bestehen, die durchwegs mit feuergefährlichem Material
arbeiten, wird auf Veranlassung des Sicherheitsdirektors für Niederösterreich am 22. Januar 1937 die »Freiwillige Feuerwehr Mitterndorf an der Fischa« gegründet, welche auch für den Ortsteil Mitterndorf der Freien Gemeinde Gramatneusiedl zuständig ist.

1937
In der außerordentlichen Sitzung des Gemeindetages der Ortsgemeinde Gramatneusiedl vom 17. Februar 1937 wird die seit Mai 1936 diskutierte Weiterverpachtung des
Gemeindewirtshauses
Nr. 1 im
Schloss Gramatneusiedl neuerlich erörtert.

1937
Der politische Druck, den das Deutsche Reich auf die österreichische Regierung ausübt, zeigt sich unter anderem im Erlass der Bezirkshauptmannschaft Mödling
(Niederösterreich) vom 26. Februar 1937 über das Zeigen ausländischer
Fahnen, Flaggen, Standarten und Wimpeln in der Öffentlichkeit. (
Dokument.)

1937
Anlässlich der seit September
1936 diskutierten und nun bevorstehenden Eingemeindung des ehemaligen »k(aiserlich) k(öniglichen) Barackenlagers Mitterndorf«
nach
Mitterndorf an der Fischa
(Niederösterreich) wird am 12. März 1937 ein Protokoll darüber
aufgenommen. ( Dokument.) Als Ergänzung dazu verfertigt das Gemeindeamt Gramatneusiedl am 18. August
1937 ein weiteres Protokoll. ( Dokument.) Die beiden Dokumente geben einen guten Einblick in die komplizierte Lage des seit
1919 strittigen Gemeindegebietes. Die Diskussion um die Eingemeindung
von Randsiedlungen nach Gramatneusiedl wird erst im April
1955 wieder aufgenommen.

1937
Zur Osterzeit, im März 1937, spielen 76 Kinder aus Moosbrunn
(Niederösterreich) unter Regie des Kooperators Anton Kummerer (1908–1990) das Passionsspiel »Das Leiden des Herrn«, welches in Gramatneusiedl zweimal zur Aufführung kommt.

1937
Am 28. März 1937 findet eine Fahnenweihe der Pfadfindergruppe Gramatneusiedl des »Österreichischen Pfadfinderkorps
St. Georg« statt. Die Weihe im Garten des
Katholischen Vereins- und Kinderheims nimmt
der Wiener Domkurat zu Sankt Stephan Karl Raphael Dorr (1905–1964) vor.
(
Denkbuch Moosbrunn.)

1937
Am 23. Mai 1937 wird der so genannte Altsoldatentag in Gramatneusiedl mit einem Festgottesdienst und anschließender Heldenehrung vor dem Kriegerdenkmal
zum letzten Mal
begangen.

1937
Mit Rundschreiben der »Vaterländischen Front«, Bezirk Mödling
(Niederösterreich), vom 16. Juni 1937 werden der
Freien Gemeinde Gramatneusiedl Maßnahmen zur Sanierung
Not leidender Gemeinden vorgeschlagen, von welchen zwei durch den Bürgermeister
Leo Isidor Wiltschke (1876–1945) beantragt werden: 1) Entlastung von Krankenverpflegskostenersatz und Beiträgen zum Personalschulaufwand, 2) Streichung
der zehnprozentigen Abzüge von den Bundesertragsanteilen zu Gunsten des
Landes. (
Dokument.)

1937
1937 nimmt die »Landwirtschaftliche Genossenschaft Gramatneusiedl« in der
1936 eröffneten Filiale in Himberg (Niederösterreich) eine Mischfutterproduktion in Betrieb. In Gramatneusiedl selbst werden 1937 beim
Lagerhaus Gramatneusiedl am
Bahnhof Gramatneusiedl ein nach einer Seite hin offener Schuppen (35 mal 7 Meter) sowie ein Wohnhaus mit darunter gelegener Garage errichtet.

1937
Mit Erlass der Bezirkshauptmannschaft Mödling
(Niederösterreich) vom 1. Juli 1937 wird ein generelles
Versammlungsverbot für den Sommer verfügt, von dem nur
Wohltätigkeitsveranstaltungen und Aktionen von Vereinen der
»Katholischen Aktion Österreichs« ausgeschlossen sind. ( Dokument.)

1937
Im Sommer 1937 kommen englische
Quäker (eigentlich »The Religious Society of Friends«), welche seit
1935 jedes Jahr nach Marienthal reisen, ein letztes Mal hierher, wobei es diesmal vorrangig um die
Errichtung eines – dann allerdings nie benutzten Kinderbades – beim ehemaligen Isolierspital, Gramatneusiedl 126 (ab 1961:
Zur Piesting 11), sowie die Betreuung von Kindern Arbeitsloser geht, welche unter Leitung der englischen Quäkerin Mary Campbell
(verheiratete Schicker; ?–2003) erfolgt.

1937
Am 20. Juli 1937 verlässt der Gramatneusiedler Funktionär der illegalen »Kommunistischen Partei Österreichs« (KPÖ)
Josef Forche (1904–1981) Österreich, um im Spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Republikaner zu kämpfen. Er wird
am 6. Februar 1938 bei Teruel (Aragón) schwer verwundet, kommt 1939 ins französische Lager
Gurs (Pyrénées-Atlantiques) und emigriert im Juli 1939 in die Sowjetunion, wo er in einem Kriegsbetrieb arbeitet. Im Februar
1947
kehrt Josef Forche aus Moskau
(Москва)
nach Gramatneusiedl zurück, wo er wieder als Parteifunktionär und auch als Gemeinderat tätig sein wird.

1937
Vom Juli bis Oktober 1937 erfolgt eine umfassende Renovierung der
Kirche Sankt Peter und Paul.
Im Juli und August werden der Dachstuhl des Kirchturmes ausgebessert,
das Dach mit Kupfer verkleidet, Kugel und Kreuz der Kirchturmspitze,
welche aus Kupfer sind, vergoldet. Dieser Teil der Renovierung wird mit
der Weihe des Turmkreuzes am 15. August 1937 feierlich beendet. Außerdem
wird vom August bis Oktober das Innere der Kirche vollständig
restauriert: Es werden die Holzverkleidung entfernt, die Mauern
trockengelegt, der Boden unter den Sitzbänken betoniert, die Holzteile
der beiden Seitenaltäre beinah vollständig erneuert, die
Seitenaltarbilder (»Mariahilf« und »hl. Johannes von Nepomuk«) in Wien
restauriert, der Hochaltar neu vergoldet, die Gipsstatuen des
hl. Leopold (d.i.
Leopold III. von Babenberg;
1073–1136) und des
hl. Florian (d.i. Florianus; ?–304), welche das Hochaltarbild flankierten, entfernt, die Sitzbänke ausgebessert, die Lichtleitung unter Putz gelegt, die Kreuzwegbilder ins Kirchenschiff verlegt. Die Gesamtkosten betragen 6.500 Schilling für das Dach und 5.416 Schilling für die Innenrenovierung, welche vor allem durch den
Kirchenpatron (die Niederösterreichische Landeshauptmannschaft) sowie durch Spenden der Bevölkerung und aus dem Gewinn der Tombola vom 4. Juli 1937 (2.507 Schilling)
bestritten werden. ( Denkbuch Moosbrunn.)
Im Zuge der Renovierung wird übrigens im August 1937 die Gruft des Müllermeisters Ignaz Osmann (1730–1778), ein Ziegelgewölbe etwa zwei mal ein Meter und rund 1,30 Meter
hoch, erstmals geöffnet. ( Denkbuch Moosbrunn.)

1937
Im September 1937 wird Marie Jahoda (1907–2001), Mitarbeiterin an und Hauptautorin der
Marienthal-Studie, gezwungen, nach Großbritannien ins Exil zu gehen. Sie war im
November 1936 in Wien wegen des Verdachts auf illegale Betätigung für die »Revolutionären Sozialisten Österreichs«
(RSÖ) verhaftet und
nach Ablegung eines Teilgeständnisses am 2. Juli 1937 wegen Verbrechens nach § 5 Staatsschutzgesetzes, begangen durch die Einrichtung einer illegalen Poststelle, zu drei Monaten Kerker verurteilt worden. Jahoda wird am 15. Juli 1937 aus der Haft entlassen,
allerdings unter der Bedingung, Österreich zu verlassen. Die Freilassung erfolgt vor allem wegen der zahlreichen nationalen und internationalen Proteste, darunter auch jener der englischen Quäkerin
Margery Fry (1874–1958). Erst im Juni 1980 wird
Marie Jahoda noch ein Mal nach Marienthal zurückkehren.

1937
Im Oktober 1937 beginnen die Verkaufsverhandlungen zwischen der
»Actien-Gesellschaft der Baumwoll-Spinnereien, Webereien, Bleiche, Appretur, Färberei und Druckerei zu Trumau und Marienthal« und dem
Ehepaar Josef Stahl (1896–1959)
und Theresia Stahl (1901–2005) über Teile des
1931 aufgelassenen
Parks
Herrengarten, um hier eine Gärtnerei zu betreiben. Der Kauf wird Anfang Dezember 1937 getätigt.
In diesem Teil des ehemaligen Parks richtet Josef Alraun (um 1851–1940)
1938 eine Gärtnerei ein, welche seit
1940 von Erwin Fischer (1903–1961) und seiner Frau Emilie Fischer, geborene Havatin
(1904–1973), betrieben wird.

1937
In der Sitzung des
Gemeindetages der Ortsgemeinde Gramatneusiedl vom 15. Oktober 1937 wird
die vom »Kaisertreuen Volksverband« betriebene Ernennung von »Kaiser
Otto«, das ist Otto Habsburg-Lothringen (1912–2011), zum
Ehrenbürger von Gramatneusiedl bewilligt.
Zur Verleihung der Ehrenbürgerschaft kommt es jedoch aufgrund der politischen Ereignisse der
nächsten Monate nicht mehr.

1937
In den vertraulichen Sitzungen des Gemeindetages
der Ortsgemeinde Gramatneusiedl vom 16. und 18. November 1937 wird einstimmig
der Einkauf in »Anna Gartner’s Elite-Ton-Kino Marienthal-Reisenberg« in
Neu-Reisenberg durch die Gemeinde beschlossen. Die Betreiberin Anna Gartner, geborene Meindl (1883–1971), behält ihren Anteil, die andere, im Besitz des Wiener Kaufmanns Leopold Pisk
befindliche Hälfte des Unternehmens soll von der Gemeinde erworben
werden. (
Dokument und Dokument.)

1937
Mit Erkenntnis des Bundesgerichtshofes vom 22. Dezember 1937 wird Kurt Sonnenschein
(1906–195?) dazu verurteilt, dem
Zahlungsauftrag der Freien Gemeinde Gramatneusiedl nachzukommen. Sonnenschein hatte sich geweigert, die von der Gemeinde vorgeschriebene Arealsteuer für 1936/37 im vollen Ausmaß zu zahlen, weil er sich auf eine entsprechende mündliche Vereinbarung mit Bürgermeister Leo
Isidor
Wiltschke
(1876–1945) berief, die ihn
für zehn Jahre von der Landesarealsteuer befreit habe. Tatsächlich musste Sonnenschein für 1934/35 die Arealsteuer nicht abführen. Außerdem wies Sonnenschein darauf hin, dass seine »Frommengersche mechanische Weberei und Schlichterei Kurt Sonnenschein in Mariental«
im Jahr 1936 mit reduzierter Belegschaft in Betrieb war.

© Reinhard Müller
Stand: Juli
2011
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