Große Chronik von Gramatneusiedl, Marienthal und Neu-Reisenberg
1938
1938
Am 31. Dezember 1937 kündigt der
langjährige Pächter des
Gemeindewirtshauses
Nr. 1 im
Schloss Gramatneusiedl Adalbert Siegl (1895–1976) aus Groß-Enzersdorf (Niederösterreich)
wegen der rheumatischen Erkrankung seinen Ehefrau den Pachtvertrag aus
dem Jahr
1935. In der Sitzung des Gemeindetages der Ortsgemeinde Gramatneusiedl vom 10. Januar 1938 wird einstimmig Franz Griesmüller
(1894–1956), Gastwirt in Weigelsdorf (heute zu Ebreichsdorf, Niederösterreich), als neuer Pächter ab 1. April 1938 eingesetzt.

1938
Am 17. Januar 1938 findet die letzte Sitzung des Gemeindetages der Ortsgemeinde Gramatneusiedl vor der Eingliederung Österreichs in
das Deutsche Reich statt, wobei es ausschließlich um das Gemeindebudget für 1938 geht. Mitglieder des
Gemeindetages sind zu diesem Zeitpunkt neben Bürgermeister Leo
Isidor
Wiltschke (1876–1945), erster Bürgermeisterstellvertreter Matthias Spiegelgraber (1865–1939), zweiter
Bürgermeisterstellvertreter Michael Hums (1877–1954) sowie Josef Baron (1887–1959), Karl Geyer
(1887–1978), Johann Gröss (1893–1966), Josef Hillinger
(um 1895–1949), Ernst Horvath (1908–1970), Georg Pinsky, Johann Pribyl
(1894–1956), Franz Rehaček (1891–1967), Michael Reiner, Franz Schorn
(1905–1983) und Anton Stoss (1889–1962).

1938
Am 25. und 26. Januar 1938 kann auch in Gramatneusiedl ein Nordlicht beobachtet werden.

Deutsches Reich (Nationalsozialismus)
1938
Nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Österreich erfolgt am 13. März 1938 der
»Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich, der mit dem Bundesverfassungsgesetz vom 13. März 1938 auch formell vollzogen wird: »Artikel 1. Österreich ist ein Land des Deutschen Reiches.« Noch am selben Tag werden der Gemeindetag der
Ortsgemeinde Gramatneusiedl aufgelöst, der
bisherige Bürgermeister Leo
Isidor
Wiltschke (1876–1945) ab- und der Eisenbahnbeamte Johann Rathner (1878–1949) als provisorischer Ortsvorsteher eingesetzt, welches Amt er bis
November
1938 inne hat.

1938
Mit Kundmachung des Reichsstatthalters in Österreich vom 16. März 1938 wird am darauf folgenden Tag Österreich dem Geltungsbereich des deutschen Vierjahresplanes unterstellt, damit die Reichsmark an Stelle des Schilling als Währung eingeführt:
1 Reichsmark (RM) = 1,50 Schilling (S).

1938
Am 22. März 1938 findet die erste ordentliche Ausschusssitzung der Gemeindevertretung von Gramatneusiedl unter dem provisorischen Ortsvorsteher Johann Rathner (1878–1949) statt. Mitglieder der Gemeindevertretung sind nunmehr neben Johann Rathner, Franz
Allinger, Josef Baron (1887–1959), Georg Fensl (1884–1958), Franz Griesmüller
(1900–1947), Josef Hums (1906–1946),
Gottfried Jirousch (1870–1962),
Franz Malíček, Hans Mezera (1895–1960), Alois Müller
(1890–1979), Raimund Müller, Anton Pech,
Johann Říha (um 1903–1947), Friedrich Röschl (1903–1977),
Josef Tögel (1904–1975)
und Adolf Wimpissinger.

1938
Am 10. April 1938 findet in ganz Österreich die Volksabstimmung über den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich statt: »Bist Du mit der am
13. März 1938 vollzogenen Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich einverstanden und
stimmst Du für die Liste unseres Führers Adolf Hitler?« Das Ergebnis dieser demokratischen Wahlgrundsätzen zuwiderlaufenden Abstimmung
ist für Gramatneusiedl nicht bekannt, doch stimmen in Niederösterreich 99,4 Prozent mit »Ja«, nur 0,6 mit
»Nein«. (
Dokument.)
Zeitzeugen bestätigen, dass der überwiegende Teil der Bevölkerung Gramatneusiedls und Marienthals das nationalsozialistische Regime begrüßt. Die ehemals sozialdemokratische Arbeiterschaft Marienthals schließt sich in beachtlichem Umfang dem
Nationalsozialismus an. Dies gilt auch für die mittlerweile im Bauerndorf Gramatneusiedl zahlreicher gewordenen,
seit 1934 illegalen Sozialdemokraten, vor allem aber für die dortigen Deutschnationalen und Christlichsozialen, welche sich ebenfalls in bemerkenswerter Anzahl dem Nationalsozialismus anschließen. Der Gramatneusiedler Pfarrer
Georg Grausam (1911–1977), der viele Zeitzeugen befragte, stellt in seiner Chronik fest: »Die alten Sozialisten beklagten, daß sich Genossen, auf deren Treue sie gebaut hatten, plötzlich als die strammsten Nationalsozialisten
entpuppten.« (Georg Grausam (& Erich Kirch): Geschichte von Gramatneusiedl. Gramatneusiedl 1977/1983], Bl. 55.) Selbst im Widerstand aktive
Revolutionäre Sozialisten wie der Fabrikarbeiter
Leopold Kopecky
(1910–1993), später sozialdemokratischer Bürgermeister von Gramatneusiedl, zeigen sich noch
Jahrzehnte danach über das Ausmaß der Zustimmung zum neuen Regime – auch innerhalb der Arbeiterschaft – überrascht: »Überhaupt hat es viel mehr Kollaboration mit den Nazis gegeben als
wir vermutet hatten.« (Michael Freund & János Marton &
Birgit Flos:
Marienthal 1930–1980. Wien 1982, Bl. 59.) Lediglich der kommunistische Widerstand scheint geschlossen und einigermaßen gut
organisiert gewesen zu sein, wie auch die Verhaftungen vom Jahr
1943 bezeugen. Kaum etwas vermag die Lage der Arbeiterschaft Marienthals besser zu kennzeichnen als die Inbesitznahme zweier Marienthaler Gebäude
von hoher Symbolkraft, welche allerdings schon im Februar
1934 geschlossen
und dann von der »Vaterländischen
Front« übernommen worden waren, im Jahr 1938: Das Arbeiterheim Marienthal wird Sitz der Lokalorganisation der »Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei« (N.S.D.A.P.), und das ehemalige
Heim der Kinderfreunde wird von der »Hitler-Jugend« (HJ.) bezogen.

1938
Mit Kundmachung des Reichsstatthalters in Österreich vom 20. Mai 1938 werden die »Nürnberger Rassengesetze« im Land Österreich eingeführt. Damit wird die seit dem »Anschluss« tobende Verfolgung von Bürgern jüdischen Glaubens gesetzlich
sanktioniert.
In Gramatneusiedl fallen mindestens zwei Familien der nationalsozialistischen Judenverfolgung zum Opfer: Der Schneidermeister Alois Marx
wird noch 1938, seine Familie sicherlich vor 1941 aus Gramatneusiedl
deportiert, und das Schicksal des Lederers Leopold Pisk ist ungeklärt.

1938
Mit Verfügung Adolf Hitlers (1889–1945) vom 24. Mai 1938 wird das Land Österreich in sieben Gaue aufgeteilt: Gramatneusiedl, das bislang im
Bundesland Niederösterreich lag, wird dem seit 15. Juni 1938 amtlich so bezeichneten
Gau Niederdonau zugeordnet.

1938
Mit Kundmachung vom 18. Juni 1938 zur Durchführung der Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden, welche am 21. Juni
1938 in Kraft tritt, wird der systematische Raub an jüdischen Bürgern in Österreich gesetzlich legitimiert.
In Gramatneusiedl wird
1939 die »Frommengersche
mechanische Weberei und Schlichterei Kurt Sonnenschein in Mariental« von
Kurt Sonnenschein
(1906–195?) »arisiert«, also geraubt werden.

1938
Wie viele andere Vereine auch wird am 29. Juni 1938 die »Landwirtschaftliche Genossenschaft Gramatneusiedl« durch Neuwahl des gesamten Vorstandes gleichgeschaltet, also von Anhängern des Nationalsozialismus übernommen und den Interessen der Partei unterstellt. Damit ist das wirtschaftlich bedeutendste Unternehmen des
Ortes unter nationalsozialistischer Kontrolle.

1938
Mitte August 1938 fährt im Zuge nationalsozialistischer Propagandaaktionen der
»Hilfszug Bayern« in Marienthal vor, nimmt zwischen dem Haupttor beim Portierhaus der ehemaligen
Textilfabrik Marienthal und dem Gasthaus
Karl Bürgermeister (1895–1961), das
einstige Fabrikgasthaus, Aufstellung und verabreicht kostenlos den später berüchtigt gewordenen deutschen Eintopf.

1938
Am 23. September 1938 stirbt in Gramatneusiedl die
Weberin und sozialdemokratische Politikerin
Karoline Taschke, geborene Palme
(1861–1938),
1919
bis zu ihrer politisch bedingten Amtsenthebung
1934
als erste Frau Mitglied des Gemeinderats Gramatneusiedl, wo sie auch als
Alterspräsidentin fungierte.

1938
Das Jahr 1938 ist auch für viele Mitglieder des Projektteams
der
Marienthal-Studie ein Schicksalsjahr. Paul Felix Lazarsfeld
(1901–1976) ist bereits im September 1933 in die
Vereinigten Staaten von Amerika gegangen. Emigriert sind
Clara Jahoda (1901–1986)
1934, Gertrude Wagner (1907–1992) im Februar
1936 und
Marie Jahoda (1907–2001) im September
1937,
alle drei nach Großbritannien. Nach dem »Anschluss« setzt die große
Flüchtlingswelle ein. Noch im März 1938 emigrieren Hans Zeisel (1905–1992) und seine Schwester Ilse Zeisel
(1909–1999) über Großbritannien in die USA, wo beide bleiben werden.
Karl Hartl
(1909–1979) flüchtet im März 1938 nach Frankreich, wird aber
1949
nach Österreich zurückkehren.
Walter Wodak (1908–1974) flüchtet 1938 nach Großbritannien und kehrt
1945 als britischer Soldat nach Österreich zurück, wo er bleiben wird. Im Mai 1938 flüchtet
Hedwig E.F. Jahoda (1911–1961) über Großbritannien 1939
in die Vereinigten Staaten von Amerika und wird nicht mehr nach
Österreich heimkehren. Im Juni 1938 emigriert
Josefine Stross (1901–1995) als medizinische Betreuerin gemeinsam mit Sigmund
Freud (1856–1939), dessen Tochter Anna Freud (1895–1982) und deren
Dienstmädchen Paula Fichtl (1902–1982) nach Großbritannien, wo sie sich für immer niederlässt.
Maria Deutsch (1884–1973), die bereits im Dezember
1936 nach Spanien emigriert, im Januar 1938 jedoch nach Österreich zurückgekehrt war, wird beim Ausreiseversuch im März 1938 verhaftet, aber nach Intervention britischer sozialistischer Politiker im November 1938 freigelassen.
Im Mai 1939 gelingt ihr die Flucht nach Großbritannien, geht 1939 nach
Frankreich, kehrt 1940 nach Großbritannien zurück und flüchtet über Kuba
1941 in die Vereinigten Staaten von Amerika;
1946 kehrt sie nach Wien zurück.

Gramatneusiedl als Bestandteil der Stadt Wien
1938
Im Zuge der Verwaltungsreform im besetzten Österreich wird gemäß Gesetz über Gebietsveränderungen im Lande Österreich vom 1. Oktober 1938 Gramatneusiedl mit 15. Oktober 1938 der Stadt Wien, und zwar dem
13. Bezirk (Schwechat), einverleibt:
»In die Stadt Wien werden folgende Gemeinden des ehemals österreichischen Landes Niederösterreich eingegliedert: […] b) vom Verwaltungsbezirk Mödling die Gemeinden des Gerichtsbezirkes Mödling und die Gemeinden Gramatneusiedl, Moosbrunn, Münchendorf und Velm«. Damit gelangt es auch vom Gau
Niederdonau zum Gau Groß-Wien. Da
Reisenberg (Niederösterreich), und damit die Siedlung
Neu-Reisenberg,
im Gau Niederdonau verbleibt, ist Marienthal nicht nur auf zwei
Gemeinden und zwei Bezirke, sondern auch auf zwei Länder beziehungsweise
Gaue aufgeteilt. Offiziell bleibt Neu-Reisenberg bis 1945 aus Marienthal
ausgegliedert. Gramatneusiedl ist keine eigenständige Gemeinde
mehr, Bürgermeister sind nunmehr die Bürgermeister Wiens: Hermann Neubacher (1893–1960), seit 14. Dezember
1940 Philipp Wilhelm Jung (1884–1965) und seit 30. Dezember
1943 Hanns Blaschke (1896–1971), der bis 6. April 1945 dieses Amt bekleidet. Gramatneusiedl
erhält zwar im November 1938 eine Amtsstelle der Bezirkshauptmannschaft Schwechat für Gramatneusiedl, Velm
(heute zu Himberg, Niederösterreich) und Moosbrunn (Niederösterreich), welche im
Schloss Gramatneusiedl untergebracht ist. Hier residiert ab 1. Januar 1939 der
Ortsvorsteher. Die tatsächliche Macht liegt jedoch beim so genannten Ortsdreieck, bestehend aus dem
Ortsvorsteher (aus Gramatneusiedl), dem Ortsgruppenleiter (aus Velm) und dem Ortsbauernführer (aus Velm). Gramatneusiedl wird – nach einem gescheiterten Versuch
vom Juni 1946 – erst
am 1. September
1954 seinen Status als autonome Gemeinde wiedererlangen.

1938
Am 24. Oktober 1938 findet
bei Josef Krenn (1913–1987), seit 1. September 1936 zweiter Kooperator
in Moosbrunn (Niederösterreich) und als solcher auch in Gramatneusiedl
tätig, eine Hausdurchsuchung durch die Geheime Staatspolizei (Gestapo)
statt, weil er einen Aufruf der österreichischen Bischöfe verlesen
hatte. Krenn wird verhaftet und ins berüchtigte Polizeigefängnis in
Wien 9., Rossauer Lände, gebracht. Nach neun Monaten wird er ohne
Anklageerhebung freigelassen und wirkt danach in Perchtoldsdorf
(Niederösterreich) und Hirtenberg (Niederösterreich), zuletzt in Bad
Schönau (Niederösterreich). (
Denkbuch Moosbrunn.)

1938
Am 8. November 1938 werden das
Katholische Vereins- und Kinderheim gesperrt
und
der erst 1936
gegründete »Verein
Jugendhilfe für Gramatneusiedl-Marienthal« behördlich aufgelöst.
(
Denkbuch Moosbrunn.) Außerdem werden in der Folge alle katholischen Vereine des Ortes behördlich aufgelöst, darunter
die Pfadfindergruppe Gramatneusiedl
des »Österreichischen Pfadfinderkorps St. Georg«, der »Katholische Mädchenbund«, der »Christliche Frauenverein«, der »Verein ›Frohe Kindheit‹«
und der »Katholische Deutsche Burschenverein Gramatneusiedl«.

1938
Am 9. November 1938 führen Nationalsozialisten ein Pogrom gegen Juden und Jüdinnen aus, die so genannte Reichskristallnacht: Synagogen, jüdische Friedhöfe, Geschäfte und Wohnungen werden zerstört und geplündert, unzählige Juden gefoltert und ermordet.

1938
Im November 1938 erwirkt die Leitung der »Landwirtschaftlichen Genossenschaft Gramatneusiedl« die Überlassung des von Walter Prade gepachteten, jedoch ungenutzten
Spinnerei-Hauptgebäudes der ehemaligen Textilfabrik Marienthal zur Getreidelagerung für die »Reichsstelle
für Getreide, Futtermittel und sonstige landwirtschaftliche Erzeugnisse«.

1938
Mit der Kundmachung des Reichsstatthalters in Österreich vom 28. November 1938 über den Neuaufbau des Reichs wird mit Rechtswirksamkeit ab 1. Januar 1939 die Amtsstelle der Bezirkshauptmannschaft Schwechat in Gramatneusiedl eingerichtet. Zum Ortsvorsteher
wird Karl Mayer (1908–1970)
ernannt, der dieses Amt bis April 1945 bekleidet.
(Zum Vorgänger siehe
1938.)

© Reinhard Müller
Stand: Juni
2011
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