Große Chronik von Gramatneusiedl, Marienthal und Neu-Reisenberg
1939
1939
Am 15. März 1939 marschiert die Deutsche Wehrmacht in die so genannte Rest-Tschechoslowakei ein und besetzt das Land.

1939
Im Zuge der nationalsozialistischen Raubpolitik an jüdischem oder so genannt jüdischem Eigentum kommt es auch zur »Arisierung«,
also zum Raub, der »Frommengerschen mechanischen Weberei und Schlichterei Kurt Sonnenschein in Mariental«
des in Wien lebenden Fabrikanten Kurt Sonnenschein (1906–195?). Der Familie Sonnenschein selbst gelingt zwar Ende Juni 1939 die Flucht nach London, die Fabrik wird
jedoch seit April 1939 vom deutschen »Arisierungs-Königs«
Fritz Ries (1907–1977) betrieben, nunmehr unter dem Namen »Mechanische
Weberei und Appretur Marienthal Dr. Fritz Ries, Wien–Gramatneusiedl«. Im September 1940 wird die Fabrik von
Adolf Ahlers (1899–1968) übernommen. Kurt Sonnenschein wird seine Fabrik nach langwierigen Rechtsstreitigkeiten formal erst um
1954 zurückerhalten.

1939
Im Juni 1939 flüchtet der letzte noch lebende Besitzer der einstigen Textilfabrik Marienthal, Stephan Mautner (1877–1944), mit seiner Familie nach Ungarn, wo er auf einem Landgut bei
Szentes (Csongrád Megye) lebt. Im Juli
1944 in Budapest aufgegriffen, wird er mit seiner
Frau vermutlich in das Konzentrationslager
Auschwitz (Oświęcim, Polen) deportiert, wo beide ermordet
werden. Seiner Schwester,
Marie Mautner-Kalbeck
(1886–1972), gelingt im Januar 1939 die Flucht nach Großbritannien; sie wird 1947 mit ihrem Sohn
Florian Kalbeck (1920–1996) nach Österreich zurückkehren. auch Stephan Mautners ältere Schwester,
Katharina Breuer-Mautner (1883–1979), kann sich 1939 ins englische Exil retten, wo sie
bis zu ihrem Tod bleiben wird.

1939
Walter Prade, dessen Pachtvertrag noch bis Ende Juni 1940 geht, wird von der Leitung der
»Landwirtschaftlichen
Genossenschaft Gramatneusiedl« »bewegt«, die Pacht vorzeitig zu kündigen und auf sein Vorverkaufsrecht zu verzichten. Am 18. April 1939 kauft die »Landwirtschaftliche Genossenschaft
Gramatneusiedl« den von Walter Prade 1933 gepachteten Teil der ehemaligen Marienthaler Textilfabrik von der »Actien-Gesellschaft der Baumwoll-Spinnereien, Webereien, Bleiche, Appretur, Färberei und Druckerei zu Trumau und Marienthal« samt Elektrizitätswerk, kurz darauf auch das
Arbeiterwohnhaus Neugebäude, das zu diesem Zeitpunkt 80 Wohnungen beherbergt, samt anschließenden
Lagergebäuden (Kistenschuppen und
Garnmagazin) und rund 3.000 Quadratmetern Grund. Auf dem einstigen Gelände der Textilfabrik Marienthal bleiben
lediglich die von
Fritz
Ries
(1907–1977) »arisierten« Gebäude – der
Webereikomplex und das Direktorenwohnhaus Herrenhaus – im Fremdbesitz.
Da es beim
Lagerhaus Gramatneusiedl nahe dem
Bahnhof Gramatneusiedl keine Ausdehnungsmöglichkeit mehr gibt, verlegt die
»Landwirtschaftliche
Genossenschaft Gramatneusiedl« zwischen August 1939 und Juli
1940 ihren Hauptbetrieb auf das Areal der
ehemaligen Textilfabrik Marienthal ins neue
Lagerhaus Marienthal. Im ehemaligen Spinnerei-Hauptgebäude richtet sie Getreidelagerräume, Mehl-, Futtermittel-, Säcke- und Kunstdüngermagazine ein, in den entlang der
Fischa gelegenen Gebäuden (von der
Karderie bis zum
Baumwollmagazin III) werden Kanzleien, Schlosser-, Elektriker-
und Tischlerwerkstätten, eine Schroterei, Montagehallen und Lagerräume untergebracht. Die
Reparaturwerkstätte für landwirtschaftliche Maschinen und Traktoren wird ausgebaut, weil sie nun auch die nahe gelegenen Schwesterngenossenschaften
Guntramsdorf
(Niederösterreich), Schwadorf
(Niederösterreich)
und Ebreichsdorf
(Niederösterreich)
bedient. Auch das
1890
errichtete Elektrizitätswerk wird grundlegend renoviert und ein neuer Generator aufgestellt. Am Bahnhof Gramatneusiedl verbleibt nur der
Mühlenbetrieb, eine Walzmühle für Roggen und Weizen, deren Umbau im Juni 1939 abgeschlossen wird; ihr nächster Umbau wird erst
1968 in
Angriff genommen werden. ( Gebäude der Genossenschaft auf dem ehemaligen Fabrikgelände.)

1939
Am 20. April 1939 wird der 50. Geburtstag von Adolf Hitler (1889–1945) wie überall im Deutschen Reich so auch in Gramatneusiedl groß gefeiert, die
Amtsstelle Gramatneusiedl im
Schloss Gramatneusiedl
festlich geschmückt. ( Dokument.)

1939
Am 1. September 1939 beginnt das Deutsche
Reich den Zweiten Weltkrieg, doch scheint dieser zunächst von
Gramatneusiedl fern zu sein. Allerdings müssen immer mehr Männer zur
Deutschen Wehrmacht einrücken, aus Gramatneusiedl insgesamt rund 500.

1939
Im November 1939 wird der
Kindergarten, die ehemalige Kinderbewahranstalt, von den nationalsozialistischen Behörden gesperrt,
um dort im Mai
1940 eine Kindertagesstätte der »Nationalsozialistischen
Volkswohlfahrt« (N.S.V.) zu eröffnen. Die drei im einstigen
Kindergarten tätigen »Mariahilfschwestern Don Boscos« werden entlassen, können bis August
1942 bei einer Familie im Bauerndorf, Josef Baron
(1887–1959), Gramatneusiedl 34 (ab 1961: Oberortsstraße 20), wohnen, wo sie Näharbeiten durchführen und
Klavierunterricht erteilen. In diesem Haus wird auch die
1936
gegründete
Nähschule der Mariahilfschwestern Don Boscos
unter Leitung von Schwester Margarita Hoffmann bis zur endgültigen
Schließung
1942
weitergeführt. ( Denkbuch Moosbrunn.)

© Reinhard Müller
Stand: Juni
2011
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