Kulturerbe – Marienthal
ORF Niederösterreich, »Niederösterreich
Heute« (19h00
bis 19h22),
3. Dezember 2008, 19h16
bis 19h19 (Dauer: 3 Minuten).
Bericht: Hannes Steindl; Kamera: Helmut
Muttenthaler.
Interviewpartner:
Reinhard
Müller (Archiv
für die Geschichte der Soziologie in Österreich),
Hans Knoll (Geschäftsführer der »Gemeinnützigen
Wohnungs- und Siedlungsgenossenschaft Neunkirchen reg. Gen.m.b.H«).
Ansage Christiane Teschl: »Wir wechseln nach Marienthal, einem
Ortsteil von
Gramatneusiedl. Dort hat es bis 1929 eine
Textilfabrik
gegeben. Wegen des Börsenkrachs ist sie aber Pleite gegangen und musste
abgerissen werden. Hunderte Arbeiter wurden damals arbeitslos und sind
es lange geblieben: Grund genug für drei Wissenschafter, sich erstmals
mit dem Phänomen Langzeitarbeitslosigkeit zu beschäftigen.
Marie Jahoda,
Hans Zeisel und
Paul Lazarsfeld wurden mit dieser
Studie
ebenso berühmt wie Marienthal selbst. Ein ›Kulturerbe‹ über eine
Arbeiterkolonie, die Geschichte geschrieben hat.«
Kulturerbe – Marienthal
Hannes Steindl: »Das in
Wissenschaftskreisen weltberühmte ›Marienthal‹ ist kein Ort, der auf
einer Landkarte eingezeichnet wäre: Es bezeichnet ein Fabriksgelände
zwischen
Gramatneusiedl und
Neu-Reisenberg. Einst stand hier die
›Marienthaler
und Trumauer Actien-Spinn-Fabriks-Gesellschaft‹. Hier
arbeiteten und lebten zur Hochblüte des Unternehmens am Beginn des
20. Jahrhunderts 1.290 Mitarbeiter. Dank der liberalen
Fabriksbesitzerfamilie
Todesco entwickelte sich in Marienthal ein
fortschrittliches Dorf im Dorf. Heute sind noch sechs
ehemalige
Wohnhäuser von damals gut erhalten und renoviert dank der weitsichtigen
Initiative der Gemeinde Gramatneusiedl. Ebenso gut zu erkennen heute
noch das
Elektrizitätswerk von damals. Das historische
Gasthaus ist auch
heute noch ein beliebter Treffpunkt. Mit dem Börsencrash 1929 kam das
Aus für die Bettwäschefabrik Marienthal. Mit einem Schlag verloren
beinah dreizehnhundert Männer und Frauen Arbeit und Lohn. Hunger und
Verelendung waren die Folge. Ein
Sozialforscherteam, das mit der
Marienthal-Studie dann weltberühmt wurde, untersuchte da zum erstenmal
in der Geschichte die verheerende Auswirkung von
Langzeitarbeitslosigkeit.«
Reinhard
Müller (Soziologe, Universität
Graz): »Es dürfte zunächst einmal so etwas wie Resignation eingetreten
sein. Das merkt man daran, dass die Vereinsaktivitäten erloschen sind.
Selbst der
Sportklub hatte vorübergehend seine Tätigkeit eingestellt.
Die nächste Phase war dann sicher die der Apathie. Man hat einfach alles
laufen lassen und hat nur mehr versucht mit Hilfe der
Sozialunterstützung den Alltag zu bewältigen.«
Hannes Steindl: »Und damit ging ein in der
Region einzigartiges Gemeinschaftsprojekt mit
Theaterverein,
Frauen-Basketball und vorbildlicher Kinderbetreuung verloren. In den
1920er Jahren gab es hier in Marienthal ein erstaunliches soziales
Leben. So gab es hier den ersten
Montessori-Kindergarten
Österreichs außerhalb von Wien, es gab ein
türkisches Bad, ein
Werksspital. Erst mit
dem Niedergang – und das ist das Makabere an der Geschichte – ist
Marienthal weltberühmt geworden, etwas, das es mit der Bettwäsche nicht
erreicht hat. Dennoch: Den Leuten hier wäre die Arbeit lieber gewesen
als der nachträgliche Ruhm. Heute werden auf dem
ehemaligen Fabriksgelände modernste Wohnungen errichtet. Dabei wird auf die
Einbeziehung der historischen Substanz aus dem 19. Jahrhundert größten
Wert gelegt.«
Hans Knoll (Geschäftsführer »Neunkirchner
Siedlungsgesellschaft«): »Als besonderen Kontrast wollen wir da hier
dieses
alte Gebäude auch als Passivhaus neu gestalten.«
Hannes Steindl: »Das historische
Consum-Gebäude wird auf diesem Platz neu errichtet und ein
Museum über
die Arbeitslosen beherbergen. Die Gemeinde
Gramatneusiedl, die
Soziologen und die Baufirma arbeiten dabei intensiv zusammen.«
© Reinhard Müller
Stand: Juni 2010

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