Marie Jahoda: Koedukation

In: Der Schulkampf. Organ des Bundes sozialistischer Mittelschüler Österreichs (Wien), 1. Jg., Nr. 8 (Juni-Juli 1926), S. 3.

Die Veröffentlichung auf dieser Website erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Lotte Bailyn, Belmont (Massachusetts).

S. 3

Koedukation


Daß wir noch einmal um die Koedukation werden kämpfen müssen, das hätten wir uns nicht träumen lassen! Seit 1918 ist die Koedukation - freilich meist nur theoretisch - bereits in den Schulen eingeführt und dadurch zur fast selbstverständlichen Forderung jeder bürgerlichen Erziehung geworden; wir hatten also mit einiger Berechtigung die Problemstellung: Koedukation oder nicht Koedukation, so sehr vergessen, daß uns der Erlaß des Jugendamtes im heurigen Sommer, Koedukationskolonien nicht zu unterstützen, ganz unvorbereitet traf. Inzwischen haben wir uns aber wieder gefaßt, wir hoffen, unsere selbstverständlich koedukative Vereinigungskolonie in Judenburg1 auch ohne die Hilfe des Jugendamtes führen zu können, wollen aber nichtsdestoweniger anläßlich dieses Erlasses doch noch einmal das, was wir zur Koedukation zu sagen haben, wiederholen.
Es ist ein ökonomischer Gesichtspunkt, der uns in dieser Frage leitet. Die koedukative Erziehung bedeutet für den jungen Menschen eine unerhörte Ersparnis an Seelenkräften, ein Vermeiden von Konflikten. Wir kennen alle diese Großstadtkinder mit den bleichen Wangen und ihren unruhigen Augen; vom 14. Lebensjahre an ungefähr beginnen sie den schweren Kampf: Sie müssen sich die zweigeschlechtliche Menschenwelt erobern, erkämpfen. 14 Jahre haben genügt, ihnen das Natürlichste unnatürlich erscheinen zu lassen. Sie wissen nicht mehr, daß sie für eine edle Sache kämpfen, sie glauben der Umwelt, daß es sich dabei nur um Gräßliches und Gemeines handeln kann und so suchen sie ihre Waffen für diesen Kampf im Dunkeln, wo sie selbst nicht mehr unterscheiden können, ob sie Sauberes oder Unsauberes in Händen halten. Wenn man bedenkt, daß dieser entsetzliche Kampf, aus dem nur sehr wenige ganz heil hervorgehen, überflüssig ist, daß er vermieden werden könnte, so erstarrt man über diese Verschwendung von Menschenkraft, die hier getrieben wird. Man wird einwenden, daß Kämpfe der Jugend nützen. Es ist aber ein falsches Vorurteil, daß der Kampf an sich schon gut sei, an sich schon einen Wert bedeute Es kommt auf das Ziel des Kampfes an! Unsere Kräfte üben können wir auch bei weniger aufreibenden Kraftproben. Man wird uns von anderer Seite einwenden, daß durch das bedingungslose Zusammensein die Jugend um eines ihrer schönsten Erlebnisse gebracht wird: die Entdeckung des anderen Geschlechts. Das wäre vielleicht ein Einwand, wenn es so wäre. Aber es ist anders: denn es ist ja nicht die Entdeckung der weiblichen oder männlichen Seele, die der nicht koedukativ erzogene Jugendliche da plötzlich macht; es ist, um es kraß auszudrücken, die Entdeckung des Unterrocks. Wir wollen nicht, daß so und so viele Knaben nicht schlafen können, weil sie einen Unterrock gesehen haben. Wir wollen junge Menschen, die ihre Kräfte für wirkliche Probleme gespart und bereit haben, seien dies zuletzt persönlicher oder sozialer Art.
Es ließe sich noch viel dazu sagen, vom im engeren Sinn pädagogischer Vorteile der Koedukation, vom Standpunkt der Aesthetik (in unseren Koedukations-Kolonien sind die Buben viel sauberer als in jedem Bubenlager), vom Standpunkt der sittlichen Entwicklung usw. Das alles ist aber nur eine angenehme Draufgabe; wir würden im gegebenen Falle auf einiges davon verzichten können, nur um die eine Anschauung halten und vertreten zu können: Wir wollen nicht in sinnlosen Kämpfen unsere Kräfte ausgeben, die wir doch so notwendig brauchen zur Erringung unserer gemeinsamen, großen Ziele.

Marie Jahoda

1 Judenburg: Stadt im obersteirischen Industriegebiet. Anmerkung Reinhard Müller.