[Marie Jahoda]: [Das Berufsproblem in individualpsychologischer Beleuchtung]1

In: Die Sozialistische Erziehung. Reichsorgan des Sozialdemokratischen Erziehungs- und Schulvereines »Freie Schule-Kinderfreunde« (Wien), 7. Jg., Nr. 12 (Dezember 1927), S. 274-275.

Die Veröffentlichung auf dieser Website erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Lotte Bailyn, Belmont (Massachusetts).

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Genossin Marie Jahoda referierte sodann über das Berufsproblem in individualpsychologischer Beleuchtung.
Sie führte aus: Die Individualpsychologie hat sich bis jetzt noch gar nicht mit dem technischpsychologischen Problem des Berufes befasst, obwohl sie den Beruf als eine der drei großen Lebensaufgaben bezeichnet. Deshalb kann ein Referat darüber nur eine Problemübersicht sein. Es handelt sich um Beratung bei der Berufswahl und um Beratung bei der Berufsausführung, beides in sozialistischem Geist.
Bei der Beratung steht im Mittelpunkt das Begabungsproblem. Das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein erblicher Begabungen ist bis jetzt noch nicht erforscht worden. Die Individualpsychologie also hat das Recht, das Nichtvorhandensein der Unbegabung zu postulieren, allerdings mit Hinweis darauf, daß hier ein Gebiet experimenteller Forschung liegt, das dringend der Bearbeitung bedarf. Von diesem Standpunkt aus hält sie die psychotechnischen Eignungsprüfungen für nicht sehr wichtig und schreibt ihnen keinen großen prognostischen Wert zu. Sie fordert vielmehr eine planmäßige Berufserziehung, die die verschiedenen Kenntnisse und Probleme des Berufslebens in den Lehr- und Erziehungsplan aller Schulen einbaut. Die dabei herangezogene Berufskunde muß auch individualpsychologisch begründet sein, das heißt, sie darf nicht die einzelnen Handgriffe des Berufs in den Vordergrund stellen, sondern muß über seine sozialen und psychologischen Grundlagen Auskunft geben: eine entsprechende Beleuchtung der verschiedenen Berufsarten im Zusammenhange mit einer individualpsychologischen Typenlehre ist eine weitere Aufgabe zukünftiger Forschung. Hieher gehört auch der Versuch, Tests zur ersten Charakterisierung der Leitlinie eines Individuums zu schaffen.
Bei der Beratung des im Beruf Stehenden steht im Mittelpunkt das Problem der Arbeitsfreude. Nach jeder ermutigenden Behandlung erhebt sich als Hauptproblem die Aufgabe, die erzielten Erfolge zu dauernden zu machen. Dazu bietet sich als wichtigster Weg die Bindung an die Arbeit. Für den Proletarier erheben sich aber dabei verschiedene grundsätzliche Schwierigkeiten. Der Aufbau des kapitalistischen Betriebes ist, abgesehen vom

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materiellen Druck, unter den er den Arbeiter stellt, eine Quelle von psychischen Hemmungen natürlicher oder erworbener Arbeitsfreude, die, wenn überhaupt, so nur durch völlige Unterwerfung unter seinen kapitalistischen Geist, und also zum Schaden der meisten anderen Arbeiter überwunden werden können. (Gelbe Gewerkschaften - Dinta.2) Es erhebt sich die Aufgabe, die individualpsychologischen Grundlagen der Betriebsarbeit zu studieren (im Anschluß an de Mans3 erste Versuche) und sie dem Arbeiter in aufklärender Agitation begreiflich zu machen. Hier berührt sich die individualpsychologische Arbeit am engsten mit der politischen und gewerkschaftlichen Arbeit. Denn im Kapitalismus ist Arbeitsfreude überhaupt nur außerhalb des Betriebes in der kollektiven Kampfarbeit gegen den Kapitalismus zu finden.
Solche Untersuchungen führen auf das Gebiet der Arbeitswissenschaften, die heute vor allem in Deutschland zu großer Blüte gekommen sind, aber ganz im Dienst des Kapitalismus stehen. Die Bekämpfung dieser verschiedenen Richtungen, die unter dem Mantel objektiver Wissenschaft gefährliche Handlangerdienste für den Kapitalisten tun, und die Lösung ihrer Probleme im proletarischen Sinn ist ein wichtiges Feld kommender individualpsychologischer Forschung und Praxis.
Daran schloß sich eine kleine Aussprache über die Arbeitsfreude im Proletariat.

1 Eigentlich handelt es sich hierbei um den Abdruck des Referats von Marie Jahoda, welches sie am 15. September 1927 auf dem Internationalen Kongress sozialistischer Individualpsychologen (Wien, 14. und 15. September 1927) gehalten hatte, in dem Artikel [anonym]: Individualpsychologie und Sozialismus. (Fortsetzung des Berichtes über den Kongreß der marxistischen Individualpsychologen.), in: Die sozialistische Erziehung (Wien), 7. Jg. (1927), S. 265-275. Anmerkung Reinhard Müller.
2 Gelbe Gewerkschaften: eigentlich sind dies Werkvereine, die grundsätzlich auf Kampfmaßnahmen zugunsten der Arbeiterschaft verzichteten und deshalb von Unternehmern auch gefördert wurden; meist standen sie den rechten Heimwehrverbänden nahe. Von Sozialdemokraten und Kommunisten wurden bisweilen auch christlichsoziale Gewerkschaften als »gelbe« bezeichnet. - Dinta (Deutsches Institut für technische Arbeitsschulung): aufbauend auf den Überlegungen des Psychologen und Philosophen Hugo Münsterberg (Danzig, Westpreußen [GdaƄsk, Polen], 1863 - Cambridge, Massachusetts, 1916) und der Industriellen Psychotechnik entstand in Deutschland auf Initiative von Schwerindustriellen des Ruhrgebiets 1925 das »Dinta« in Düsseldorf, welches rasch zum Mittelpunkt und Inbegriff der »gelben« Werkspolitik wurde. Anmerkung Reinhard Müller.
3 Hendrik De Man (Antwerpen, 1885 - Murten, Fribourg, 1953): sozialdemokratischer Politiker (1935-1936 Arbeitsminister, 1926-1938 Finanzminister) und empirisch arbeitender Sozialpsychologe; emigrierte 1941 in die Schweiz, nachdem seine Bemühungen um eine Zusammenarbeit mit den deutschen Besatzern gescheitert waren; wurde dafür 1946 in Abwesenheit wegen Förderung des Absichten des Feindes zu zwanzig Jahren Haft verurteilt. Anmerkung Reinhard Müller.