Marie Jahoda: KathederkapitalismusIn: Arbeit und Wirtschaft (Wien), 6. Jg., Nr. 11 (1. Juni 1928), Sp. 501-504.Die Veröffentlichung auf dieser Website erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Lotte Bailyn, Belmont (Massachusetts). |
Von
Marie Jahoda
Sp. 501
In der letzten Zeit ist das Wort Alpine1 ein Kampfruf im Ringen der österreichischen Arbeiterschaft geworden. Sieht man näher zu, dann zeigt sich wieder, daß wir nicht nur auf die Gewaltmittel zu achten haben, die die Unternehmerschaft überall anwendet; auch ihre »friedlichen« Wege verdienen unser höchstes Mißtrauen. Vor einiger Zeit ist hier über die Dintabewegung2 berichtet worden, die Arbeit jenes Düsseldorfer Instituts, das es sich zur Aufgabe macht, »Sozialingenieure« und »Sozialsekretäre« auszubilden, die in die Betriebe entsendet werden, damit sie dort die Arbeiter, vor allem die Arbeiterjugend, der Gewerkschaft entfremden und in wirtschaftsfriedlichem Sinne beeinflussen. Die feinsten Methoden der modernen Erziehungs- und Seelenkunde werden in den Dienst dieses Unternehmens gestellt.Sp. 502
liert, wie in der folgenden Äußerung des Herrn Geheimrates v. Borsig,9 eines der Führer des deutschen Unternehmertums: Meines Erachtens kann es für die Wirtschaft nicht gleichgültig sein, in welcher Weltanschauung der Nachwuchs ihrer Führer, ihres Arbeiter- und Angestelltenpersonals erzogen wird. Pflichttreue, Verantwortungsgefühl, Disziplin werden auf dem Nährboden einer ausgesprochen christlichen und nationalen Schule besser gedeihen, und aus diesen werden sich leichter Gemeinschaftsgedanken entwickeln, als es die Erziehung durch die neutrale oder materielle Weltanschauung anderer Schulformen vermögen wird. Immerhin sind das die Gedanken eines Großunternehmers, von dem man’s nicht anders erwarten kann. Empörend aber wird es, wenn ein sogenannter Wissenschafter ausrückt, um sich zur Schützenhilfe anzubieten. Als Steckbrief ist es gedacht, wenn hier über ein Buch berichtet wird, das in seine 700 Seiten den ganzen Ungeist des Kapitalismus aufgenommen hat*). Es zwingt geradezu, den Bericht folgendermaßen zu beginnen:Sp. 503
Problem der Jugend im Wirtschaftsprozeß spricht. Scheint es ihm furchtbar, daß die proletarische Jugend von den Bildungsstätten abgeschnitten, daß sie mit 14 Jahren in den Betrieb gestoßen wird? Keineswegs! Diese Vierzehnjährigen sollen im Gegenteil nicht gleich zu qualifizierter Lehre zugelassen werden, sondern erst ein paar Jahre lang Angelernte sein, ehe sie sich für ein Fach entscheiden. Wie Hohn klingt es, wenn das mit den Gefahren einer zu frühen Berufswahl begründet wird. Aber Giese legt gar keinen ernstlichen Wert auf diese »bildungstechnische Komponente«: »allzufrüh verdienen, das ist die ökonomische Seite der Sache.« Und in einen Satz faßt er dann das Programm zusammen, um dessentwillen die Wissenschaft zehn Seiten lang bemüht worden ist: »Löhnung im Sinne des wirtschaftlichen Abbaues zu hoch angesetzter Lohnquoten für jugendliche Industriearbeiter.« Es ist durchaus überflüssige Mühe, wenn er noch hinzufügt: »Um Irrtümer auszuschalten, muß betont werden, daß weder Industrie noch Handel Nachdruck auf etwa jugendgemäße Auffassung der Sachlage legen.« Der Herr wird wohl noch gründlich darüber belehrt werden müssen, wie recht er ausnahmsweise hatte, in diesem Zusammenhang nicht auch die Arbeiterschaft aufzuzählen.Sp. 504
Terror die Menschen in seinem Dienst hält, kommt der Kapitalismus am Katheder, der mit den Mitteln der geistigen Verhetzung und Beengung das gleiche versucht.