Paul Lazarsfeld & Karl Reininger & Marie Jahoda1: Das Weltbild des Jugendlichen

In: Technik der Erziehung. Ein Leitfaden für Eltern und Lehrer. Herausgegeben von Sofie Lazarsfeld. Leipzig: Verlag von S. Hirzel 1929, S. 212-237.

Die Veröffentlichung auf dieser Website erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Lotte Bailyn, Belmont (Massachusetts), und Robert Lazarsfeld, Ann Arbor (Michigan).

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Das Weltbild des Jugendlichen
PAUL LAZARSFELD - KARL REININGER
MARIE JAHODA, WIEN



1. Kampf der Generationen


Uralt ist der Konflikt zwischen den Generationen und tausend Formen der Darstellung hat er bereits gefunden. Durch Mythos und Dichtung, von Ödipus’ königlichem Vater,2 an dem sich das gefürchtete Orakel, sein Sohn werde ihn töten, trotz aller Gegenmaßnahmen erfüllt, bis zu Baumeister Solneß,3 der bei dem Versuch, den Erfolg seines eigenen Schülers zu überbieten, fällt, geht eine Linie tragischer Probleme, die immer wieder zweierlei Formulierungen gefunden haben: von seiten der Alten die Klage über die Rücksichtslosigkeit der Jungen, die ihrerseits wieder über die Einsichtslosigkeit der Alten klagen.
Wir können hier nicht über die ganze Frage sprechen; zu vielerlei müßte einbezogen werden. Wohl aber wollen wir - dem Sinn dieses Buches entsprechend - die psychologische Situation auf beiden Seiten herausheben und die Fäden zu zeigen versuchen, die hinüber und herüber gesponnen werden können. Wir werden am besten durch ein paar Fragen auf die Ursache dieses Konfliktes und die Mittel ihn zu lindern geführt werden.
Beginnen wir mit der Frage: Was weiß der Jugendliche vom Erwachsenen?
Die wichtigste Beziehung, die der Jugendliche hat, ist die zu den Erwachsenen. Man muß bedenken, welche ungeheuer große Rolle sie rein praktisch für ihn spielen! Nicht nur als Eltern und Lehrer. Die Geschäftsfreunde der Eltern, die Hausgehilfen, die Wohnungsparteien, alle sind von Bedeutung; ja

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auch viele Organe des öffentlichen Lebens, der Kondukteur, der Wachmann usw. Was weiß der Jugendliche, welches Bild macht er sich von ihnen?
Eine sehr wichtige Frage und sehr schwer zu beantworten. Denn es ist merkwürdigerweise so: die Jugendlichen wissen eine Menge Einzelheiten von den Leuten, die für sie praktisch von Bedeutung sind - es ist ja oft bewundernswert, wie geschickt sie mit den Eigenheiten ihrer Lehrer und Eltern operieren! - aber sie verbinden ihr Wissen nicht zu einem Gesamtbild. Das heißt, sie wissen oft erstaunlich lange nicht, daß die Erwachsenen ein dem ihren analoges Seelenleben haben, daß auch sie sozialen und psychischen Gesetzen und Entwicklungen unterworfen sind, daß man auch sie »verstehen« kann. Man wird der Beziehung des Jugendlichen zum Erwachsenen nur gerecht, wenn man davon ausgeht, daß er sie als etwas Bestimmtes, Ruhendes ansieht, deren Entschließungen und Äußerungen von vornherein gegeben sind und nicht wie ihre eigenen erst im Verlauf der Ereignisse geboren werden. Das Kind bittet den Erwachsenen, es betrügt ihn, es widersetzt sich ihm, aber es weiß nichts von seinem Eigenleben. Und man kann, das sei hier vorweggenommen, eine bedeutsame spätere Entwicklungsphase nur verstehen aus dem überwältigenden Eindruck heraus, den der allmähliche Einblick in die Welt des Erwachsenen auf den Heranreifenden macht. »Kinder lieben anfangs ihre Eltern; wenn sie älter werden beurteilen sie sie; bisweilen verzeihen sie ihnen.« (Wilde.4)
Fragen wir weiter: Was weiß der Erwachsene vom Jugendlichen?
Hier ist die Antwort fast noch schwerer zu geben, weil sie auf den inneren Widerstand des Betroffenen stößt: auch die Erwachsenen wissen nämlich sehr wenig von ihren Kindern. Und was noch erschwerend wirkt: sie wissen nicht, daß sie nichts wissen. Es ist oft, als ob die Kinder zwei Leben führten: eins, das vor den Eltern offen liegt, so lückenlos, daß die Eltern gar nicht zu weiteren Nachforschungen angeregt werden; und ein zweites, viel tiefer gehendes, das im Alltag nie bis zu den Eltern reicht. Bricht es doch einmal durch - gewöhnlich aus Anlaß irgendeines Konfliktes in der Schule oder mit Kameraden - dann wollen die Eltern oft gar nicht glauben, daß das ihr Kind

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war, das »so etwas« getan hat. Insbesondere auf dem Gebiete der sexuellen Entwicklung sind Erwachsene oft von rührender Unwissenheit. Das erklärt sich aus einer gewissen Tendenz, die eigenen Jugendfehler zu vergessen und sich damit die wichtigste Quelle der Erkenntnis jugendlicher Probleme - eben die eigene Jugend - zu verlegen.
Schweifen wir kurz zu drei ungeeigneten aber weitverbreiteten Mitteln ab, dieser Unkenntnis nachzuhelfen. Das eine ist die Spionage. Aufgesperrte Laden, geöffnete Briefe sind die traurigen Meilensteine dieses Weges, der unfehlbar dazu führt, daß der Jugendliche voll Haß und Verachtung auf den Moment wartet, wo er sein Eigenleben möglichst weit weg von den Stätten des elterlichen »Interesses« verlegen kann. Das andere Mittel ist die gewaltsame Forderung nach Mitteilungen. Muß über jede Minute Auskunft gegeben werden, dann entwickelt sich mit Notwendigkeit ein System von Lügen, das sich immer dichter zwischen das wahre Leben des Jugendlichen und den Auskunft fordernden Erwachsenen schiebt. Ich würde geradezu von vornherein annehmen, daß jede dauernde Berichterstattung verlogen ist, denn auch beim vollsten Vertrauen kann nicht immer schlechthin berichtet werden, es bedarf oftmals einer gewissen Zeit, bis ein Erlebnis so weit verarbeitet ist, daß man es in Worte kleiden und übermitteln kann. Ein drittes Mittel ist der Versuch, durch eine fiktive, mystische Vorstellung von der Rolle der Eltern Mitteilungen zu erschleichen. In einem blödsinnigen französischen Kinderlied heißt es, daß Mutter alles weiß, weil ihr kleiner Finger es ihr sagt. Dies Mittel macht sich übrigens nach kurzem Gebrauch selbst lächerlich.
Eine weitere Frage: Was erwartet der Jugendliche vom Erwachsenen?
Hier setzt die erste Schwierigkeit des Begreifens ein. Er erwartet nämlich zwei einander ganz entgegengesetzte Dinge, und aus ihrem Gegensatz erklären sich die meisten Generationskonflikte, soweit der Jugendliche an ihnen schuld ist. Einerseits ist es nämlich Hilfe in den verschiedensten Formen, die er braucht, und andererseits ist es Selbständigkeit, freier Raum für die, eigene Entwicklung. Die erwartete Hilfe beginnt beim materiellen Lebensunterhalt und geht bis zur Beratung in den vielen

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schweren Konflikten der Pubertät, die er sich bei irgendwelchen Erwachsenen holen muß. Der geforderte freie Raum bezieht sich oft auf die scheinbar unverständigsten Kleinigkeiten etwa wie: zu Worte kommen, Entscheidungen selbst treffen, über eigene Mittel verfügen wollen usw.
Wie weit ist nun der Erwachsene seiner eigenen seelischen Stellung zur Jugend nach imstande, diese beiden gegensätzlichen Forderungen: Führung und Freiheit zu erfüllen? Oder mit anderen Worten: Was erwartet der Erwachsene vom Jugendlichen?
Man kann das nicht ganz allgemein beantworten, weil ja der Erwachsene zum Unterschied vom Jugendlichen sich durch überlegte Prinzipien leiten lassen kann. Aber wo diese Überlegung nicht sehr weit gedrungen ist - und es ist ja gerade die Aufgabe dieser Zeilen, die Reichweite solcher Überlegungen etwas zu vergrößern - kann man leider recht allgemein sagen: alle Eltern erwarten irgendwie von den Kindern etwas für sich, verwenden sie als Figuren in ihrem eigenen seelischen Schachspiel, als Hilfstruppen in jener einen unheimlichen Partie, die jeder Mensch auf Sein oder Nichtsein mit dem großen Gegner: Minderwertigkeitsgefühl spielt. Ob sie nun von den Kindern erwarten, daß die sie ehren oder erfreuen, ob sie von ihnen das Erringen jener Erfolge erhoffen, die ihnen versagt blieben, immer ist es diese Ich-Bezogenheit, von der jeder Erwachsene Auskunft geben kann, wenn er sich nur einmal ganz ehrlich auf seine Beziehung zu Kindern besinnt.
Damit erklärt sich vieles. Denn die Führung, die aus solcher seelischen Haltung geboren wird, ist nicht die, deren der Jugendliche bedarf; sie geht nicht aus von der Hilfsbedürftigkeit des Kindes, sondern vom Führungswunsch des Erwachsenen, und nur sehr selten treffen sich diese beiden Bedürfnisse auf demselben Gebiet. So sehen wir immer wieder die tragische Erscheinung von jungen Menschen, die »betreut« in allen Dingen, es nur dort nicht sind, wo sie der Stütze am dringendsten bedürfen. Und Freiheit für die jugendliche Entwicklung, auch wenn sie manchmal ungewohnte Formen annimmt, kann der nicht gewähren, für den nicht das Kind, sondern er selbst das eigentliche Problem ist, auch wenn er das hinter tausend Formeln verbirgt.
Vielleicht sind ein paar Worte der Erklärung nötig, warum es

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nicht so sein soll, warum das vierte Gebot nicht diese Auslegung erfahren darf. Nicht weil etwa dadurch irgendein Recht der Jugend angetastet würde; Jugend hat nicht mehr und nicht weniger Rechte als irgendeine andere Gruppe der Gesellschaft. Sondern weil es so nicht geht. Welche Ziele immer man für seine Kinder hat, irgend etwas werden sie einmal in eigener Verantwortung tun müssen; und dieses Selbsthandeln muß rechtzeitig geübt werden, in einem Bereich, wo die Kinder selbst etwas gelten und nicht nur die Person und die Ziele der Eltern. Man kann ihnen den eigenen Bereich für diese Übung verweigern: aber dann schaffen sie sich ihn gegen die Eltern, oft hinter ihrem Rücken, und so entstehen dann die Abirrungen die in milder Form ins Kaffeehaus, oft aber auch viel weiter führen. Wir dürfen also die Jugend nicht erst dazu kommen lassen, ihre besten Kräfte im Kampf um das Betätigungsfeld vergeuden zu müssen, sondern wir wollen ihr rechtzeitig zu eigenen Arbeitsbereichen verhelfen und sie dort ihre volle Kraft einsetzen lassen.
Hier wäre ein Wort zur Psychologie der Erfahrung einzufügen, denn der entscheidende Unterschied zwischen Jungen und Alten liegt im Ausmaß der Erfahrung. Aber diese Erfahrung hat ein doppeltes Gesicht. Sie zu machen erweitert unendlich den Gesichtskreis und bringt das große Erlebnis des Begreifens, aber es engt auch den Aktionskreis ein, macht mutlos, ja manchmal feig, weil es auch die Gefahren und Schwierigkeiten deutlicher zeigt. Liegt die Weisheit des Alters in seiner Erfahrenheit, so die Initiative und das Schöpfertum der Jugend in seiner Erfahrungslosigkeit. Je weniger das Erfahrung-Gewinnen mit Schläge-Bekommen in jedem Sinn verbunden ist, desto ungebrochener wird der Jugendliche »erwachsen«. Wollen wir also dem Kinde den Erfahrungsschatz der Gesellschaft vermitteln, ohne daß es die beim Sammeln der Erfahrung erlittenen Wunden und unsere Müdigkeit mit in Kauf nehmen muß, so kommen wir wieder zu unserer Formel: dem Kinde Führung geben ohne seine Freiheit zu behindern!
So stellt sich uns also das Generationsproblem dar: die Jugend stellt zwei einander fast widersprechende Forderungen, die Erwachsenen sind im allgemeinen aus ihrer eigenen Lage heraus nicht imstande, sie zu erfüllen. Was tun?

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Soll man mit dem Sieg einer Partei rechnen? Es gibt nur Besiegte in diesem Kampf. Gewiß, Kinder unter 14 Jahren sind recht wehrlos gegen Erwachsene; aber schon bald nach der Pubertät, wenn sie ihre eigenen Arbeitsreiche und Umweltverbindungen bekommen, können sie »durchhalten« und mit der ersten ökonomischen Selbständigkeit sind sie frei. Aber auch nicht Sieger. Denn das berühmte »sich durchsetzen«, von dessen erzieherischem Wert manchmal gesprochen wird, hat meist die unheilvollsten seelischen und moralischen Folgen. Denn dieses Kämpfen, dieses Verwenden aller Mittel, zu dem der Schwächere greifen muß, wird leicht Selbstzweck und zerstört alles, was unmittelbar und frei am jungen Menschen ist: er übernimmt dann alles Schlechte, was er am Erwachsenen bekämpft hat, in ihm siegt der andere.
Also kein Ausweg? Doch, und in den letzten Jahrzehnten hat er sich aufgedrängt, als ein Heilmittel in großer Not: die Jugendbewegung.
In den verschiedensten Formen, unter allen möglichen Parolen, oft ohne weitere Begründung haben sich seit Anfang dieses Jahrhunderts in Deutschland und in Österreich Jugendorganisationen gebildet, welche für die beteiligten Jugendlichen wirklich die beiden Forderungen erfüllten, die sie zunächst an das Leben stellen. Intensive Gemeinschaftserlebnisse, Wandern, gemeinsame künstlerische und organisatorische Tätigkeit, Ferienlager usw. sind es, die die Jugendlichen mit ganz großer Kraft an ihre Organisationen binden. Und die Erwachsenen, die dort hineinkommen, wählt der Jugendliche entweder selbst oder sie bieten ihm schon an sich die Führung gerade in den Dingen, die ihm eigentlich am Herzen liegen.
So findet der Jugendliche in der Jugendbewegung nicht nur einen besonders geeigneten Rahmen für seine Probleme, sondern auch die Familie wird dadurch entlastet, es wird ihr dadurch sogar eine neue Rolle zugewiesen, die geeignet ist, den naturnotwendigen Konflikt zwischen Eltern und Kindern zu mildern, ja vielleicht zu beheben. Denn solange sich die Entwicklungsschwierigkeiten des Jugendlichen nur im Hause abspielen, sind sie für den Familienbetrieb und für die einzelnen Familienmitglieder so belastend, daß auch der beste Wille von seiten der Erwach-

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senen nicht immer alle Konfliktsstoffe beseitigen kann: wenn aber die Familie die neue Rolle des Hinterlandes bekommt und die eigentlichen Kämpfe sich anderswo abspielen, dann bedarf es nur einer gewissen Einsicht, um dieser Aufgabe gewachsen zu sein und dadurch ganz neue und sehr segensreiche Formen der Beziehung zwischen Jung und Alt zu schaffen.
Dieser Einsicht allerdings bedarf es durchaus, denn rein mechanisch, bloß durch das Auftauchen der Jugendorganisationen geht die Sache natürlich noch nicht. Im Gegenteil, zunächst werden die Eltern schwerlich bereit sein, ihrerseits die Freiheit und den ökonomischen Teil der Führung beizusteuern und ihren geistigen Teil anderen zu überlassen. Aber während im individuellen Zusammenleben von Eltern und Kindern die seelischen Probleme ohne Schädigung für beide Teile nicht zu lösen sind, kann die Stellung der Erwachsenen zur Jugendbewegung wohl nach Vernunftsgründen bedacht werden.
Und hier darf vielleicht eine langjährige Erfahrung angeführt werden, die im Vermittlerdienst zwischen Jugendbewegung und Elternschaft gewonnen wurde. Immer wieder hat sich folgender Vorgang als der günstigste erwiesen. Die Eltern veranlassen ihre Kinder schon zur Zeit, wo die ersten Konflikte aufzutreten pflegen, also etwa zwischen 10 und 13 Jahren, sich einer Jugendorganisation anzuschließen; damit ist ein erster Gegensatz - die Eroberung der Jugendgemeinschaft gegen die Eltern - ausgeschaltet. Dann warten sie die erste Rauschperiode, die gewöhnlich die ersten Gemeinschaftserlebnisse begleitet, ab. Es stellt sich nämlich nach kurzem heraus, daß die Familie für den Jugendlichen etwas bedeutet, was ihm die Organisation nicht geben kann, ja was ihm eine notwendige Ergänzung dazu ist: einen großen seelischen Kredit, eine Bereitwilligkeit zu warten, bis sich alle Kräfte des Jugendlichen entwickelt haben. Während in der Organisation der Jugendliche seine Stellung nur als Gegengabe für seine Leistung erhält, kann er zu Hause auch dann Rücksicht finden, wenn er noch oder gerade jetzt nichts zu bieten hat. Und so ist die Folge des klugen Zuwartens seitens Vater und Mutter, daß die Kinder nun zu Hause Rat und Hilfe holen für ihre Sorgen. Wenn in diesem Moment nun die Erwachsenen wirklich begreifen, um was es sich handelt, dann haben sie

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die Kinder in einem Maß für sich gewonnen, wie es ohne Einbeziehung dieses eigenen Jugendbereiches nicht oder nur unter den unerträglichsten Opfern der Erwachsenen möglich gewesen wäre.
Die Formen der Jugendbewegung sind so vielfältig, daß es hier gar nicht möglich ist, all den Kombinationen gerecht zu werden, die sich in der Eltern-Kinder-Situation ergeben. Immer aber ist der Tenor der Sache der: je mehr man die Kinder in eigenen Jugendbereichen leben läßt, und je mehr man zu verstehen sucht, was dort vorgeht, um so sicherer werden die Kinder ihre Eltern als Berater brauchen, und um so mehr wird aus dieser Beziehung die Liebe und Achtung erwachsen, die dort, wo Zwang herrscht, höchstens erheuchelt werden kann.
Noch ein Wort über die Verantwortung, die die Eltern mit solchem Vorgehen dabei übernehmen. Sie glauben oft, die Verantwortung für ein Kind nur übernehmen zu können, wenn sie es in jedem Sinn an der Hand halten. Geschieht trotzdem ein Unglück, dann haben sie ihrer Meinung nach »ihre Pflicht getan«. Das ist eine juristische, aber keine menschliche Form der Verantwortung. Von einer solchen kann man nur sprechen, wenn die Atmosphäre und die Beispiele, mit denen man das Kind umgibt, so sind, daß sie wirksam werden, auch wenn man es allein läßt. Hat man einmal die Verantwortung übernommen, Kinder überhaupt in diese von tausend unbekannten Schwierigkeiten erfüllte Welt zu bringen, dann setzt man diese Verantwortung am sinnvollsten fort, wenn man die Kinder das ihrer Entwicklung angepaßte Leben führen läßt und es durch Verständnis und Takt dahin bringt, daß sie bei wirklichen Schwierigkeiten bei uns Rat holen. So wird aus der primitiven Verantwortung für die körperliche Geburt des Kindes die viel größere aber befriedigendere des Begreifens der Wege und Ziele, um die es sich beim Werden eines jungen Menschen handelt. Diese seine seelische Geburt in ihren Anzeichen richtig zu erfassen, müßte für Eltern nicht weniger bedeutsam sein. Eltern, die ihre Zeichen nicht sehen, laufen Gefahr, daß das Wesen, dessen Körper sie geboren und erhalten haben, ihnen verloren geht in dem Augenblick, da der Geist und die Seele in ihm ein- ziehen wollen.

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Es ist die Zeit der Pubertät, das Alter des körperlichen und geistigen Reifwerdens, die darüber entscheidet, ob aus der tierhaften Liebe, die das hilflose Kind für die nährenden und schützenden Eltern hatte, die Verehrung und Freundschaft des selbständigen jungen Menschen für die verstehenden und beratenden Eltern wird.
Alle die Fragen, die das Leben und die Literatur als den Konflikt der Generationen kennen, haben ihre Wurzel in jener Zeit, da die Eltern nicht sahen, daß das Kind eine eigene Persönlichkeit wurde, es anderswo Hilfe und Rat suchen ließen und dann nicht hinnehmen konnten, daß es nicht mehr ihr Kind war, das vor ihnen stand, daß es »undankbar« fremd geworden war.
Nur ein Mittel gibt es, den Eltern diesen Schmerz zu ersparen. Wenn ihnen von allem Anfang an gelungen ist, das Vertrauen ihres Kindes zu gewinnen, wenn es auch in Zeiten der Krise zu ihnen kommt, dann dankt es ihnen auch seine zweite Geburt, und dann erst ist es für immer ihr Kind.
Aber Vertrauen gewinnen ist nicht leicht, zumal es oft - wie wir sehen werden - am Anfang gegen das tiefe Mißtrauen des Kindes gewonnen werden muß. Und deshalb ist Verstehen die Vorbedingung für alles weitere. Verstehen, was im Innern des Kindes vorgeht, ist vielleicht die größte Aufgabe für die Eltern, von ihrer Lösung hängt die Zukunft ihrer Beziehungen zu den Söhnen und Töchtern ab.

2.

Erste Kindheit
Vom Verstehen soll hier die Rede sein. Was man ganz allgemein von der Welt des Kindes weiß, soll hier kurz zusammengefaßt werden. Aber auch wie man versuchen kann, Neues, am eigenen Kind selbst Beobachtetes, zu deuten, wollen wir berühren. Und vor allem einigen Rat geben, wie man einzelnen Gefahren begegnen kann, die immer wieder auftauchen. Dazu einen kurzen Blick werfen auf jene gemachten Entwicklungsschritte, die für die Folgezeit Grundlage und Baumaterial sind. Natürlich sind nicht zwei Lebensgeschichten in völliger Übereinstimmung. Bei aller individuellen Verschiedenheit aber lassen sich doch immer wiederkehrende Stadien, Schritte in der Richtung zum reifen Men-

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schen beobachten, die sich dann im einzelnen, - je nach der Art, in der sie gemacht, gehemmt oder gefördert wurden - auswirken.
Die erste Phase im Gang der Entwicklung stellt das erste Lebensjahr dar, in dem das Kind zum aktiven und zweckmäßigen Gebrauch seiner Sinne, zu einer weitgehenden Körperbeherrschung und zum Verstehen der Erwachsenen kommt. Instinkt und Trieb sind die das Kind beherrschenden Momente.
Die Weiterentwicklung der nächsten Jahre geht in der Weise vor sich, daß die einzelnen Funktionen des Seelenlebens - Wille, Vorstellungsleben, Phantasie, Intellekt - meist im Nach- einander deutliche Entwicklungsschritte machen, so daß sie jeweils eine begrenzte Zeit dem gesamten Erleben und Verhalten des Kindes ihren Stempel aufprägen. Wir finden zwischen 2. und 5. Lebensjahr eine Zeit, da die Willensfunktion sich mächtig entwickelt. Dem Kind fehlen aber die festen Willensziele, es will bald das, bald jenes, meist aber etwas anderes als die Erwachsenen. Es will, nicht um bestimmte Ziele zu erreichen, sondern um zu wollen, jede Möglichkeit zum Wollen wird ausgenützt, jede Anordnung der Erwachsenen bietet dem Kind Gelegenheit, seinen Willen zu betonen. Es ergibt sich eine Periode des Eigensinnes, der Widersetzlichkeit, das erste Trotzalter.1)
Es folgt nun eine Zeit wo das Gesamtverhalten wesentlich von dem sich entwickelnden Vorstellungsleben bestimmt wird. Die Vorstellungstätigkeit ist in dieser Zeit für das Kind besonders lustvoll. Die Trennung zwischen Ich und Umwelt, Wirklichkeit und Schein ist für das Kind noch nicht scharf gezogen. Alles intensiv Erlebte, Gewünschte oder Vorgestellte scheint zur Wirklichkeit zu werden (ein Stück Holz wird zur Puppe, zum Säbel, zur Geige usw.). Stark bedingt und gefördert wird diese von der Wirklichkeit nur wenig beeinflußte Vorstellungstätigkeit (Phantasie) durch die bei den Kindern häufige eidetische Anlage. Eidetisch sein bedeutet die Fähigkeit, Erinnerungsbilder von besonderer Lebhaftigkeit und Anschaulichkeit zu erzeugen, von einer Lebhaftigkeit, die der Wirklichkeit sehr nahekommt. Das alles führt zu den bekannten Phantastereien des Kindes in seinen Erzählungen, in seinem Spiel, es bedingt das große Interesse am

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Märchen, es läßt eine von der wirklichen merklich verschiedene »Kinderwelt« erstehen, die dem Kind aber Wirklichkeit ist, das Kind stark leitet. Diese Kinderwelt muß allmählich umgestaltet werden zur Welt des Erwachsenen.
Einen Schritt in dieser Richtung bedeutet es, wenn diese phantasiebeherrschte Periode von einer Phase abgelöst wird, in der ein intellektuelles Moment im Vordergrunde steht, wo das Kind darauf ausgeht, Kenntnisse und Erkenntnisse zu sammeln. Es ist das Zeitalter der Warumfrage, das so manchen Erwachsenen nervös macht. Eine Zeit, in der der Wirklichkeitssinn sich wieder durchsetzt und das Bestreben herrscht, die Wirklichkeit richtig zu verstehen und zu erkennen, Grund und Ursache für alles in der Welt zu finden.
Das sind im wesentlichen, kurz und grob, die Perioden, die den Grund legen für die Welt des Jugendlichen. Viele und verschiedene Kräfte, Baumaterialien, bauen diese neue Welt auf. Beim Jugendlichen ist die Verschiedenheit des Weltbildes nach den Geschlechtern ja reichlich bekannt. Wir sahen aber schon viel früher Entwicklungsverschiedenheiten, auf sie wollen wir jetzt hinweisen.

a) Die Welt der Knaben


Bei den Knaben sahen wir vor allem ein entscheidendes, neues Moment, das dem folgenden Lebensabschnitt, der etwa 4 bis 5 Jahre dauert, einen ganz bestimmten Grundton gibt; dieses Moment ist die Steigerung der Körperkraft.1)
Die Natur speichert in dieser Zeit im Kind Körperkräfte auf, die erst in späteren Jahren bei dem Prozeß der körperlichen Geschlechtsreifung und gleichzeitigem Längenwachstum verbraucht werden. Diese zunächst überschüssige Körperkraft fühlt der Knabe nur zu deutlich, ja sie beherrscht ihn vielfach, wie es früher etwa der Wille getan oder die Phantasie. Sie drängt nach außen und zeigt sich da in der hinreichend bekannten Wildheit, Derbheit, in Rauflust und Kraftmeierei. Die aufgespeicherte Kraft zwingt den Buben zur Aktivität, zum Tun, es ist ihm natürlichstes Bedürfnis. Welchen Effekt dies Tun

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außer der Möglichkeit Kraft zu zeigen hat, interessiert wenig. Wer imponieren will, muß über Kraft, Mut und »gute Nerven« verfügen. Alles andere wird unter dem Einfluß der vorherrschenden Körperkraft als minderwertig abgelehnt; dies nicht nur, wenn es sich um Kameraden handelt, sondern auch bei Erwachsenen, die durch ihre Ängstlichkeit, Empfindlichkeit, Nervosität, den Eindruck der Kraftlosigkeit machen. Diese gesunden kraftstrotzenden Buben können einfach nicht verstehen, wie der Erwachsene durch ein einfaches Fußballspiel mit einer Blechdose oder durch das Zuschlagen von Türen oder das »etwas lautere« Sprechen (Brüllen würde der Erwachsene sagen) sich gestört fühlen kann, oder wie man so feig sein kann, und 10 m vor einem Auto stehen bleiben, statt im letzten Moment noch vorbeizulaufen, wie man zitternd und angstrufend unter einem Baum sitzen kann, auf den ein fescher Bub selbstverständlich und ohne irgendein Angstgefühl klettert usw. Daß das die ganze Stellung des Buben zu den betreffenden Erwachsenen verändert, ist klar. Das Prestige des Erwachsenen, seine Autorität sind damit zu einem guten Teil vernichtet, der Bub wendet sich von ihnen ab - oder er verwendet seine neue Kraft, um seine Überlegenheit entsprechend zu betonen. Das führt dann nicht nur zur verächtlichen Trennung von dem Erwachsenen, sondern zum Kampf, in dem für den Erwachsenen die Chancen für einen ehrenvollen Frieden nur sehr gering sind.
Auf dieses körperliche Kraftbewußtsein baut sich nun ein entsprechend starkes Selbstbewußtsein auf, das im Vollgefühl seiner Kraft nach Freiheit und Selbständigkeit verlangt, das seinen eigenen Willen entdeckt und auch deutlich betont. Dieser Wille ist zunächst durchaus nicht auf feste Ziele gerichtet oder auch nur stark wirklichkeitsgebunden. Wenn auch das Interesse an den Phantasiegestalten des Märchens deutlich schwindet, die von der Wirklichkeit abschweifende Phantasie bleibt rege, wendet sich anderen Figuren, anderem Ziele zu.
Was sind nun die Ziele, die Ideale des Knaben und woher kommen sie ihm? Das eine ist zunächst sicher, daß ein reizvolles Ziel Kraft und Mut fordern muß. Zum anderen kommt aber eine Orientierung an den Erwachsenen mit dazu; man will es dem Erwachsenen gleichtun, ebenso tüchtig und brauchbar sein;

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das Selbstbewußtsein will keinen Abstand vom Erwachsenen her mehr haben. Nicht wie das Kind will sich der Knabe an den Figuren des Märchens erfreuen, er will etwas leisten. Tüchtigkeit und Geschicklichkeit werden die neuen idealen Forderungen. Nehmen wir dazu die noch immer rege Phantasie, dann verstehen wir die Ideale des Knaben: Robinson5 und den Indianer. Das sind Figuren voll von Kraft, Mut, Tüchtigkeit, Schlauheit, Figuren, die so weit ab vom Alltag sind, daß die Phantasie in jeder beliebigen Weise ansetzen kann. Aus dieser Quelle kommt zum wesentlichen Teil die Indianer-Romantik im Spiel mit Zeltlager und Abhärtung und die Begeisterung für die Bücher von Karl May.6
Nicht immer bleiben die Bestrebungen im Rahmen der Phantasiebetätigung, dies namentlich dann nicht, wenn das Ausleben dieser natürlichen Tendenzen im Knaben gehemmt oder unterdrückt wird. Dann brechen die Triebe eben stellenweise mit ungeahnter Kraft durch. Wir kennen die jugendlichen Ausreißer, die ohne die geringste Orts- und Sachkenntnis die Welt durchwandern wollen und Abenteuer suchen. Sie wollen die Welt ihres Erlebens in der Wirklichkeit wiederfinden, sie glauben an die Wirklichkeit dieser Welt. - Was Wunder, wenn sie ihr nachstreben, namentlich dann, wenn die Erwachsenen dies Reich des Erlebens und den Knaben dazu verlachen, ihm ihre Welt aufzwingen wollen. Nicht Schlechtigkeit und Dummheit treiben die Buben in solch abenteuerliche Reisen, sondern ihr naturbedingter Entwicklungszustand und vielfach auch verständnislose Erwachsene.
Das reine Robinson- und Indianer-Ideal wird mit der Zeit verändert, wenn auch nicht wesentlich. An Stelle dieser für den Knaben reinen Phantasie-Gestalten treten neben die Helden der Sage die der Geschichte und mit dem Anwachsen realer, namentlich technischer Interessen auch heldenhafte Forscher, Erfinder, Entdecker. Sie üben dann wesentlichen Einfluß auf die Gestaltung der Welt des Knaben. Ihre Gesetze, ihre Taten, ihre persönliche Art übernimmt der Knabe, sie gelten ihm mehr als die banalen, mit seiner Einstellung unvereinbaren Forderungen des Alltags, der Schule, der Eltern usw. Nur das Große, Heldenhafte lockt ihn, an ihm mißt er alle Welt.

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Die Phantasie bleibt aber nicht durchwegs in dominierender Stellung. An vielen Stellen weicht sie einer realen Lebensbetrachtung, einer Einstellung, die mit vielfach scharfer Beobachtung der Umwelt beginnt, sich gleichermaßen technischen Einrichtungen wie auch Menschen und ihrem Verhalten zuwendet. Nützlichkeitsfanatismus und Kritik am Erwachsenen sind häufige Ergebnisse dieser Einstellung. Wir kennen das Interesse für Basteln, Matador, Elektrotechnik u.ä., das etwa nach dem zehnten Lebensjahr die Buben stark erfüllt. Sie wollen alles verbessern, erneuern, und sie fühlen sich fähig dazu.
Diese heldenhafte Welt des Knaben ist aber keineswegs Dauerzustand. Etwa mit dem 13. Lebensjahr beginnt beim Buben der Prozeß der körperlichen Geschlechtsreifung. Ein ziemlich rasch einsetzendes Längewachstum verbraucht einen Großteil der im Knaben gespeicherten Körperkräfte. Wir kennen die aufgeschossenen, bleichen Gestalten, im Alter etwa zwischen 13 und 16 Jahren, die durch den Umgestaltungsprozeß im Gegensatz zu den Jahren vorher durchaus nicht Kraftprotzen sind, sondern vielfach sogar Schwächlinge. Der ehedem so frische, wilde Junge verliert die Lust am Raufen und Tollen, wird matt, seine Leistungsfähigkeit läßt merklich nach. Der Knabe fühlt das mehr oder weniger deutlich und ist gestört dadurch. Er zieht sich von den anderen zurück, wird vielfach mürrisch, gereizt, launenhaft, traumverloren; es fehlt ihm die Kraft und Lust zu aktivem Tun, zur Arbeit, das starke Lebensgefühl, die positive Einstellung zum Leben von einst scheint unwiederbringlich verloren, Schlechte Leistungen, sei es in der Schule oder bei der Arbeit, und ihre verständnislose Behandlung durch Erwachsene verstärken diesen Zustand des Gedrücktseins vielfach bis zum trostlosen Pessimismus, und nicht wenige der Schülerselbstmorde haben ihren Grund in dieser seelischen Verfassung oder vielleicht richtiger: in der verständnislosen Art des Erwachsenen, diese Zeit der naturnotwendigen Schwäche und Leistungsbehinderung zu beurteilen, wodurch die an sich schon quälende Zeit noch unerträglicher gemacht wird. - Der Junge fühlt sich in dieser Zeit, da er seiner Umgebung Ärger bereitet, selbst sehr unwohl und elend, ist mit sich selbst unzufrieden, ein Zustand, der doch viel mehr der Hilfe bedarf als der Kritik. Es ist so

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bequem, hier vom dummen Jungen und seinen verrückten Ideen Zu reden, die man ihm austreiben muß! Mehr denn je zuvor braucht der Junge jetzt den wirklich reifen und verstehenden Menschen, um von dieser qualvollen Depression sich allmählich wieder durchzuringen zu einer Lebensbejahung, zu Mut und Arbeitsfreude.
Im natürlichen Verlauf der Entwicklung setzt sich ja die lebensbejahende Einstellung wieder durch. Kraft und Selbstsicherheit kehren wieder, neue Ziele, lebensnähere Ideale als die der Zwölfjährigen treten auf, Zurückgezogenheit und Einsamkeit werden aufgegeben, Menschen werden gesucht, heftig gesucht. Der Weg, der dahin führt, daß sich der Junge allmählich in positiver Einstellung unter die Erwachsenen reiht, sich dem reifen Leben einfügt, ist gewonnen.
Bevor wir den Knaben nun in diese neue Welt begleiten, wollen wir rückblickend betrachten, wie denn seine Einstellung zum gleichaltrigen Kameraden verlaufen ist.
Schon beim Kleinkind sehen wir deutliches Interesse an Geselligkeit; sie ist dem Alleinsein gegenüber in der Regel bevorzugt, wobei es ziemlich gleichgültig bleibt, wer das Gegenüber ist. Die bloße Gegenwart von menschlichen Wesen genügt oft schon, um Freude oder Befriedigung auszulösen. Für die Jüngsten ist der andere im wesentlichen eine besonders günstige Gelegenheit zu Spiel und sonstigem Tun. Auf die persönlichen Eigenschaften und Fähigkeiten kommt es nicht so sehr an. Gewiß gibt es auch hier schon vereinzelt persönliche Beziehungen, Freundschaften, aber sie sind selten. Dauerbeziehungen zwischen Kindern oder bei Gruppen fehlen noch fast völlig, die Gruppen wechseln immer wieder ihre Zusammensetzung.
Anders wird das im typischen Knabenalter, also etwa zwischen 8 und 13 Jahren. Das Bedürfnis nach Geselligkeit ist auch hier rege. Es zeigen sich aber schon deutlich bestimmte Gesichtspunkte für die Auswahl von Kameraden wirksam. Es schließt sich jeder nicht mehr wahllos überall an, sondern nur dort, wo seinen schon mehr oder weniger differenzierten Wünschen, Interessen und Fähigkeiten die beste Befriedigungsmöglichkeit gegeben scheint. Es wird auch nicht jeder in jede Gesellschaft mehr zugelassen. Wir sehen bei der immerhin großen Überein-

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stimmung der Hauptzüge dieses Alters doch recht verschiedene Formen, in denen sich die Grundtendenz ausleben kann. Wenn für den einen das Fußballspiel der höchste der Genüsse ist, kann es für den anderen das Wandern sein oder das Basteln oder das Sammeln oder das Lesen, usw. Es ist ziemlich verständlich, daß beispielsweise der Briefmarkensammler bei dem begeisterten Fußballspieler wenig Anklang finden wird. Wir sehen also als einen ersten Faktor im geselligen Leben des Knaben die Verschiedenheit der aktuellen Interessen; durch ihn entstehen Gruppen von Gleichinteressierten. Dies gleiche Interesse ist ein wesentlicher Grund für die längere Dauer dieser Gruppen, die nun nicht mehr täglich oder stündlich anders zusammengesetzt sind wie im Kleinkindalter, sondern Monate und Jahre fortdauern können. Die wahllosen »Rudelfreundschaften« der Fünf- bis Siebenjährigen verwandeln sich also in Interessengruppen.
Wenn sich so etwa eine Gruppe beim Fußballspiel sehr gut verträgt und immer wieder zusammenkommt, bedeutet das aber noch keineswegs, daß die Kinder persönliche Freunde sind. Sie sind nicht als ganze Menschen einander zugewendet, sondern wesentlich als Fußballspieler. Was sie außerdem noch leisten ist dabei nicht von großer Bedeutung. Innerhalb einer solchen Gruppe genießt im allgemeinen der vielseitig tüchtigere die größere Achtung und den größeren Einfluß, sofern er imstande ist, das Tun der anderen erfolgreich zu organisieren. Der Tüchtigste, der Leistungsfähigste ist der natürliche Führer, er imponiert und weckt, wie jedes »großes Vorbild«, Nacheiferung oder führt zur Konkurrenz, zum Ringen um Überlegenheit. Tatsächlich finden wir in einem Großteil all dieser Gruppierungen dieses Rivalitätsmoment durchaus deutlich ausgeprägt. Als Wertmaß für die Leistungen gelten naturgemäß die im Knaben lebendigen Werte: Kraft, Mut, Ausdauer, Schlauheit usw. Der Feigling wird entweder ausgestoßen oder so lange verlacht, bis er sich wieder als würdig erwiesen hat. Und was fürchtet ein Junge mehr als das verächtliche Urteil: Feigling, Schwächling! Ehe er das auf sich nimmt, wagt er es mit den Gesetzen aus dem Reiche der Erwachsenen in Konflikt zu geraten. Wenn - wie es in der Großstadt ja vielfach der Fall ist - den auf Straßen und Plätzen lebenden Gruppen und Banden keine andere Mög-

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lichkeit, Mut und Schlauheit zu beweisen, gegeben scheint, dann gehen sie eben stehlen. Es ist ihnen dabei gar nicht um die Beute zu tun, sondern wesentlich um zwei ganz andere Dinge: einmal um das Erleben der Gefahr und zum anderen, um die Wirkung des Starken, des Mutigen zu erzeugen, sie zu genießen und damit seinen sozialen Wert zu erhöhen. Es ist verständlich, daß die Buben bei derartigen Gesellschaften die Mädchen nicht brauchen können, sie sind nicht tüchtig und mutig genug, sie werden verächtlich beiseite gelassen.
Die meisten dieser Verbände kommen aber gar nicht bis zum Bandenwesen, sie haben weniger polizeiwidrige Betätigungsfelder gewählt, die jedoch immer noch imstande sind, das helle Entsetzen der Erwachsenen hervorzurufen. Es sind aber keineswegs Ausbrüche von Verdorbenheit, sondern es ist ungeleiteter Kraftüberschuß, ungeleitete Romantik, die das Verhalten veranlassen. Dementsprechend wird der Erwachsene sich zweckmäßig bemühen müssen, den freien Kräften richtige Ziele zu setzen, nicht aber die Verdorbenheit der Jugend festzustellen oder zu verlangen, daß sich die Buben wie ideale Erwachsene verhalten.
Die kritische Auseinandersetzung mit den Erwachsenen ist in der Regel dadurch veranlaßt, daß der Knabe bei der genaueren Beobachtung der Erwachsenen zunächst einen Widerspruch zwischen ihrem Fordern und ihrem Tun bemerkt, dann aber auch die Erfahrung macht, daß der Erwachsene ja gar nicht das Leben so beherrscht, wie es zunächst schien; dadurch sinkt er mächtig in der Wertschätzung und Achtung des Knaben, der sich in seinem Selbstbewußtsein dem Erwachsenen mindest gleichwertig fühlt, wenn nicht sogar überlegen. Dies führt nicht selten zu einem stolzen Abwenden von dem enttäuschenden Erwachsenen, denn was dieser Lebensklugheit und Vorsicht heißt, empfindet der Knabe als verächtliche Feigheit und Schwäche. Dagegen finden wir zu dieser Zeit oft - wenigstens theoretisch! - die Forderung nach strengster Sitte, nach sittlichem Heldentum. »Lieber der Tod als eine Lüge!« und ähnliches fordert der Bub ganz ernsthaft.
Die der Knabenzeit folgenden Jahre mit der körperlichen Weiterentwicklung und der Schwäche bedingen auch das geringere Interesse an Geselligkeit, ja ihre zeitweilige Ablehnung.

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Erst wenn die positive Einstellung wiedergewonnen ist, schießt plötzlich wieder die Freude und das Interesse an der Gesellschaft ein. Das persönliche Moment tritt immer mehr in den Vordergrund, der Kreis der freigewählten Gesellschaft wird immer enger; bis er nach mehr oder weniger langem Suchen das liebenswerte und geliebte Gegenüber gebracht hat.
Neben diesen Gesellschaften auf der Basis des gleichen Interesses gewinnen jetzt auch die Beziehungen persönlicher Art gegenüber den früheren Jahren größere Bedeutung. Diese persönliche Bindung ist die nachhaltigere und die tiefere, sie umfaßt auch selten mehr als 2 bis 3 Buben, während die anderen Gruppen doch häufig 6, 8, 10 und mehr umfassen. Freundschaft bedeutet starke Gefühlsverbundenheit. Dementsprechend ist es auch nicht notwendig, daß die Freunde gleiche Leistungsfähigkeit, gleiche Hauptinteressengebiete haben.
Entscheidend für die weitere Stellung zur Welt aber ist ein Entwicklungsschritt, den der junge Mensch etwa nach dem 12. Lebensjahr macht. Es ist jene Situation, die als Ichfindung bezeichnet wird, sie bringt gleichzeitig ein wesentliches Moment jener inneren Reifungszeit mit sich, die wir als Pubertät kennen, die in inniger Verbindung mit der physiologischen Geschlechtsreifung steht und vollzieht im Seelischen im wesentlichen jene Umstellung, die den Knaben vom jungen Mann unterscheidet. Neue Erkenntnisse, neue Werte bedingen ein verändertes Weltbild. So ist das Erleben des eigenen Ich, des eigenen Seelenlebens in seiner Eigenheit, in seiner Abgegrenztheit gegen die andern ein stark wirkendes Moment. Der Realist, der Erfolgs- und Leistungsverehrer wendet sich von den »äußeren« Dingen ab und stellt nun das Innenleben in den Vordergrund. Damit ergibt sich nicht nur eine Abwendung von den Dingen der Umwelt, sondern auch von den Menschen, die so häufig das Innenleben verständnislos stören oder mißachten. Die Abwendung von der Welt bringt das Erlebnis der Einsamkeit mit sich und auch das Bewußtsein der »Minderwertigkeit« der Welt. Beides erzeugt tiefe Unbefriedigung, Sehnsucht nach Neuern, Großem, Schönem; dazu kommt vielfach noch das Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit, Mangel an Vertrauen zu sich und den anderen - der Weltschmerz des jungen Menschen wird zu einer beherrschenden

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Macht. Die ganze Welt wird von innen heraus, aus dem Eigenerleben zu verstehen, aufzubauen versucht, in der eigenen Seele werden die Gesetze gefunden, nach denen die Welt geregelt sein sollte. Viel von jugendlicher Überspannung und Mißachtung von Gesetzen ist daraus zu verstehen.
Erst allmählich kommt es dazu, daß die realen Notwendigkeiten des Lebens wieder mitberücksichtigt werden. Praktische Erfahrungen einerseits und reifere Einsicht in den Zusammenhang der Dinge anderseits führen zu einem richtigeren Verstehen der Welt bis schließlich aus dem mehr oder weniger routinemäßigen technischen Erfassen von häufig wiederkehrenden Situationen ein organisches Verstehen wird, das nicht mehr nur einseitiges Berücksichtigen irgendeiner Faktorengruppe eines bestimmten Ideals ist, sondern ein allseitiges und richtiges Mitberücksichtigen aller Faktoren. Damit ist nun erst die Möglichkeit einer wirklichen Erkenntnis der Gesetze im Leben gegeben. Der weitere Gesichtskreis, den die natürliche Entwicklung mit sich bringt, führt nun auch dazu, daß die Dinge der »kleinen Welt« des Alltags an Bedeutung verlieren und ersetzt werden durch das Interesse an der »großen Welt«, den größeren sozialen Verbänden, in die die jungen Menschen hineinwachsen. Als typisch neue Interessen finden wir das Interesse an den »Welträtseln«, am politischen Leben und an all den großen Zusammenhängen des Lebens. Daneben aber auch gleichzeitig eine Vertiefung des Verstehens - namentlich im Alltag - durch das Miterfassen der nicht klar und direkt zutage liegenden Motive, der psychologisch bedeutsamen Hintergründe und all jener Motive, die dem Buben zumindest nicht bewußt wurden. Und damit ist er nun in jenem Stadium, das ihm eine richtige Orientierung in der Welt ermöglicht.

b) Die Welt der Mädchen


Andere biologische und andere soziologische Bedingungen gelten für das Mädchen. Das führt dazu, daß sich beim Mädchen ein anderer Entwicklungsrhythmus und ein anderes Entwicklungstempo zeigen wie auch dazu, daß die Mädchen unter dem Eindruck der gerade für sie wirksamen sozialen Einflüsse in ganz bestimmte Entwicklungsrichtungen gedrängt werden, eine

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Richtung, die den Burschen gegenüber, auch heute noch zumindest teilweise ein Mehr an Unterdrückung der geraden Entwicklung bedeutet.
Von diesem Punkt aus muß man die entscheidende Entwicklung der Mädchen betrachten. Das Männliche in jeder Form gilt als das Positive. Wo die kleinen Mädchen noch nicht selbst Blick genug haben für diese Eigenart unserer Kultur, tut eine unvernünftige Erziehung das ihre, um ihnen das »richtige« Weltbild zu vermitteln. Das »Wärst du nur ein Bub geworden« der Mütter hat eine viel ernstere Bedeutung für die ganze Entwicklung, als man gemeinhin annimmt. Es ist erschreckend, wie klar den Kindern der angebliche Wertunterschied zwischen den Geschlechtern dadurch wird. Wenn man kleine Mädchen fragt: »Was willst du lieber sein, ein Bub oder ein Mädel«, so bekommt man meistens die sehnsuchtsvolle Antwort: Ein Bub. Und wenn man an einen kleinen Buben dieselbe Frage richtet, so ist er ganz beleidigt über die bloße Zumutung, er könnte ein Mädchen sein. Muß man da noch ausdrücklich betonen, daß diese Fragen nicht gestellt werden dürfen, daß das unsinnige Bedauern über das Geschlecht des Kindes, wenn die Eltern sich schon nicht von ihm freimachen können, dem Bewußtsein des Kindes sorgfältig ferngehalten werden muß. Nie darf dem Buben gesagt werden: »Wein nicht, du bist doch kein Mädchen«, und nie dem Mädchen: »So etwas würde ein Bub nicht tun.« So lang dies aber geschieht, muß man die meisten besonderen Eigenarten der weiblichen Entwicklung als die Entwicklung von Kampfmitteln gegen diese Ungerechtigkeit in der Welt begreifen.
Wir müssen nun über zwei Phasen sprechen, die für die Mädchenentwicklung so charakteristisch sind, daß man bei keiner Erziehungsmaßnahme an ihnen vorübergehen kann. Etwa mit 11-12 Jahren geraten alle Mädchen irgendwie in eine sogenannte negative Phase.1) Sie ist gekennzeichnet durch die ablehnende Haltung gegenüber der Realität. Die Mädchen verlieren jede Arbeitslust, jeden Lebensmut; die ganze Welt erscheint ihnen trostlos und banal. Haben sie vorher Tagebücher geschrieben oder andere Ausdrucksmittel gehabt, dann versiegt das jetzt alles, jede innere und jede soziale Produktion hört auf. Mit dem

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ersten Einsetzen der Geschlechtsreife klingt diese Phase meist ab. Wenn aber die Außenwelt nicht Rücksicht auf sie nimmt, dann können gerade in ihr schwerwiegende Konflikte entstehen. Das Einsetzen der Geschlechtsreife, das den Mädchen durch die erste Menstruation zum vollen Bewußtsein kommt, ist von allergrößter Bedeutung. Nicht nur rein äußerlich, wie es allgemein angenommen wird, sondern überhaupt für die Entwicklung der Persönlichkeit. Hier erlebt das Mädchen den unmittelbaren Ausdruck der »Schwäche des Weibes« und orientiert alle ihre Hilfsmittel an der Art ihres ersten Erlebnisses.
Wir wollen hier nicht über das Problem der sexuellen Aufklärung und Entwicklung sprechen, das geschieht an anderer Stelle dieses Buches, wir wollen aber nachdrücklich darauf verweisen, wieviel in diesem Moment über die kommende Beziehung zwischen Mutter und Tochter entschieden wird. Für viele Mütter ist die Vorbereitung der Tochter zur einsetzenden geschlechtlichen Reife eine Quelle des Unbehagens, ja der Scham. Es kommt ihnen wie eine Erniedrigung vor, der Tochter die Gemeinschaft in der weiblichen Geschlechtsrolle zuzugestehen, und viele Mütter sind verantwortungslos genug, aus diesen Gründen ihr Kind überhaupt nicht vorzubereiten. Das Mädchen verschafft sich das notwendige Wissen dann notgedrungen auf anderem Wege; die Aufklärung durch die Gasse oder durch Kolleginnen ist dann allerdings oft geeignet, dem Kind eine tiefe Abneigung gegen seine Geschlechtsrolle zu erwecken, die sich oftmals nur allzu leicht auch auf die Eltern überträgt. Hat das Kind aber nicht verstanden, sich Aufklärungen zu verschaffen, dann verwindet es niemals den Haß gegen die wissende Umgebung, die es in Unwissenheit gelassen, und vielleicht gar den peinlichsten Situationen ausgesetzt hat.
Aber nicht nur die Mutter steht hier in Frage; auch das Verhalten des Vaters und der Brüder in diesen Situationen kann zum Bild werden, nach dem sich das Mädchen seine ersten Vorstellungen von den Beziehungen der Geschlechter formt. Sind die Buben zu Hause rücksichtslos oder nur einfach aus eigener Unwissenheit hilflos in diesen Dingen, dann ist für das Mädchen ein grundlegendes Argument für seine aussichtslose Lage gegeben. Es ist eine wesentliche und viel zu wenig beachtete Forderung einer ver-

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nünftigen Erziehung, daß die Knaben in die Aufklärung über diese Fragen einbezogen werden. Eltern, die sich nicht entschließen können, ihre Kinder, ob Buben oder Mädel, selbst mit diesen Dingen vertraut zu machen, sollten es nicht versäumen, Freunden, Lehrern oder Beratungsstellen planmäßig diese Aufgabe anzuvertrauen. Nur dann werden sie einmal vor der rückblickenden Kritik ihrer Kinder bestehen können. Vor allem aber gilt auch hier, was schon an anderer Stelle gesagt wurde: niemals die eigenen Probleme zur Richtschnur des Verhaltens gegen Kinder machen. Die typische Situation zum Beispiel, daß ein Vater aus eigenen unseligen Erlebnissen heraus die Geschlechtsprobleme der Frau als peinlich empfindet und sie deshalb mit einem Tabu belegt, das heißt jede Erwähnung der damit zusammenhängenden Fragen im Familienkreis verhindert, ist kein unwesentlicher Beitrag zum Gefühl des Mädchens, dauernd in einer unwürdigen Stellung zu leben.
Ist die Unmittelbarkeit dieses ersten Geschlechtserlebnisses ein wenig überwunden, dann treten die Mädchen in die zweite, die »Schwarmphase« ein; sie wenden sich wiederum der Außenwelt zu und suchen dort einen Ersatz für die dunklen Erlebnisse der vorangegangenen Zeit. Das Bedürfnis nach Verehrungswürdigem, als edel Empfindbarem, im Gegensatz zur eigenen Dunkelheit Stehendem macht sich in dem bekannten Phänomen des Schwärmens Luft. Gegenstand dieser oft beschriebenen Schwärmereien sind gewöhnlich Lehrerinnen und Lehrer, ältere Kolleginnen, hie und da auch gleichaltrige. Mit allen Übertriebenheiten, allem Gefühlsüberschwung, allen wechselnden Stimmungen wird diese Zeit intensiverlebt. »Backfisch« sagt der Erwachsene wegwerfend; die Mädchen sind empört über die Beleidigung. Sie empfinden diese Zeit als etwas so Selbstverständliches, trotz ihrer Außergewöhnlichkeit, daß sie die Kritik gar nicht begreifen. Aber nicht nur Rücksicht auf diese Erlebnisform müssen wir hier verlangen, die Sache ist vielmehr auch für das Objekt eines solchen Schwarms von viel ernsterer Bedeutung und sollte viel allgemeiner erwogen werden, denn wer ist nicht auch einmal Gegenstand eines solchen Mädchenerlebnisses. Man darf dann nicht einfach seinem eigenen Bedürfnis, sich großartig zu fühlen, nachgeben; man hat eine große sachliche und persönliche

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Verantwortung. Einerseits bilden ja die Mädchen in dieser Zeit nach dem Vorbild ihrer Liebe ihre ersten ästhetischen, intellektuellen und persönlichen Werturteile, und es dauert oft Jahre, ehe sie sich durch eigene Erfahrung und Überlegung neue, wenn notwendig bessere Urteile bilden können. Andererseits aber darf das Schwärmen nur eine vorübergehende Phase sein, wenn es sich nicht zu einer dauernden Unselbständigkeit und Unsachlichkeit versteifen soll. Die Ablösung vom Schwarm geschieht nicht immer leicht und schmerzlos, und hier sind vor allem hohe Anforderungen an die Verantwortlichkeit des Erwachsenen gestellt. Man gewinnt oft selbst einen solchen jungen Menschen sehr lieb und muß sich trotzdem freuen, wenn er wieder zu sich und der Realität zurückfindet, auch wenn man sich selbst dann einsam fühlt.
Es ist zunächst nicht sehr verlockend für die Mädchen, in diese Wirklichkeit zurückzukehren, denn dort erwarten sie ja, wie wir schon wissen, schwierige Fragen. Eine ihrer verbreitetsten Formen ist die häusliche Arbeit. Kaum eine Fanlilie gibt es, in der nicht die Hilfe des jungen Mädchens angesprochen wird. Sehr gut, wenn sich dieser Anspruch auf ökonomischen Bedarf gründet und auf alle Familienmitglieder ausgedehnt wird. Sehr schlimm aber, wenn es auf eine Mißachtung der übrigen Arbeit des Mädchens zurückgeht und sich auf das Mädchen beschränkt. Es ist. nichts erbitternder, als wenn Bruder und Schwester am Mittag aus der Schule nach Hause kommen und der Bub mit dem Vater die Tagesereignisse bespricht, während das Mädchen helfen muß, das Mittagessen aufzutragen. Es ist gewiß nicht leicht, die Machtverteilung zwischen Mann und Frau, die der alten Generation noch geläufig ist, abzuändern, aber es muß im Interesse einer vernünftigen Erziehung geschehen. Und da in der großen Mehrzahl der Fälle die Familie auf die häusliche Mitarbeit der Kinder nicht verzichten kann, so muß sie unter allen Umständen Knaben und Mädchen gemeinsam dazu heranziehen.
Aber damit sind immer noch erst nur die Voraussetzungen für eine Bewährung in der Wirklichkeit geschaffen. Zwei schlimme Möglichkeiten, die sich dem Mädchen bieten, können sie noch hindern. Die eine ist die, daß das Mädchen den Protest gegen sein Geschlecht, der ihm als Kind schon geläufig war, nun auch

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in die Arbeit des Jugendlichen hinübernimmt: Es wird ein Blaustrumpf. Die größte Brille, die häßlichsten Kleider, die ungepflegtesten Haare sind gerade gut genug, um den Trugschluß zu ermöglichen: Buben sind begabt, Buben sind keine Mädchen, wenn ich kein Mädchen bin, bin ich begabt. Der andere Weg ist nicht weniger unselig. Man versucht die Werte, denen man nicht genügen zu können glaubt, zu Fall zu bringen. Alles wird außer acht gelassen zugunsten rein erotischer Wirkungsmöglichkeiten, das »Weibchen« entsteht, das nur mehr die eine Hoffnung hat, durch irgendwelche oft komisch undurchdachte und unwirksame Verführungsmittel Anteil an der Welt der Männer zu gewinnen.
Und zwischen diesen beiden Gefahren soll nun der Erzieher dem Mädchen auf der Suche nach dem rechten Weg durchhelfen. Die schwierigste Frage, auf die er dabei stößt, ist die der Mädchengemeinschaften, denn nur in Gemeinschaft kann gearbeitet werden. Immer wieder wird behauptet, daß Mädchen unfähig zur Gemeinschaftsbildung sind. Das liegt aber nicht an den Mädchen, sondern an der Welt, in der sie leben. Solange Mädchensein kein Eigenwert ist, kann es auch keinen Mädchenbund geben; er muß immer wieder durchbrochen werden durch den Konkurrenzkampf um die vermeintlich wirklichen Werte, die außen liegen. Jeder Weg hinüber in die wirkliche Welt, in die der Männer, wird mit Begeisterung ergriffen. Um Himmels willen, nur nicht den Anschluß an das Leben verpassen! Jede, die der Freundschaft eines männlichen Wesen gewürdigt wird, ist mit Leidenschaft dabei, alles stehen und liegen zu lassen, denn jeder Furchtsame und Unsichere ist im Grunde seines Herzens ein Verräter. Hier muß der Versuch des Erziehers einsetzen, dem Mädchen Gemeinschaftsformen schaffen zu helfen, die weder Kaffeeklatsch noch moderne Tanzstunde sind. Die Erfahrungen auf diesem Gebiet sind noch klein, es läßt sich fast nicht viel mehr als das Aussprechen der Aufgabe dazu sagen, aber auch das wird schon manchen Vater und mancher Mutter selbst Erlebtes und selbst Gesehenes in neuern Zusammenhang zeigen.
Aber natürlich ist damit nicht gemeint, daß jetzt die Mädchen von den Knaben abgesperrt werden sollen. Im Gegenteil, die Mädchengemeinschaft soll ja nur das natürliche Hinterland sein,

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durch das die Stellung der Mädchen in der zweigeschlechtlichen Jugendgemeinschaft gesichert wird. Und die Koedukation mit allen ihren großen Vorteilen, stößt ja nur deshalb immer wieder auf Schwierigkeiten, weil sich in ihr ungleich Mächtige zu gewollter Gleichheit finden sollen. An dieser Stelle muß vor allem ein offenes Wort über einen Einwand gesagt werden, der manchem Leser auf der Lippe liegen mag: diese Gleichberechtigung ist niemals möglich, solange der Knabe manches darf, was dem Mädchen verwehrt wird; der Knabe hat das Recht auf Ausleben, das heranwachsende Mädchen aber die Pflicht, auf ihren Ruf zu sehn. Ganz abgesehn davon, wie man über die Berechtigung dieser Formel denken mag; es ist heute einfach nicht mehr so. Vielleicht noch nie in der Geschichte des letzten Jahrhunderts hat in den Lebensformen zweier Generationen ein solcher Unterschied geklafft, wie zwischen den jetzigen Erwachsenen und der jetzigen Jugend, zwischen denen das Ereignis von Krieg und Revolution steht. Es wird vielleicht noch einige Zeit dauern, bis das Bewußtsein dieser Tatsache ein ganz öffentliches geworden sein wird, aber jeder Erzieher, der nicht ein Spielball sein will, muß es jetzt schon wissen: die ganze Haltung der Jugend, auch die der Mädchen, in Fragen der Beziehungen der Geschlechter hat sich vollständig geändert, sie ist teils ehrlicher, teils umfassender geworden; es gibt keinen jungen Menschen mehr, der nicht die Möglichkeit erotischer Erlebnisse hätte, das Mädchen ohne ihr Ansehn in ihrer Generation zu verlieren, der Knabe ohne auf käufliche Liebe angewiesen zu sein. Die Formen dieser Erlebnisse sind noch Übergangsformen, recht weit entfernt von dem, was eine erschreckte Phantasie sich unter »freier Liebe« vorstellt; aber sie haben eine seelische Bedeutung für die Beteiligten, die das Leben der heutigen Jugend grundsätzlich von dem einer früheren Generation unterscheidet.
Natürlich sind diese neuen Formen nicht ohne Gefahren, gerade für die Mädchen nicht. Aber eben wenn Eltern und Erzieher vor Gefahren schützen wollen, dann müssen sie die Lage kennen und mit ihr rechnen. Durch »behüten«, durch verbieten ist heute gar nichts mehr zu erreichen, dazu sind die Verhältnisse zu mächtig, die Bedingungen zu unkontrollierbar geworden. An die Stelle der alten Mittel muß das neue treten: Beratung genannt.

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Die Kinder tun lassen, was sie tun müssen und tun werden, aber ihnen die Schwierigkeiten des Wegs erleichtern mit Hilfe der größeren Erfahrung und tieferen Einsicht, die der Erwachsene hat, das ist auch in den Fragen der Gemeinschaft von Buben und Mädchen das einzig Mögliche und Notwendige. Sehen was ist und in diesem Rahmen das Beste für das Kind tun, das ist das große Geheimnis der Erziehungskunst.
Dieses Beste für das Mädchen aber - und daran sieht man wohl, wie wenig hier einer Zügellosigkeit das Wort geredet wird - dieses Beste ist: eine eigene Beziehung zur Arbeit zu bekommen. Diese große Lehre, die jahrtausendelang sich bewährt hat, daß Arbeit Ursprung und Zuflucht bei allem menschlichen Geschehen ist, sie ist den Mädchen bisher sorgfältig verheimlicht worden: nur durch das Medium des Erfolgs beim Mann konnten sie die Welt erleben, und so waren sie von allen Schwankungen dieses Mediums betroffen. Eine eigene Beziehung zur Welt der Dinge und Ideen zu bekommen, das ist die große Mitgift, die wir den Mädchen geben können. Aber wir können es nur dann, wenn wir ihre unterdrückte Lage seelisch begreifen, wenn wir den Mut haben, sie die Wege gehen zu lassen, die jetzt - langsam und mühselig genug - aus ihr herausführen. Auch hier sehen wir wieder die eine große Forderung, sie gilt gleichermaßen für die Anleitung der Burschen wie für die der Mädchen: Wir selbst müssen genügend Einsicht und Wissen erwerben, um Jugendliche in Schwierigkeiten und Nöten so zu beraten, daß sie uns das Höchste schenken was Jugend Erwachsenen schenken kann: den Glauben, daß wir ihre Sache führen.

1 Hingewiesen sei auf die Berufsbezeichnungen im Inhaltsverzeichnis Seite VIII: Dr. Paul Lazarsfeld, Mittelschullehrer; Karl Reininger, Lehrer; Marie Jahoda, Lehrerin; alle Wien. Anmerkung Reinhard Müller.
2 Ödipus: Gestalt der griechischen Mythologie, Sohn des Laios, des Königs von Theben, der - gemäß eines Orakels - seinen Vater erschlug. Anmerkung Reinhard Müller.
3 Bygmester Solness (Baumeister Solness): Schauspiel in drei Akten des Schriftstellers Henrik Ibsen (Skien, Telemark, 1828 - Kristiania [Oslo], 1906), uraufgeführt in London, Haymarket, am 7. Dezember 1892, gedruckt zuerst Kopenhagen 1892. Der älter gewordenen Baumeister Halvard Solness will - wie zehn Jahre zuvor - am Turm eines von ihm erbauten Hauses den Festkranz für das Richtfest anbringen und stürzt dabei zu Tode. Anmerkung Reinhard Müller.
4 Der Schriftsteller Oscar Wilde (Dublin, 1854 - Paris, 1900) legte diese Worte seiner Theaterfigur Lord Illingworth in den Mund: »Children love their parents until they’re twenty-five; when they are twenty-five they judge them; later they forgive them«, in Oscar Wilde: A woman of no importance (Eine Frau ohne Bedeutung), 2. Akt. Die Komödie in vier Akten wurde in London, Theatre Royal, am 18. April 1893 uraufgeführt und zuerst London 1894 gedruckt. Anmerkung Reinhard Müller.
1) Vgl. Charlotte Bühler »Kindheit und Jugend«, S. Hirzel, Leipzig.
1) Vgl. C[arl] H[einrich] Stratz, Der Körper des Kindes und seine Pflege. 9. Aufl[age]. 1922 Enke, Stuttgart.
5 Robinson Crusoe: Held aus einem zur Weltliteratur zählenden Abenteuerroman des Schriftstellers Daniel Defoe (d.i. Daniel [De] Foe; London, 1659/60 - London, 1731); vgl. [Daniel Defoe]: The life and strange surprizing adventures of Robinson Crusoe, of York, Mariner: Who lived eight and twenty years, all alone in an uninhabited island on the coast of america, near the mouth of the great river Oroonoque; Having been cast on shore by shipwreck, wherein all the men perished but himself. With an account how he was at last as strangely deliver’d by pyrates. Written by himself. 2 Teile. London: Taylor 1719. Der schiffbrüchige Robinson Crusoe, der das Leben auf einer einsamen, unzivilisierten Insel meisterte, wurde Kultfigur inhaltlich einschlägig gelagerter Dichtungen, der sogenannten Robinsonaden. Anmerkung Reinhard Müller.
6 Karl May (Ernstthal [Hohenstein-Ernstthal], Sachsen, 1842 - Radebeul, Sachsen, 1912): Schriftsteller, dessen Romane für Jugendliche zur Weltliteratur zählen. Anmerkung Reinhard Müller.
1) »Die negative Phase«, Dr. Hildegard Hetzer, Gustav Fischer, Jena.