Paul Lazarsfeld & Karl Reininger & Marie Jahoda1: Das Weltbild des JugendlichenIn: Technik der Erziehung. Ein Leitfaden für Eltern und Lehrer. Herausgegeben von Sofie Lazarsfeld. Leipzig: Verlag von S. Hirzel 1929, S. 212-237.Die Veröffentlichung auf dieser Website erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Lotte Bailyn, Belmont (Massachusetts), und Robert Lazarsfeld, Ann Arbor (Michigan). |
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1. Kampf der Generationen
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auch viele Organe des öffentlichen Lebens, der Kondukteur, der Wachmann usw. Was weiß der Jugendliche, welches Bild macht er sich von ihnen?S. 214
war, das »so etwas« getan hat. Insbesondere auf dem Gebiete der sexuellen Entwicklung sind Erwachsene oft von rührender Unwissenheit. Das erklärt sich aus einer gewissen Tendenz, die eigenen Jugendfehler zu vergessen und sich damit die wichtigste Quelle der Erkenntnis jugendlicher Probleme - eben die eigene Jugend - zu verlegen.S. 215
schweren Konflikten der Pubertät, die er sich bei irgendwelchen Erwachsenen holen muß. Der geforderte freie Raum bezieht sich oft auf die scheinbar unverständigsten Kleinigkeiten etwa wie: zu Worte kommen, Entscheidungen selbst treffen, über eigene Mittel verfügen wollen usw.S. 216
nicht so sein soll, warum das vierte Gebot nicht diese Auslegung erfahren darf. Nicht weil etwa dadurch irgendein Recht der Jugend angetastet würde; Jugend hat nicht mehr und nicht weniger Rechte als irgendeine andere Gruppe der Gesellschaft. Sondern weil es so nicht geht. Welche Ziele immer man für seine Kinder hat, irgend etwas werden sie einmal in eigener Verantwortung tun müssen; und dieses Selbsthandeln muß rechtzeitig geübt werden, in einem Bereich, wo die Kinder selbst etwas gelten und nicht nur die Person und die Ziele der Eltern. Man kann ihnen den eigenen Bereich für diese Übung verweigern: aber dann schaffen sie sich ihn gegen die Eltern, oft hinter ihrem Rücken, und so entstehen dann die Abirrungen die in milder Form ins Kaffeehaus, oft aber auch viel weiter führen. Wir dürfen also die Jugend nicht erst dazu kommen lassen, ihre besten Kräfte im Kampf um das Betätigungsfeld vergeuden zu müssen, sondern wir wollen ihr rechtzeitig zu eigenen Arbeitsbereichen verhelfen und sie dort ihre volle Kraft einsetzen lassen.S. 217
Soll man mit dem Sieg einer Partei rechnen? Es gibt nur Besiegte in diesem Kampf. Gewiß, Kinder unter 14 Jahren sind recht wehrlos gegen Erwachsene; aber schon bald nach der Pubertät, wenn sie ihre eigenen Arbeitsreiche und Umweltverbindungen bekommen, können sie »durchhalten« und mit der ersten ökonomischen Selbständigkeit sind sie frei. Aber auch nicht Sieger. Denn das berühmte »sich durchsetzen«, von dessen erzieherischem Wert manchmal gesprochen wird, hat meist die unheilvollsten seelischen und moralischen Folgen. Denn dieses Kämpfen, dieses Verwenden aller Mittel, zu dem der Schwächere greifen muß, wird leicht Selbstzweck und zerstört alles, was unmittelbar und frei am jungen Menschen ist: er übernimmt dann alles Schlechte, was er am Erwachsenen bekämpft hat, in ihm siegt der andere.S. 218
senen nicht immer alle Konfliktsstoffe beseitigen kann: wenn aber die Familie die neue Rolle des Hinterlandes bekommt und die eigentlichen Kämpfe sich anderswo abspielen, dann bedarf es nur einer gewissen Einsicht, um dieser Aufgabe gewachsen zu sein und dadurch ganz neue und sehr segensreiche Formen der Beziehung zwischen Jung und Alt zu schaffen.S. 219
die Kinder in einem Maß für sich gewonnen, wie es ohne Einbeziehung dieses eigenen Jugendbereiches nicht oder nur unter den unerträglichsten Opfern der Erwachsenen möglich gewesen wäre.S. 220
Es ist die Zeit der Pubertät, das Alter des körperlichen und geistigen Reifwerdens, die darüber entscheidet, ob aus der tierhaften Liebe, die das hilflose Kind für die nährenden und schützenden Eltern hatte, die Verehrung und Freundschaft des selbständigen jungen Menschen für die verstehenden und beratenden Eltern wird.2.
Erste KindheitS. 221
schen beobachten, die sich dann im einzelnen, - je nach der Art, in der sie gemacht, gehemmt oder gefördert wurden - auswirken.S. 222
Märchen, es läßt eine von der wirklichen merklich verschiedene »Kinderwelt« erstehen, die dem Kind aber Wirklichkeit ist, das Kind stark leitet. Diese Kinderwelt muß allmählich umgestaltet werden zur Welt des Erwachsenen.a) Die Welt der Knaben
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außer der Möglichkeit Kraft zu zeigen hat, interessiert wenig. Wer imponieren will, muß über Kraft, Mut und »gute Nerven« verfügen. Alles andere wird unter dem Einfluß der vorherrschenden Körperkraft als minderwertig abgelehnt; dies nicht nur, wenn es sich um Kameraden handelt, sondern auch bei Erwachsenen, die durch ihre Ängstlichkeit, Empfindlichkeit, Nervosität, den Eindruck der Kraftlosigkeit machen. Diese gesunden kraftstrotzenden Buben können einfach nicht verstehen, wie der Erwachsene durch ein einfaches Fußballspiel mit einer Blechdose oder durch das Zuschlagen von Türen oder das »etwas lautere« Sprechen (Brüllen würde der Erwachsene sagen) sich gestört fühlen kann, oder wie man so feig sein kann, und 10 m vor einem Auto stehen bleiben, statt im letzten Moment noch vorbeizulaufen, wie man zitternd und angstrufend unter einem Baum sitzen kann, auf den ein fescher Bub selbstverständlich und ohne irgendein Angstgefühl klettert usw. Daß das die ganze Stellung des Buben zu den betreffenden Erwachsenen verändert, ist klar. Das Prestige des Erwachsenen, seine Autorität sind damit zu einem guten Teil vernichtet, der Bub wendet sich von ihnen ab - oder er verwendet seine neue Kraft, um seine Überlegenheit entsprechend zu betonen. Das führt dann nicht nur zur verächtlichen Trennung von dem Erwachsenen, sondern zum Kampf, in dem für den Erwachsenen die Chancen für einen ehrenvollen Frieden nur sehr gering sind.S. 224
das Selbstbewußtsein will keinen Abstand vom Erwachsenen her mehr haben. Nicht wie das Kind will sich der Knabe an den Figuren des Märchens erfreuen, er will etwas leisten. Tüchtigkeit und Geschicklichkeit werden die neuen idealen Forderungen. Nehmen wir dazu die noch immer rege Phantasie, dann verstehen wir die Ideale des Knaben: Robinson5 und den Indianer. Das sind Figuren voll von Kraft, Mut, Tüchtigkeit, Schlauheit, Figuren, die so weit ab vom Alltag sind, daß die Phantasie in jeder beliebigen Weise ansetzen kann. Aus dieser Quelle kommt zum wesentlichen Teil die Indianer-Romantik im Spiel mit Zeltlager und Abhärtung und die Begeisterung für die Bücher von Karl May.6S. 225
Die Phantasie bleibt aber nicht durchwegs in dominierender Stellung. An vielen Stellen weicht sie einer realen Lebensbetrachtung, einer Einstellung, die mit vielfach scharfer Beobachtung der Umwelt beginnt, sich gleichermaßen technischen Einrichtungen wie auch Menschen und ihrem Verhalten zuwendet. Nützlichkeitsfanatismus und Kritik am Erwachsenen sind häufige Ergebnisse dieser Einstellung. Wir kennen das Interesse für Basteln, Matador, Elektrotechnik u.ä., das etwa nach dem zehnten Lebensjahr die Buben stark erfüllt. Sie wollen alles verbessern, erneuern, und sie fühlen sich fähig dazu.S. 226
bequem, hier vom dummen Jungen und seinen verrückten Ideen Zu reden, die man ihm austreiben muß! Mehr denn je zuvor braucht der Junge jetzt den wirklich reifen und verstehenden Menschen, um von dieser qualvollen Depression sich allmählich wieder durchzuringen zu einer Lebensbejahung, zu Mut und Arbeitsfreude.S. 227
stimmung der Hauptzüge dieses Alters doch recht verschiedene Formen, in denen sich die Grundtendenz ausleben kann. Wenn für den einen das Fußballspiel der höchste der Genüsse ist, kann es für den anderen das Wandern sein oder das Basteln oder das Sammeln oder das Lesen, usw. Es ist ziemlich verständlich, daß beispielsweise der Briefmarkensammler bei dem begeisterten Fußballspieler wenig Anklang finden wird. Wir sehen also als einen ersten Faktor im geselligen Leben des Knaben die Verschiedenheit der aktuellen Interessen; durch ihn entstehen Gruppen von Gleichinteressierten. Dies gleiche Interesse ist ein wesentlicher Grund für die längere Dauer dieser Gruppen, die nun nicht mehr täglich oder stündlich anders zusammengesetzt sind wie im Kleinkindalter, sondern Monate und Jahre fortdauern können. Die wahllosen »Rudelfreundschaften« der Fünf- bis Siebenjährigen verwandeln sich also in Interessengruppen.S. 228
lichkeit, Mut und Schlauheit zu beweisen, gegeben scheint, dann gehen sie eben stehlen. Es ist ihnen dabei gar nicht um die Beute zu tun, sondern wesentlich um zwei ganz andere Dinge: einmal um das Erleben der Gefahr und zum anderen, um die Wirkung des Starken, des Mutigen zu erzeugen, sie zu genießen und damit seinen sozialen Wert zu erhöhen. Es ist verständlich, daß die Buben bei derartigen Gesellschaften die Mädchen nicht brauchen können, sie sind nicht tüchtig und mutig genug, sie werden verächtlich beiseite gelassen.S. 229
Erst wenn die positive Einstellung wiedergewonnen ist, schießt plötzlich wieder die Freude und das Interesse an der Gesellschaft ein. Das persönliche Moment tritt immer mehr in den Vordergrund, der Kreis der freigewählten Gesellschaft wird immer enger; bis er nach mehr oder weniger langem Suchen das liebenswerte und geliebte Gegenüber gebracht hat.S. 230
Macht. Die ganze Welt wird von innen heraus, aus dem Eigenerleben zu verstehen, aufzubauen versucht, in der eigenen Seele werden die Gesetze gefunden, nach denen die Welt geregelt sein sollte. Viel von jugendlicher Überspannung und Mißachtung von Gesetzen ist daraus zu verstehen.b) Die Welt der Mädchen
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Richtung, die den Burschen gegenüber, auch heute noch zumindest teilweise ein Mehr an Unterdrückung der geraden Entwicklung bedeutet.S. 232
ersten Einsetzen der Geschlechtsreife klingt diese Phase meist ab. Wenn aber die Außenwelt nicht Rücksicht auf sie nimmt, dann können gerade in ihr schwerwiegende Konflikte entstehen. Das Einsetzen der Geschlechtsreife, das den Mädchen durch die erste Menstruation zum vollen Bewußtsein kommt, ist von allergrößter Bedeutung. Nicht nur rein äußerlich, wie es allgemein angenommen wird, sondern überhaupt für die Entwicklung der Persönlichkeit. Hier erlebt das Mädchen den unmittelbaren Ausdruck der »Schwäche des Weibes« und orientiert alle ihre Hilfsmittel an der Art ihres ersten Erlebnisses.S. 233
nünftigen Erziehung, daß die Knaben in die Aufklärung über diese Fragen einbezogen werden. Eltern, die sich nicht entschließen können, ihre Kinder, ob Buben oder Mädel, selbst mit diesen Dingen vertraut zu machen, sollten es nicht versäumen, Freunden, Lehrern oder Beratungsstellen planmäßig diese Aufgabe anzuvertrauen. Nur dann werden sie einmal vor der rückblickenden Kritik ihrer Kinder bestehen können. Vor allem aber gilt auch hier, was schon an anderer Stelle gesagt wurde: niemals die eigenen Probleme zur Richtschnur des Verhaltens gegen Kinder machen. Die typische Situation zum Beispiel, daß ein Vater aus eigenen unseligen Erlebnissen heraus die Geschlechtsprobleme der Frau als peinlich empfindet und sie deshalb mit einem Tabu belegt, das heißt jede Erwähnung der damit zusammenhängenden Fragen im Familienkreis verhindert, ist kein unwesentlicher Beitrag zum Gefühl des Mädchens, dauernd in einer unwürdigen Stellung zu leben.S. 234
Verantwortung. Einerseits bilden ja die Mädchen in dieser Zeit nach dem Vorbild ihrer Liebe ihre ersten ästhetischen, intellektuellen und persönlichen Werturteile, und es dauert oft Jahre, ehe sie sich durch eigene Erfahrung und Überlegung neue, wenn notwendig bessere Urteile bilden können. Andererseits aber darf das Schwärmen nur eine vorübergehende Phase sein, wenn es sich nicht zu einer dauernden Unselbständigkeit und Unsachlichkeit versteifen soll. Die Ablösung vom Schwarm geschieht nicht immer leicht und schmerzlos, und hier sind vor allem hohe Anforderungen an die Verantwortlichkeit des Erwachsenen gestellt. Man gewinnt oft selbst einen solchen jungen Menschen sehr lieb und muß sich trotzdem freuen, wenn er wieder zu sich und der Realität zurückfindet, auch wenn man sich selbst dann einsam fühlt.S. 235
in die Arbeit des Jugendlichen hinübernimmt: Es wird ein Blaustrumpf. Die größte Brille, die häßlichsten Kleider, die ungepflegtesten Haare sind gerade gut genug, um den Trugschluß zu ermöglichen: Buben sind begabt, Buben sind keine Mädchen, wenn ich kein Mädchen bin, bin ich begabt. Der andere Weg ist nicht weniger unselig. Man versucht die Werte, denen man nicht genügen zu können glaubt, zu Fall zu bringen. Alles wird außer acht gelassen zugunsten rein erotischer Wirkungsmöglichkeiten, das »Weibchen« entsteht, das nur mehr die eine Hoffnung hat, durch irgendwelche oft komisch undurchdachte und unwirksame Verführungsmittel Anteil an der Welt der Männer zu gewinnen.S. 236
durch das die Stellung der Mädchen in der zweigeschlechtlichen Jugendgemeinschaft gesichert wird. Und die Koedukation mit allen ihren großen Vorteilen, stößt ja nur deshalb immer wieder auf Schwierigkeiten, weil sich in ihr ungleich Mächtige zu gewollter Gleichheit finden sollen. An dieser Stelle muß vor allem ein offenes Wort über einen Einwand gesagt werden, der manchem Leser auf der Lippe liegen mag: diese Gleichberechtigung ist niemals möglich, solange der Knabe manches darf, was dem Mädchen verwehrt wird; der Knabe hat das Recht auf Ausleben, das heranwachsende Mädchen aber die Pflicht, auf ihren Ruf zu sehn. Ganz abgesehn davon, wie man über die Berechtigung dieser Formel denken mag; es ist heute einfach nicht mehr so. Vielleicht noch nie in der Geschichte des letzten Jahrhunderts hat in den Lebensformen zweier Generationen ein solcher Unterschied geklafft, wie zwischen den jetzigen Erwachsenen und der jetzigen Jugend, zwischen denen das Ereignis von Krieg und Revolution steht. Es wird vielleicht noch einige Zeit dauern, bis das Bewußtsein dieser Tatsache ein ganz öffentliches geworden sein wird, aber jeder Erzieher, der nicht ein Spielball sein will, muß es jetzt schon wissen: die ganze Haltung der Jugend, auch die der Mädchen, in Fragen der Beziehungen der Geschlechter hat sich vollständig geändert, sie ist teils ehrlicher, teils umfassender geworden; es gibt keinen jungen Menschen mehr, der nicht die Möglichkeit erotischer Erlebnisse hätte, das Mädchen ohne ihr Ansehn in ihrer Generation zu verlieren, der Knabe ohne auf käufliche Liebe angewiesen zu sein. Die Formen dieser Erlebnisse sind noch Übergangsformen, recht weit entfernt von dem, was eine erschreckte Phantasie sich unter »freier Liebe« vorstellt; aber sie haben eine seelische Bedeutung für die Beteiligten, die das Leben der heutigen Jugend grundsätzlich von dem einer früheren Generation unterscheidet.S. 237
Die Kinder tun lassen, was sie tun müssen und tun werden, aber ihnen die Schwierigkeiten des Wegs erleichtern mit Hilfe der größeren Erfahrung und tieferen Einsicht, die der Erwachsene hat, das ist auch in den Fragen der Gemeinschaft von Buben und Mädchen das einzig Mögliche und Notwendige. Sehen was ist und in diesem Rahmen das Beste für das Kind tun, das ist das große Geheimnis der Erziehungskunst.