Marie Jahoda: Der Wilde von Aveyron1

In: Arbeiter-Zeitung. Zentralorgan der Sozialdemokratie Deutschösterreichs (Wien), 43. Jg., Nr. 63 (5. März 1930), S. 5.
Die Veröffentlichung auf dieser Website erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Lotte Bailyn, Belmont (Massachusetts).

S. 5

Der Wilde von Aveyron. Von Marie Jahoda.


Seit jeher haben Kaspar-Hauser-Geschichten2 die Welt ungeheuer interessiert und die Phantasie der Menschen zu den kühnsten Vermutungen angeregt. Kaspar Hauser war in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts aufgetaucht, als Sechzehnjähriger etwa, der nichts andres von sich wußte, als daß er, seit er denken konnte, in einem dunklen Loch gelebt habe, täglich von einem Unbekannten Wasser und Brot vorgesetzt bekam und knapp vor seiner Entlassung aus diesem seltsamen Gefängnis von einem Wärter im Schreiben unterwiesen wurde. Ueber Nacht fast wurde er nun zu einer Berühmtheit: spannender als die Geschichte der einsamen Jahre Robinsons3 mußte doch die Entwicklung des Kindes sein, das gerade in den entscheidenden Jahren, in der Zeit, da Sinnes- und Gefühlsleben und Intelligenz sich gerade durch den Kontakt mit der Umwelt bilden, fast vollständig sich selbst überlassen blieb. Dabei war Kaspar Hauser doch immerhin unter dem ständigen Einfluß von Menschen. Noch eigenartiger muß es wohl sein, die Entwicklung eines Menschen, der ganz einsam aufgewachsen ist, zu untersuchen. Ein Wunschtraum aller Psychologen, nur fehlt ihnen zum Glück der Mut zu einem solchen Experiment. Wenn aber einmal das Schicksal das Experiment macht, dann darf man wohl mit Interesse und Neugier einen solchen Lebenslauf betrachten.

Der Baumkletterer.
Um das Jahr 1800 wurde in den Wäldern von Südfrankreich ein Knabe von etwa zehn bis zwölf Jahren gesehen. Er war vollständig nackt, auch in der strengsten Winterkälte; er sammelte Wurzeln und Eicheln, von denen er sich ernährte, und flüchtete beim Herannahen von Menschen mit affenartiger Geschicklichkeit, kletternd, springend. Er glich eher einem Tier als einem Menschen. Einmal trafen ihn drei Jäger, als er eben an einer Eiche hinaufkletterte, um sich ihren Blicken zu entziehen; es gelang, ihn festzunehmen, er wurde in das nächste Dorf gebracht, entwich aber bald wieder, wurde wieder festgenommen und auf Antrag des Ministers Champagny4 nach Paris gebracht, weil sich dieser wissenschaftlich viel von der näheren Untersuchung des Falles versprach.
Das allgemeine Interesse war anfangs ungeheuer groß, die Menschen kamen in die Taubstummenanstalt, in der man den Knaben vorläufig untergebracht hatte, gepilgert, um das Weltwunder zu betrachten. Was sahen sie? Ein Kind von abstoßender Unreinlichkeit, das bisweilen von Krämpfen ergriffen wurde, sich aber auch sonst gleich wilden Tieren in Menagerien ununterbrochen wiegte und schaukelte, jeden, der ihm zu nahe kam, biß und kratzte und auch seinen aufopferungsvollen und geduldigen Pflegern nicht die geringste Zuneigung erwies.

Ohne Stimme, ohne Gedächtnis.
Er besaß fast gar keine Stimme, konnte nur unartikulierte Gaumenlaute herausbringen. Seine Sinne waren wohl ausgebildet, nur war er nicht imstande, den geringsten Unterschied zwischen starken und schwachen, angenehmen und unangenehmen Reizen zu machen. Er verhielt sich bei der rührendsten Musik ebenso uninteressiert wie beim heftigsten Lärm. Daß er überhaupt hörte, konnte man feststellen, als er sich einmal, als man hinter seinem Rücken eine Nuß fallen ließ, plötzlich umdrehte und mit gierigem Ausdruck seine Lieblingsspeise aus dem Walde verlangte. Aehnlich war es mit seinem Geruchsorgan: er nahm den feinsten Wohlgeruch wie den Gestank der Exkremente mit derselben gleichgültigen Miene zur Kenntnis; daß er aber wohl Geruchsempfindlichkeit besaß, zeigt die Tatsache, daß er Gegenstände, die für uns völlig geruchlos sind, stets zur Nase führte und daran schnupperte. Er zeigte nicht die geringste Fähigkeit oder Neigung zur Verständigung durch Zeichen, besaß keinen Nachahmungstrieb, kein Gedächtnis und war nur dann aufmerksam, wenn es sich um die unmittelbare Befriedigung seiner Bedürfnisse handelte. Sein Körper war mit einer großen Anzahl von Narben bedeckt, die darauf schließen ließen, daß er das Leben in der Wildnis schon viele Jahre geführt haben mußte. Nähere Einzelheiten über seine Herkunft sind nie bekanntgeworden.
In diesem Zustand wurde der Knabe einem jungen Arzte von ganz hervorragender Begabung zur Erziehung und Beobachtung übergeben. Itard, das war der Name des damals sechsundzwanzigjährigen Arztes, hat vier Jahre seines Lebens ausschließlich der Behandlung dieses Knaben, den er später in seinen offiziellen Berichten den Wilden von Aveyron nannte, gewidmet. Die Berichte zeigen eine solche Fülle von Ideen, Einfällen und pädagogischem Verständnis, daß sie auch heute noch lesenswert und interessant sind.
Itard hatte sich vor allem fünf Ziele gestellt: erstens wollte er den Knaben an die menschliche Gemeinschaft gewöhnen, zweitens wollte er die Unterschiedsempfindlichkeit seiner Sinnesnerven wecken, drittens seinen Ideenkreis erweitern, viertens ihn zur Nachahmung und dadurch zum Gebrauch der Sprache führen und fünftens seinen Geist wecken und auf Unterrichtsgegenstände lenken.

Der Mensch, der nicht im Bett schlafen wollte.
Der junge Wilde kannte nichts andres als essen, schlafen und in den Feldern herumlaufen. Itard begann nun damit, ihm diese drei Beschäftigungen in menschlicher Form zu zeigen. Natürlich lehnte er jede gekochte Nahrung zuerst mit Widerwillen ab, später gewöhnte er sich auch daran, verlor aber nie die Liebe zu der rohen Kost des Waldes; der Kampf um das Schlafen in einem Bett war ungeheuer schwierig. Man mußte ihn wenigstens immer so weit gewähren lassen, daß man ihn schon bei Sonnenuntergang niederlegte. Für atmosphärische Veränderungen war er übrigens immer sehr empfänglich. Als sich plötzlich auf einem seiner Spaziergänge - eigentlich ging er nie, sondern er lief durch die Felder - ein wilder Sturm erhob, sah ihn sein Erzieher zum erstenmal laut lachen.
Der erste Schnee kam: der junge Wilde riß sich mit einem Freudengeheul die Kleider, an die man ihn mühselig gewöhnt hatte, vom Leibe und wälzte sich nackt und begeistert im Schnee. Tränen waren ihm während der ersten beiden Jahre völlig fremd; später verlief er sich einmal in einer Straße von Paris und wurde nach ein paar Stunden seiner besorgten Pflegerin überstellt. Er verstand ihre vorwurfsvolle Miene und brach - zum erstenmal in seinem Leben - in Tränen aus. Das beweist am besten, daß er sich mit der menschlichen Gesellschaft nicht nur abgefunden hatte, sondern sie sogar anerkannte.

An der Zivilisation krank geworden.
Bedenklicher waren die ersten Erfolge auf den Sinnesgebieten. Der Knabe, der anfangs ohne besondere Hast glühende Kohlen aufhob, in siedendes Wasser griff usw., wurde - ein trauriges Symbol der Zivilisation - krank. Er nieste, wobei er fürchterlich erschrak, bekam Schnupfen und Fieber. So seltsam das klingt, das war wirklich ein Erfolg. Denn er lernte nun zwischen einzelnen Sinneseindrücken unterscheiden. Mit der Hitze hatte man begonnen: sein Zimmer war sehr warm geheizt, er mußte ständig warme Kleider tragen, jeden Tag ein heißes Bad nehmen. Nach einiger Zeit zeigte er sich für Temperaturunterschiede empfänglich. Das beweist ebenso sehr die Tatsache seiner ersten Erkrankung wie seine Gewohnheit, das Badewasser immer erst mit der Hand zu prüfen; er weigerte sich stets zu baden, wenn man das Wasser versuchsweise etwas weniger erhitzt hatte. Diese Empfindlichkeit veranlaßte ihn auch bald, sich selbständig anzuziehen, sein Bett reinzuhalten und seine Zimmeraufenthalte mehr zu bevorzugen. Langsam verfeinerte sich auch sein Geruchssinn, was sich aus seinem häufigen Niesen zeigte; auch der Geschmackssinn blieb nicht unbeeinflußt: er, der früher Nahrung in einem ekelerregenden Zustand, voll Schmutz, zu sich genommen hatte, war nun imstande, eine Nuß, die er mit dem Fuß aufgetreten hatte, sorgfältig zu reinigen, bevor er sie in den Mund steckte.
Viel schwieriger war es, ihn zur Unterscheidung verschiedener Töne anzuregen. Der erste Versuch zielte darauf ab, ihn den Ton einer Glocke von dem einer Trommel unterscheiden zu lassen. Mühevoll war es, bis er die Vereinbarung begriff, beim Glockenton die eine, beim Trommelton die andere Hand zu heben. Schließlich gelang der Versuch aber auch bei verbundenen Augen und der Knabe lernte so mit der Zeit die feinsten Lautstärken der menschlichen Stimme und endlich die Vokale zu unterscheiden.

Ein schweres Abc.
Nun blieb noch der Gesichtssinn. Itard begann damit, ihm einen wirklichen und einen gezeichneten Schlüssel vorzulegen. Später wollte er ihn veranlassen, durch Vorzeigen der Zeichnung ihn zur Herbeiholung des Gegenstandes zu bewegen. Kein Erfolg. Vielleicht begriff er den Zusammenhang und nur den Auftrag nicht, vielleicht weigerte er sich, den Auftrag auszuführen; das ließ sich nicht feststellen. Nun machte sich Itard seinen ausgesprochenen Ordnungssinn zunutze. Viktor - so hatte er den Knaben genannt, weil er das O zuerst verstehen lernte und also auf seinen Namen hörte - konnte es nämlich einfach nicht ertragen, wenn im Zimmer irgendein noch so geringfügiger Gegenstand nicht an seinem gewöhnlichen Platze war. Nun hängte Itard einen Schlüssel, einen Hammer, eine Schere unter die entsprechenden Zeichnungen in Viktors Zimmer und ließ das eine Zeitlang so. Kaum hatte er sie abgenommen, als Viktor sie auch schon wieder an ihre richtigen Plätze hängte. Das gelang schließlich auch, wenn man die Zeichnungen ununterbrochen wechselte, ohne Irrtum. Da ließ Itard einen viel schwierigeren Schritt folgen: er schrieb auf eine Zeichnung mit großen Buchstaben den Namen des betreffenden Gegenstandes, schließlich schrieb er nur Namen auf und verlangte von Viktor, die Gegenstände zu befestigen. Der Vorgang jedoch blieb ihm restlos unverständlich. Es besteht ja keine Aehnlichkeit zwischen dem Schriftbild und dem Ding Schlüssel.
Viktor und Itard waren anfangs gleich ratlos vor dieser neuen Schwierigkeit. Bei Viktor führte seine Ratlosigkeit zu Tobsuchtsanfällen wildester Art, bei Itard zu noch größerer Genauigkeit und Geduld. Er ließ ihm ein Alphabet aus Metall und eines aus Kartonbuchstaben herstellen.
Nun gelang es wohl, ihn zur Ordnung der Kartonbuchstaben nach Muster der aneinander fixierten Metallbuchstaben zu bewegen, und jetzt konnte man daran gehen, ihm den Sinn von Buchstabengruppen (Wörtern) klarzumachen. Itard zeigte ihm das Wort lait (das französische Wort für Milch); er bekam nur dann zu trinken, wenn er die vier Buchstaben in richtiger Reihenfolge hinlegte. Nach einiger Uebung gelang das wirklich, von nun an steckte Viktor, wenn er spazierenging, aus eigenem Antrieb die Buchstaben zu sich und zeigte sie, wenn er Durst hatte, vor. Auf diese Weise lernte Viktor in harter Arbeit eine Anzahl von Wörtern, ohne sie auszusprechen, ja ohne ihre Bedeutung wirklich zu kennen.
Schließlich lernte er sogar die Namen von abstrakten Dingen und Eigenschaften unterscheiden. Ueber diesen Intelligentgrad hinaus ist er aber eigentlich nicht gekommen. Seine Fähigkeit, Laute hervorzubringen, blieb auf ganz wenige Wörter beschränkt, trotz Itards jahrelangen Bemühungen, schreiben erlernte er nur sehr spät und nicht vollkommen. Aber den Anforderungen des Alltags zeigte er sich doch von Tag zu Tag mehr gewachsen, verstand seine Umgebung und machte oft originelle Erfindungen, um sich Dinge zu verschaffen.
Auch sein Gefühlsleben war nicht stumpf geblieben. Wenn er seine Pflegerin traurig sah, erwies er ihr tausend kleine Zärtlichkeiten; er hatte, da Itard in seinem Unterricht Lohn und Strafe anwenden mußte, ein ausgesprochenes Gerechtigkeitsgefühl entwickelt. Als er einmal ohne Ursache - zu Versuchszwecken, wie Itard beschämt mitteilt - gestraft wurde, erlitt er einen Wutanfall von seltener Heftigkeit.
Eine ungeheuer schwierige Zeit wurde das Jahr der Pubertät, über das Itard leider nur wenig berichtet. Nur das geht daraus hervor, daß Viktor furchtbar unter der Macht seiner sexuellen Triebe litt, ohne von ihrer Befriedigung etwas zu ahnen. Frauen haben ihm nie eine andre Einstellung als Männer entlockt, und Itard wollte es im Interesse seiner Umgebung nicht auf sich nehmen, ihm dieses Geheimnis zu entdecken. Von dieser Zeit an waren in seiner Entwicklung keine nennenswerten Fortschritte mehr zu verzeichnen. Itard mußte ihn verlassen und der junge Wilde wurde der Obhut einer treuen Pflegerin überlassen. Bei ihr führte er ein kümmerliches Leben weiter bis zu seinem Tode, der ihn mit etwa vierzig Jahren ereilte.
So gibt der Wilde von Aveyron beredetes Zeugnis dafür, wie abhängig jedes Menschen Persönlichkeit von der Umwelt ist, in die er gestellt wurde.

1 Victor, L’Enfant Sauvage de l’Aveyron (? - Paris, 1828): Kind, das am 8. Januar 1800 in Saint-Sernin im südfranzösischen Aveyron gefangengenommen wurde. Nach einigen Monaten wurde es im Auftrag des französischen Innenministers nach Paris gebracht, wo sich mit ihm 1801 bis 1806 der Arzt Jean-Marc-Gaspard Itard (Oraison Alpes-de-Haute-Provence, 1774 - Paris, 1883) wissenschaftlich beschäftigte; er gab seinem Schützling den Namen »Victor«; vgl. J[ean] M[arc] Itard: De l’éducation d’un homme sauvage, ou des premiers développements physiques et moraux du jeune sauvage de l’Aveyron. Paris: Goujon An X [i.e. 1801]. Itard, der 1803 zum Dr. med. promoviert wurde, war 1800 bis 1838 Lehrer an der Taubstummenanstalt in der Rue Saint-Jacques, Paris. Der »Wilde von Aveyron« war wiederholt Gegenstand von Dichtungen, Filmen und wissenschaftlichen Studien. Anmerkung Reinhard Müller.
2 Kaspar Hauser (angeblich 1812 - Ansbach, Bayern, 1833): tauchte 1828 in Nürnberg auf und nannte sich »Kaspar Hauser«; wurde jahrelang in einem Kellerverlies gefangen gehalten. Nach seiner Auffindung wurde versucht, ihn in die Gesellschaft zu integrieren. Kaspar Hauser, der ermordet wurde, diente als Vorlage zahlreicher Dichtungen und Filme, war aber auch wiederholt Gegenstand wissenschaftlicher Studien. Anmerkung Reinhard Müller.
3 Robinson Crusoe: Held aus einem zur Weltliteratur zählenden Abenteuerroman des Schriftstellers Daniel Defoe (d.i. Daniel [De] Foe; London, 1659/60 - London, 1731); vgl. [Daniel Defoe]: The life and strange surprizing adventures of Robinson Crusoe, of York, Mariner: Who lived eight and twenty years, all alone in an uninhabited island on the coast of america, near the mouth of the great river Oroonoque; Having been cast on shore by shipwreck, wherein all the men perished but himself. With an account how he was at last as strangely deliver’d by pyrates. Written by himself. 2 Teile. London: Taylor 1719. Der schiffbrüchige Robinson Crusoe, der das Leben auf einer einsamen, unzivilisierten Insel meisterte, wurde Kultfigur inhaltlich einschlägig gelagerter Dichtungen, der sogenannten Robinsonaden. Anmerkung Reinhard Müller.
4 Jean-Baptiste de Nompère de Champagny, seit 1809: Duc de Cadore (Roanne, Loire, 1756 - Paris, 1834): Politiker; 1801 bis 1804 Gesandter in Wien, 1804 bis 1807 Innenminister, seit 1808 Außenminister. Anmerkung Reinhard Müller.