Soziologie der Tat (Februar 1933)
Von Ernst Manheim (Leipzig)
Transliteration von Reinhard MüllerFußnote


Wenn Sie als Ortsfremde in ein Ihnen unbekanntes Dorf alten Stils kommen und sich von der örtlichen Anlage des Dorfes eine unmittelbare Anschauung machen wollen, so wird es wohl meist schon genügen, wenn Sie die Dorfstrasse entlang gehen und dann einen Rundgang um die Dorfmark machen. Damit haben Sie sich schon ihre Ortskenntnis erworben. Wenn Sie diesen Rundgang mit offenem Blick gemacht haben, so haben Sie auch ein Bild vom agrarischen Charakter des Dorfes. Sie werden bald sehen, ob es Klein- oder Mittelbauern sind, die das Dorf bewohnen, ob sie Vieh- oder Kornwirtschaft treiben. Sie werden bald erfahren, ob hier das Anerbenrecht herrscht, d[as] h[eißt] ob hier der älteste Sohn den Hof erbt, oder ob sich der bäuerliche Besitz von Generation zu Generation zersplittert; ob das ein-, zwei- oder das Vielkindersystem herrschend ist und ob das Dorf die Nachkommenschaft ernährt oder ob sie abwandert. Die Verhältnisse eines solchen Dorfes sind geographisch und immerhin auch sozial so übersichtlich, dass Sie als Ortsfremde darüber im grossen und ganzen bald im Bilde sind. Zumindest aber sind es die Dorfbewohner selbst: ein jeder von ihnen hat von seinem Dorf als einer sozialen Gesamtheit, von seiner gegenwärtigen und zukünftigen Stellung in ihr eine unmittelbare Anschauung.

Versetzen Sie sich jetzt in die Lage eines eben zugereisten Fremden, der aus dem Hauptbahnhof einer Großstadt heraustritt und Orientierung sucht. In ihrer sozialen Gesamtheit ist ihm die Großstadt etwas Unübersehbares und Unanschauliches. So geht es aber nicht nur dem Ortsfremden, so geht es auch dem Grosstädter selbst. Wenn der Großstädter sich von seiner Stadt eine Vorstellung macht, so denkt er an ihre Strassen, Gebäude, an den Verkehr, die Umgebung, an den Menschenschlag und an den Stadtdialekt - aber von der Stadt als einem sozialen Ganzen, von ihrem gesellschaftlichen Charakter macht er sich kein anschauliches Bild.

Das kann er auch nicht. Nicht etwa darum, weil ihm Zeit und Gelegenheit dazu fehlen, um die Welt ausserhalb seines Tätigkeitsfeldes kennen zu lernen. Sondern darum nicht, weil die Stadt als Ganzes ihren sozialen Charakter dauernd ändert, ja weil sie überhaupt ein selbständiges Ganzes nicht ist. Der dauernde gesellschaftliche Wandel, die dauernde Umstellung ist dem Großstadtmenschen so natürlich und gewohnt geworden, dass er sie zu einem selbstverständlichen Zubehör des Lebens rechnet. Die Stadt ist in den letzten 100-120 Jahren mehr und mehr zu dem örtlichen Rahmen für einen dauernden gesellschaftlichen Wandel, für eine ununterbrochene soziale Umschichtung geworden. Die Großstadt dieser zurückliegenden Zeit ist etwa mit einem Strom vergleichbar, zu dessen Bild das mehr oder weniger gleiche Strombett gehört, nicht aber das wechselnde Wellenspiel, das durch dieses Bett hindurchtreibt.

Es wurde in den zurückliegenden 120 Jahren sozusagen zum Naturgesetz, dass Deutschlands Bevölkerungszahl dauernd wächst, dass Deutschlands Industrie, die Zahl der Erwerbstätigen, der Städtebewohner dauernd zunimmt, dass alljährlich eine grosse Masse von Landbewohnern in die Städte strömt. Das lässt sich schon an einigen Zahlen ablesen: Im Jahre 1816 hatte Deutschland im früheren Reichsgebiet rund 25 Mill[ionen] Einwohner; im Jahre 1871 rund 41 Mill[ionen]; im Jahre 1900: rund 56 1/2 Mill[ionen]; das heutige Deutschland zählt um 65 Mill[ionen]. Das bedeutet m[it] a[nderen] W[orten], dass vor 100 Jahren durchschnittl[ich] 45 Einwohner auf den Quadratkilometer kamen, heute etwa 133. Dieses Bevölkerungswachstum kam zum grösseren teil den Städten zu Gute: noch vor 60 Jahren wohnte über ein Drittel der deutschen Bevölkerung in der Stadt und knapp zwei Drittel auf dem Lande; heute ist es genau umgekehrt. Dieser Wandlung des Verhältnisses von Stadt- und Landbevölkerung liegt eine gleich radikale berufliche Umschichtung zu Grunde. Vor 100 Jahren waren drei Fünftel der erwerbstätigen Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig - heute ist es knapp ein Viertel, die übrigen sind zum grossen Teil in Industrie, Handel und Verkehr erwerbstätig. Von den 32 1/2 Mill[ionen] Erwerbstätigen sind 9/10 in abhängiger Stellung. Auch diese soziale Umschichtung vollzog sich zum guten Teil in der Stadt. - Noch schneller aber als die Zahl der in Industrie, Handel und Verkehr beschäftigten Personen ist der industrielle Produktionsapparat gewachsen. Die in ihm angewandte motorische Kraft hat sich in den letzten 25 Jahren verdreifacht, - dagegen wuchs die Zahl der Erwerbstätigen zur selben Zeit nur um 1/3. Die sprunghaft zunehmende Maschinerie aber hat den Arbeiter insgesamt nicht verdrängt, - im Gegenteil: sie hat ihm in diesem Zeitabschnitt neue Arbeitsstellen geschaffen; besonders im Großbetrieb.

Deutschland ist also im vergangenen Jahrhundert aus einem verhältnismäßig dünnbevölkerten, vorwiegend agrarischen Land in raschem Tempo zu einem der dichtbevölkertsten Länder mit überwiegend städtischer Bevölkerung in abhängiger sozialer Lage und einer überwiegend industriellen Produktion geworden.
Was bedeutet aber diese Wandlung der letzten 100 Jahre? 1000 Jahre lang ist Deutschlands Bevölkerung mit einigen Schwankungen etwa auf demselben Stand geblieben. 1000 Jahre lang beruhte die Landwirtschaft auf der selben Grundlage, auf der Dreifelderwirtschaft. Und was sich in früheren Zeiten an gesellschaftlichen Wandlungen grösseren Stils vollzog, ging in einer Zeitspanne von mehreren Jahrhunderten vor sich. Da setzte ein stürmisches Jahrhundert ein und schuf von Jahrzehnt zu Jahrzehnt neue Verhältnisse: in der Stadt und auf dem Lande, im Beruf, im Eigentum und in der Familie. All das vollzog sich geradezu mit der Zwangsläufigkeit eines Naturgesetzes. Für den Einzelnen, der in diese Entwicklung hineingeboren wurde, mochte diese dauernde Umschichtung einen sozialen Abstieg oder ein Aufrücken bedeuten, gleichwohl empfand er diesen Wandel als ein ehernes Gesetz, mit dem man von vornherein rechnet, wenn man den Anschluss an die Zeit nicht verpassen soll.

Da entstand im vorigen Jahrhundert die Soziologie, als die Wissenschaft, die sich zur Aufgabe gesetzt hat, die Voraussetzungen dieser bedeutsamen geschichtlichen Wandlung - nicht in der ewigen Natur, sondern in der Gesellschaft selbst, d[as] h[eißt] - im gesellschaftlichen Menschen zu suchen. Sie konnte das tun, weil der Mensch, an den sie diese Frage richtete: näml[ich] der gesellschaftliche Mensch als solcher, jetzt auf einmal - da war. Das Verhältnis des Menschen zum Menschen wurde in zunehmendem Masse vom allgemein-gesellschaftlichen Geschehen abhängig, also vom Prozess der Industrialisierung, vom Kapital- und Arbeitsmarkt, von Krise und Konjunktur, von der Mode und der öffentlichen Meinung - und in abnehmendem Masse von Sitte und den Ordnungen innerhalb seines Berufs, seines Standes, der Stadt oder des Dorfes. So war der Mensch, der jetzt auch zum Gegenstand der Gesellschaftswissenschaft werden konnte, nicht mehr zuerst Bürger dieser Stadt oder dieses Dorfes, er war nicht mehr zuerst Bauer, Handwerker, Beamter oder Kaufmann und erst dann etwa auch noch Mensch seiner Gesellschaft, sondern er war jetzt zuerst und vor allem: Mensch seiner Gesellschaft und erst als solcher noch Handwerker, Arbeiter, Kaufmann und Industrieller. Damit wird Ihnen m[eine] ver[ehrten] Zuh[örer] auch verständlich, was ich anfangs mit der Bemerkung andeuten wollte, dass auch die Großstadt kein selbständiges Ganzes ist, dass sie mehr der öffentliche Rahmen für eine längst gewohnte, allgemein-gesellschaftliche Wandlung geworden ist. Auch das Dorf steht nicht mehr ausserhalb dieser Entwicklung.

Aber die Soziologie des 19. Jahrhunderts hat nicht nur diesen gesellschaftlichen Charakter des Menschen enthüllt, sie hat auch die Frage der Zeit ausgesprochen: wohin treibt die Entwicklung und sind ihr Grenzen gesetzt? Mit dieser Frage hat die Soziologie auf den Menschen noch in einem anderen Sinne hingewiesen. Denn die Frage nach dem Ausgang, nach dem Ziel und der Grenze dieser geradlinig fortlaufenden Gesellschaftsentwicklung - ist die Frage, ob dieser Prozess vom Willen seiner Träger beherrscht und gelenkt, ob dieser Prozess einem menschlichen Willen unterworfen werden kann. Damit wurde der Zweifel an die eherne und menschenunabhängige Notwendigkeit der sozialen Entwicklung des Jahrhunderts laut ausgesprochen. Im Zeichen dieses Zweifels fasst nun die Soziologie - ganz gleich ob sie sich die Reform, die Erhaltung oder die Revolution zur Aufgabe setzt - die Gesellschaft ihrer Zeit als ein Feld von praktischen Aufgaben auf. Mit dem Begriff der Gesellschaft meinte sie daher nicht einen Gegenstand, den man frei von jeder Zielsetzung wissenschaftlich photographieren und gewissermaßen wie ein Ding anschaulich abbilden könne, sondern eine noch offene und in die Zukunft weisende Frage. Die Lösung einiger Aufgaben erwartete sie von ihrer Zeit: mit der Tatsache z.B., dass Wohnungsverhältnisse, Betriebshygiene, Kinderarbeit, Bevölkerungswesen u.a. Dinge mit einander zusammenhängen, beschäftigte man sich in praktischer Absicht schon um die Mitte des Jahrhunderts. - Den grösseren Teil der sozialen Aufgaben überwies man aber der Zukunft. Gewiss, auch diese Soziologie entwarf so etwas wie eine Landkarte der Gesellschaft ihrer Zeit. Aber das Wesentliche an dieser sozialen Landkarte ist, dass die Soziologie in sie sich selbst eingezeichnet hat, näml[ich] ihre geschichtlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen, aus denen sie hervorgegangen ist. So ist eine neuartige Wissenschaft entstanden, für die es charakteristisch ist, dass sie nicht zuerst beschreibend, theoretisch und ausserdem noch anwendungsfähig oder praktisch verwertbar ist. Das Ziel dieser Wissenschaft war von Anfang an praktisch, nämlich mit dem Eingriff in die Wirklichkeit sich selbst überflüssig zu machen.

Nun, überflüssig ist die Soziologie bis auf die Gegenwart nicht geworden. Aber einige Züge an dieser sozialen Landkarte sind anders geworden - und damit auch einige Aufgaben der Soziologie. - Es gehört nicht mehr zu den wichtigsten Aufgaben der Soziologie, zu zeigen, dass die Gesellschaftsentwicklung des vorigen Jahrhunderts nicht unaufhaltsam und geradlinig bis in unübersehbare Zeiten der Zukunft sich fortsetzen wird. Das haben uns die letzten Jahre bereits anschaulich gemacht. Auch dazu brauchen wir die Soziologie nicht mehr, um zu wissen, dass der menschliche Wille ein Faktor, der wichtigste Faktor im öffentlichen Geschehen ist. Die Gegenwart steht ja geradezu im Zeichen jener Mehrzahl von Mittelpunkten, der Parteien und Verbände, um die sich das gesellschaftliche Wollen gesammelt hat. Im Gegenteil, es ist mehr und mehr zur Aufgabe der Soziologie geworden, Klarheit zu schaffen über jene Faktoren des gesellschaftlichen Geschehens, die bis zu einem gewissen Grade noch ausserhalb des Willensbereichs der unmittelbaren Gegenwart liegen. In zunehmendem Masse wird es zur Angelegenheit der Soziologie, jene gesellschaftlichen Tatsachen unserer Zeit zu beleuchten, die dem bereits formierten Willen noch nicht unmittelbar unterworfen sind, mit denen aber jedes Wollen zu rechnen hat. Sie soll das tun, nicht um den Willen zu schwächen, sondern um ihn zu klären und ihm weitere Orientierung zu geben.

Ich nenne einige Beispiele für den Richtungswechsel unserer sozialen Entwicklung. Zunächst die Bevölkerungsbewegung.

Seit 60 Jahren ist das Durchschnittsalter der deutschen Bevölkerung von rund 35 1/2 auf 56 Jahre gestiegen. Es sterben also jährlich im Verhältnis weniger Menschen als früher; es sterben vor allem weniger Kinder. Aber seit derselben Zeit nimmt auch die Geburtenhäufigkeit ab. Es kommen heute im Durchschnitt nur noch halb soviel Menschen zur Welt, als vor 30 Jahren. Und selbst wenn man die geringere Sterblichkeit in Rechnung stellt, so ist die jährl[iche] Bevölkerungszunahme, - also der Überschuss der jährlich Geborenen gegenüber den Gestorbenen - in diesen 30 Jahren um mehr als die Hälfte gesunken. Im Jahre 1915 ist bereits der Höhepunkt des deutschen Bevölkerungswachstums überschritten worden. Das heutige Bevölkerungswachstum reicht nicht mehr aus, um Deutschlands Bevölkerung dauernd auf demselben Stand zu erhalten. Tatsächlich würden sich die Großstädte bereits allmählich entvölkern, wenn sie nicht einen grösseren Zuzug vom Lande und aus der Kleinstadt hätten. Diese Tatsache ist um so bedeutsamer, als auch die Kindersterblichkeit rasch abgenommen hat. Gegenüber der 70-er Jahren ist sie um rund 3/5 gesunken.

Woher kommt diese Wandlung? An der Zahl der Eheschliessungen liegt es nicht. Die Heiratsfälle haben im grossen und ganzen nicht abgenommen. Das ist auch eine Konsequenz des erhöhten Durchschnittsalters, denn es leben heute verhältnismässig mehr Menschen im heiratsfähigen Alter als früher. - Allerdings, das Familienverhältnis hat sich verändert. Die Ehen sind kurzfristiger, die Ehescheidungen sind häufiger geworden - aber der Wunsch nach dem Kinderreichtum war bisher mit der Dauerehe verbunden. Ein weiterer Faktor zur Auflockerung der ehelichen Haushaltsgemeinschaft ist die wachsende Erwerbstätigkeit der Frau ausserhalb des Familienhaushalts. Wo die Heirat in früheren Zeiten oft eine Betriebs-, Haushalts- und Familiengemeinschaft begründet hat, führt sie heute in wachsendem Maße zu einer reinen Ehegemeinschaft.

Unter den Erwerbstätigen ist der Anteil der Selbständigen in der letzten Zeit stark gesunken zugunsten der in abhängigen Berufen stehenden Personen. Aber neben den Arbeitern und der Landbevölkerung waren ja die selbständigen Berufe die Träger der kinderreichen Familien. Hinzukommt noch ein weiterer Faktor: die soziale Umschichtung der Nachkriegszeit hat eine wachsende Zahl von Angestellten, Beamten und freien Berufen hervorgebracht. Ihre Zahl ist auch im Gesamtverhältnis stärker gewachsen, als die nur noch unerheblich wachsende Zahl der Arbeiter. Aber gerade in diesen Berufsschichten ist der Kinderreichtum am geringsten. Auch in dieser Wandlung äussert sich eine Tendenz, die von der Vorkriegsentwicklung abweicht.

Entscheidend aber für die abnehmende Geburtenhäufigkeit dürfte die Bewertung der Zukunft der nachfolgenden Generation sein. Ein Kind ist schliesslich so etwas wie ein Wechsel auf die Zukunft. Wo das Vertrauen auf sie fehlt, da ist der Wille zum Kind in stärkerem Masse abhängig von der eigenen wirtschaftlichen Lage und von den eigenen Erwerbsaussichten der Eltern.

Gerade darin aber ist eine entscheidende Wandlung vor sich gegangen. Bis zum Jahre 1925 konnte im grossen und ganzen eine jährlich rasch wachsende Zahl von Arbeitnehmern beschäftigt werden. Seit dieser Zeit ist die jährliche Zunahme dieser Schichten langsamer geworden. Aber auch dieser geringere jährliche Zuwachs an Arbeitskräften konnte in den Produktionsprozess nicht mehr aufgenommen werden. Man muss sich gewiss vor Prophezeiungen auf lange Sicht hüten - dazu fehlen uns gerade heute alle Voraussetzungen. Aber für die nächste Zeit wird man auch in wirtschaftlich günstigen Zeiten mit einer Arbeitslosigkeit von nicht unter 800.000 rechnen müssen. Das ist eine für das 19. Jahrhundert undenkbare Ziffer.

Schon diese wenigen Vergleiche zeigen, dass die bislang geradlinige Sozialentwicklung des 19. Jahrhunderts seit 10 Jahren, in manchen Hinsichten schon seit 25 Jahren ihre Richtung gewechselt hat. Das zeigt sich in der veränderten Bevölkerungsbewegung der letzten Zeit, in der Aufnahmefähigkeit der Wirtschaft für den Zuwachs an Arbeitskräften, im gewachsenen Anteil der Angestellten, unter denen wiederum der Anteil der Frauen gestiegen ist. Das sind wenige, nur statistische Anzeichen einer Entwicklungskurve, deren Scheitelpunkt wir erreicht haben.

Diese und noch andere Tatsachen muss man kennen, wenn man sich die Beherrschung der weiteren Gesellschaftsentwicklung zur Aufgabe macht. Auch schon heute sind diese Abschnitte der Soziologie in all jenen Berufen unentbehrlich geworden, in deren Alltagstätigkeit gewissermassen die Zukunft hineinragt. Der Städtebaumeister muss wissen, welchen sozialen, wirtschaftlichen und familiären Charakter das Volk haben wird oder haben soll, für das er seinen Städteplan entwirft. Der Lehrer muss wissen, für welche Zukunftsaufgaben, für welche Sozialordnung er die nächste Generation erzieht. So ist es bei dem Kassenarzt, beim Richter, so ist es vor allem beim: Politiker. Damit sind wir beim Verhältnis der Soziologie zur Politik angekommen.

Sie werden vielleicht fragen, ob denn die Soziologie bei dieser Aufgabenstellung noch ihre wissenschaftliche Selbständigkeit bewahren kann, ob sie nicht mehr und mehr in den Bereich der Politik hineingezogen wird. Gewiss, das wird sie; oder vielmehr, sie ist es schon zu einem Teil. Aber das muss man nicht bedauern. Denn es ist nur zu wünschen, dass jeder, der seinen Willen für irgend ein politisches Ziel einsetzt und seinen Willen im Rahmen einer Partei oder eines Verbandes betätigt, sein Ziel auch kennt und weiss, was man kann und was man nicht kann. Die Aufgaben der Soziologie sind noch nicht erschöpft, wenn sie im Rahmen einiger Berufe nutzbar gemacht wird. Ihre praktische Bedeutung geht darüber hinaus. Die Soziologie bekommt diese praktische Bedeutung in dem Masse, in dem sie zu einem Bestandteil der öffentlichen Besinnung wird und einen Zugang zu einem jeden, auch zu Ihnen, m[eine] ver[erehrten] Zuh[örer], findet.

  * Typoskript (vermutlich) für einen Vortrag im Rahmen der Leipziger Volkshochschule. Das Original befindet sich im Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich, Graz, Nachlass Ernest Manheim, Signatur 31/5. Zuerst abgedruckt in: Jahrbuch für Soziologiegeschichte 1995. Herausgegeben von Carsten Klingemann, Michael Neumann, Karl-Siegbert Rehberg, Ilja Srubar, Erhard Stölting. Opladen: Leske + Budrich 1999, S. 29-34; in neuer Transliteration abgedruckt in: Ernö - Ernst - Ernest Manheim. Soziologe, Anthropologe, Komponist. Zum 100. Geburtstag. Katalog zur Ausstellung anläßlich des 100. Geburtstags an der Universitätsbibliothek Graz vom 3. März bis 14. April 2000. Herausgegeben von Reinhard Müller. Graz: Universitätsbibliothek Graz [2000], S. 38-42. Anm. R.M.