Brief von Ernst Kohn-Bramstedt an Ernest Manheim in Chicago, Ill. London, am 13. Juni 1938
Transliteration and comment byReinhard Müller [1]

1, Lambolle Road, London N.W. 3

13. Juni 1938.

Lieber Herr Manheim,
Vielen Dank für Ihren ebenso prompten wie aufschlußreichen Brief. Ich war schon halb u[nd] halb entschlossen, auch mein Heil in den States zu versuchen, werde das Unternehmen aber nun doch wohl etwas verschieben u[nd] zwar aus 2 Gründen a) höre ich, daß die Naturalisierung deutscher Gelehrter usw. nun voraussichtlich beschleunigt werden wird - ich bin im Sept[ember] 5 Jahre hier u[nd] kann dann Naturalisierung beantragen. b) ist die erste in Amerika erschienene review meines Buches [2] (im "American Journal of Sociology") weit weniger günstig als alle bisher veröffentlichten. [Im Juni-Heft von "Scouting" (Cambridge) findet sich eine sehr kluge und positive Rezension]. Ich bitte Sie mein Buch selbst zu lesen; Sie werden mir wahrscheinlich darin zustimmen, daß die Rezension von Mr. Duncan meinem opus durchaus nicht gerecht wird. Auf wichtige Probleme wie die Analyse der Indienfrage in der Literatur, die Lektüre der Unterschichten (Family-Journal), die Untersuchung des superiority-feeling der middle-classes geht er überhaupt nicht ein u[nd] erwähnt sie nicht. Anscheinend ist der Rezensent mit deutscher Geschichte - u[nd] Literaturgeschichte nicht vertraut u[nd] beschränkt sich daher auf einige formal-soziologische Sätze.

Bitte schreiben Sie mir gelegentlich ganz offen Ihren Eindruck von dem Buch, das bisher durchwegs freundlich aufgenommen - mit dieser einen Ausnahme. Mehrere weitere amerik[anische] Reviews werden noch erscheinen, auch wohl in den beiden historischen Fachzeitschriften u[nd] in mehreren Blättern für Philologie. Ich will diese Besprechungen nun noch abwarten (vermutlich kommt auch eine in der Am[erican] Sociological Review).

Bitte grüßen Sie Ihre Frau vielmals von mir. Ich werde mich freuen von Ihnen wieder zu hören u[nd] mit Ihnen in Kontakt zu bleiben. Alles was Sie schreiben interessiert mich. Es gibt so wenig Leute, denen es mit der Wissenschaft ernst ist. Mit herzlichen Grüßen
indessen Ihr

Ernst Kohn-Bramstedt.


[1]  
Das Original dieses Briefes befindet sich im Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich, Graz, Nachlass Ernest Manheim, Signatur 31/1.
Ernst Kohn-Bramstedt, seit 1945 Ernest K[ohn] Bramstedt (*Augsburg 1901, †Großbritannien 1978), britischer Historiker deutscher Herkunft; emigrierte 1933 über die Niederlande nach Großbritannien (1952-1969 Australien); 1933-1936 Forschungen an der London School of Economics (Ph.D. 1936); 1936-1939 Instructor an der Scoones Secondary School, 1940-1943 Angestellter der B.B.C. und 1943-1947 der Political Intelligence Division des British Foreign Office; 1952-1969 Lecturer beziehungsweise Associate Professor of European History an der University of Sydney. Anm. R.M.

[2]  
Vgl. Ernst Kohn-Bramstedt: Aristocracy and the middle classes in Germany: social types in German literature, 1830-1900. London: King 1937. Anm. R.M.