Brief von Hugo Fischer an Ernest und Ann Sophy Manheim in Chicago, Ill. London, am 4. April 1938
Transliteration and comment byReinhard Müller[1]

Abs. Hugo Fischer,
London W C 1 Ashleigh Hotel
64 Gulford Street.

4.IV.38.

Liebe Manheims,
Sie werden Sich [!] wundern, dass ich da gelandet bin, von wo Ihr ausgingt. Wegen der Niekischaffaire [2] sollte ich verhaftet werden, und [Walter] Heinrich rief mich telefonisch in Berlin an, ich sollte abreisen. Ich hatte zur Sicherheit noch eine zweite Wohnung in Berlin. Niekisch soll ca 15 Jahre Zuchthaus bekommen. Der Maler A[ndreas] P[aul] Weber, [3] dessen Buch ich bevorwortete, sitzt seit Frühjahr 37. Frau [Anna] Niekisch und der Sohn [4] sitzen auch. Zunächst ist ein Prozess gegen 70 Freunde von Niekisch im Gange. Ich habe noch Glück gehabt, dass ich frei bin.
Alma [Fischer], meine Frau, hilft sich eben durch Weben. Sie kann nicht mehr zurück. Es geht ihr wirtschaftlich schwierig.

Heinrich möchte gern durch Frau [Margaret] Wing nach New York. Er kann es in Deutschland nicht mehr aushalten.

C[arl] Schmitt [5] hat sich umgestellt, er ist jetzt wieder wie vor 33. Aber nach aussen ist er sehr vorsichtig. [Hans] Freyer [6] ist überängstlich. Ich habe gehört, er möchte auch aus Deutschland weg, und zwar viell[eicht] nach Ungarn. Das wäre ein Witz, nicht wahr? [Theodor] Litt u[nd] [Felix] Krueger [7] sind gegangen.

Was soll ich nun machen? Karl Mannheim [8] las, was ich im letzten Sommer über Rationalisierung schrieb, und andre Sachen von mir. Er sprach lange mit [Fritz] Demuth, [9] und der will versuchen, mich nach Amerika zu bringen. Wie ist es bei Euch? Ich möchte gern weiter schriftstellerisch wirken, da ich viele Produktionspläne habe. Meine Themen sind jetzt Soziologie und Phänomenologie der Grossstadt(Metropole) und des Films. Ueber Film habe ich für S. Fischer Verlag geschrieben (in Fahnen gedruckt, aber von Zensur nicht zugelassen).

Seit Sonntag bin ich hier, über Hals und Kopf abgereist. Die ersten Tage war ich verzweifelt, aber Karl Mannheim und Frau [10] machten mir etwas Mut. Demuth sagte, ich solle die Lage nicht zu pessimistisch betrachten.
Bitte schreibt mir bald einmal.
Herzliche Grüsse Euer

Hugo Fischer.





[1]  
Das Original dieses Briefes befindet sich im Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich, Graz, Nachlass Ernest Manheim, Signatur 31/1.
Ernst Hugo Fischer (*Halle an der Saale 1897, †Ohlstadt 1975), deutscher Philosoph; emigrierte 1938 nach Norwegen und weiter nach Großbritannien; 1925-1938 Privatdozent der Philosophie an der Universität Leipzig; Mitglied des national-revolutionären Zirkels um Ernst Jünger (1895-1998); 1938 Direktor der Forschungsabteilung des Institutt for Samfunnsforsking og Arbeidslćre in Oslo; in Großbritannien Forschungstätigkeit; 1956 Rückkehr in die BRD, außerplanmäßiger Professor der Philosophie an der Universität München. Anm. R.M.

[2]  
Ernst Niekisch (*Trebnitz [Trzebnica] 1889, †Berlin 1967), deutscher Publizist und Politiker; zunächst Sozialist, dann zentrale Figur der national-revolutionären Opposition gegen Adolf Hitler (1889-1945); am 22. März 1937 wegen seiner unermüdlich verfassten Betrachtungen zum "Dritten Reich" zusammen mit zahlreichen Gesinnungsfreunden verhaftet und am 10. Jänner 1939 vom Volksgerichtshof wegen Hochverrats und Gründung einer Widerstandsbewegung zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt; 1945 von Sowjets aus dem Zuchthaus Brandenburg-Görden befreit, blieb seine Rolle als Widerstandskämpfer sehr umstritten. Anm. R.M.

[3]  
Vgl. das Vorwort zu A[ndreas] Paul Weber: Zeichnungen, Holzschnitte und Gemälde; mit einer Einführung. Berlin: Widerstands-Verlag 1936. Andreas Paul Weber (*Arnstadt 1893, †Großschretstaken 1980), deutscher Grafiker und Maler; Mitkämpfer Ernst Niekischs (1889-1967), 1937 Gestapohaft und Konzentrationslager. Anm. R.M.

[4]  
Das sind Anna Niekisch, geborene Kienzle (1892-1973), Lehrerin, und deren Sohn Ernst August Niekisch (*Puchheim 1916), Univ.-Prof. der Physik in Köln. Anm. R.M.

[5]  
Carl Schmitt (*Plettenberg 1888, †Plettenberg 1985), deutscher Staats- und Völkerrechtler; 1933-1945 Professor des Staatsrechts an der Universität Berlin; rechtfertigte zunächst das nationalsozialistische Regime und fungierte bis etwa 1936 als dessen richtungsweisender Rechtstheoretiker. Anm. R.M.

[6]  
Hans Freyer (*Leipzig 1887, †Wiesbaden 1969), deutscher Soziologe und Philosoph; 1925-1948 Professor der Soziologie an der Universität Leipzig, unterbrochen von einer Professur 1938-1944 in Budapest; unterhielt ein umstrittenes Naheverhältnis zum nationalsozialistischen Regime; Förderer und enger Freund von Ernest Manheim. Anm. R.M.

[7]  
Theodor Litt (*Düsseldorf 1880, †Bonn 1962), deutscher Philosoph und Pädagoge; 1920-1937 und 1945-1947 Professor der Philosophie an der Universität Leipzig; 1937 vorzeitig emeritiert; einer der beiden Dissertationsgutachter von Ernest Manheim. Felix Krueger (*Posen [Poznan] 1874, †Basel 1948), deutscher Philosoph und Psychologe, Gründer der Leipziger Schule der Psychologie; 1917-1938 ordentlicher Professor der Philosophie und Psychologie an der Universität Leipzig. Anm. R.M.

[8]  
Karl Mannheim (d.i. Károly Mannheim; *Budapest 1893, †London 1947), Cousin von Ernest Manheim; deutsch-britischer Soziologe österreichisch-ungarischer Herkunft, emigrierte 1933 nach Großbritannien. Anm. R.M.

[9]  
Fritz Demuth (*Berlin 1876, †London 1965), britischer Wirtschaftspolitiker deutscher Herkunft; emigrierte 1933 in die Schweiz und 1936 nach Großbritannien; 1933 Mitbegründer und danach führender Funktionär der Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland, einer wichtigen Flüchtlingsorganisation für Akademiker. Anm. R.M.

[10]  
Julia Mannheim (geborene Károlyné Júlia "Juliska" Láng; *Budapest 1893, †London 1955), deutsch-britische Psychologin und Psychoanalytikerin österreichisch-ungarischer Herkunft; seit 1921 mit Karl Mannheim verheiratet. Anm. R.M.