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Brief von Hans H. Gerth an Ernest Manheim in Chicago, Ill. [Cambridge, Mass.], am 9. April 1938 Transliteration and comment byReinhard Müller [1] April 9, 1938 Ich fürchte ich habe Ihnen schändlicher Weise nicht sofort und noch nicht für ihren prompten und gütigen Brief gedankt! Akzeptieren Sie bitte noch: sehr sehr herzlich! Und die Dinge haben sich inzwischen von verschiedenen Seiten mit Zeitraffertempo entwickelt. Ich war also in Cornell. Wundervoll gelegen etc. die Kollegen - abgesehen von [Leonard Slater] Cottrell, [2] der ausgezeichnet ist - belanglos und uninteressant. Das war ziemlich enttäuschend. Ich war einen Tag dort, das Seminar verlief gut, einige Studenten waren sehr rege in der Diskussion, Cottrell, der [Karl] Mannheims Buch kannte, [3] griff in die Diskussion mit guten Fragen etc. ein, von nachträglichen Komplimenten etc. schliesse ich, dass ich gut gefallen habe. Endgültigen Bescheid sollte ich am 15. bekommen. Inzwischen habe ich von Michigan ein definitives offer bekommen und ich habe mich nach dem ich etwas näher gesehen habe, wie die Dinge in Cornell stehen, für Michigan entschieden, selbst wenn das appointment dort nur vorübergehend sein wird. Abgesehen davon, dass es eine gute Empfehlung für die Zukunft wäre, hoffe ich bis zum Juni nächsten Jahres halt wieder etwas anderes zu finden, ein summerschool appointment und dann vielleicht für September nächsten Jahres ein neues job. Vielleicht gefalle ich den Leuten auch gut genug, dass sie sich ein wenig persönlich darum kümmern und mich zu gegebener Zeit aufmerksam machen auf eine andere Stelle. Bis dahin hoffe ich auch ein wenig veröffentlicht zu haben, so dass ich etwas bekannt werde. Das also waren die Motive, und ich bin sehr froh, dass das zu stande gekommen ist. In zwischen scheinen sich einige deutsche Stellen nach mir unzutun [!]. Ich erhielt gerade heut einen Brief der Londoner Botschaft, der an eine "offizielle" Adresse gerichtet war (tatsächlich hab ich garnicht dort gewohnt). Aufforderung "zur Erledigung einer Anfrage" zu erscheinen!!!! Nun die kleine Anfrage wird mir noch früh genug zukommen. Hoffentlic[h] [4] antwortet der Konsul in Kuba günstig, dass ich schnell das permanent visa bekomme, dann sollen mir die deutschen Behörde[n] gestohlen bleiben. So habe ich noch immer Angst, dass ich dep[or]tiert werden könnte und dergleichen, aber das ist vielleicht silly. Ich werde den Leuten halt den Brief zeigen und sagen, es ist too bad - wenn es hart auf hart kommen sollte. Jedenfalls bin ich über den ersten Berg - beinah - weg. Gott sei Dank! Alle diese troubles waren ein schreckliches handicap für die Arbeit[: die] Masse von Korrespondenz, worries, herumlaufen und dergleichen - augenblicklich renne ich umher, um 3000 questionnaires an den Mann zu bringen. Sehr interessant z[um] T[eil] so verschiedene Leute [zu] treffen, church people zumeist. Hoffentlich bekomme ich gute results. Nebenher suche ich mich durch die amerikanische Soziologie zu wühlen. Mon Dieu quelle embarras de richesse - wenigs[tens] den Bänden und der Seitenzahl nach. Nun, Sie kennen das genugs[am.] Sind Sie im Juni in Chicago? Bitte lassen Sie mich wissen, ob [ich] Sie sehen werde, wenn ich dorthin komme auf dem Wege nach Urba[na]. Und nochmals Tausend Dank! Und Beste Wünsche für Ihre Arbeiten[!] Herzlich Ihr Hans Gerth Das Original dieses Briefes befindet sich im Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich, Graz, Nachlass Ernest Manheim, Signatur 31/1. Hans Heinrich Gerth (*Kassel 1908, †Frankfurt am Main 1978), amerikanischer Soziologe deutscher Herkunft; emigrierte 1938 in die USA; 1939-1940 Assistant Professor of Sociology an der University of Illinois in Urbana, Ill.; 1940-1947 Assistant Professor, 1947-1958 Associate Professor und seit 1958 Professor of Sociology an der University of Wisconsin in Madison, Wis. Anm. R.M. [2] Leonard Slater Cottrell (*Hampton Roads, Va. 1899, †Chapel Hill, N.C. 1985), amerikanischer Sozialpsychologe und Soziologe; 1935-1938 Assistant Professor und 1938-1948 Professor of Sociology an der Cornell University in Ithaca, N.Y. Anm. R.M. [3] Karl Mannheim (d.i. Károly Mannheim; *Budapest 1893, †London 1947), Cousin von Ernest Manheim; deutsch-britischer Soziologe österreichisch-ungarischer Herkunft, emigrierte 1933 nach Großbritannien. Beim "Buch" handelt es sich wohl um Karl Mannheim: Ideology and utopia: an introduction to the sociology of knowledge; with a preface by Louis Wirth. (Translated from the German by Louis Wirth and Edward Shils.) London / New York: Kegan Paul, Trench, Trubner & co. / Harcourt, Brace and company 1936; zuerst deutsch: Ideologie und Utopie. Bonn: F. Cohen 1929 (= Schriften zur Philosophie und Soziologie. 3.). Anm. R.M. [4] Der Brief weist in der Folge Textverlust durch Ausriss auf, der hier in [] rekonstruiert wurde. Anm. R.M. |