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Brief von Ferdinand A. Hermens an Ernest Manheim in London. Washington, D.C., am 23. Dezember 1937 Transliteration and comment byReinhard Müller [1]
zwar weiss ich nicht, ob mein Schreiben Sie noch zeitig erreicht, aber jedenfalls wünsche Ich Ihnen viel Glück zum Neuen Jahr und ausserdem nachträglich auch Frohe Weihnachten. Sicher aber gestatten Sie mir, dass ich Ihnen vom Herzen zum Ph.D. gratuliere. Es ist doch ein grosser Vorteil, dass Sie sich diese weitere Qualifikation in London und gerade da verschafft haben; in den USA wird das sicher sehr ins Gewicht fallen. Sie überlegen, ob Sie nach USA kommen sollen. Dabei werden Sie sich über eine grundsätzliche Frage klar sein: Nämlich die, dass der Dozent hier im Lande einfach ein "teacher" wie so viele andere ist, den man zwar braucht, aber darum nicht eigentlich höher einschätzt als eine Gouvernante. Diese "teachers" haben zudem sonderbare Ideen, entweder "radical" oder theoretisch und unpraktisch. Das Nummer eins. Wenn Sie es finanziell nicht sofort sehr gut treffen, haben Sie es schwer, auf ein Niveau zu kommen, wo Sie etwa ohne Sorge ein Dienstmädchen haltenkönnen [!], sei es auch eine Schwarze, die Sie unter $30 im Monat absolut nicht haben und die dann gerade tut was sie will und wie alle gemütvollen Schwarzen alle 14 Tage ihre Stellung wechselt. Dann kommt das wissenschaftliche Niveau. In Ihrem Fall sollte man ja annehmen, das[s] Sie Glück haben und sofort zu einer der grossen Universitäten kommen. Bitte, lassen Sie nichts unversucht, um das zu erreichen, und auch wenn es Ihnen nicht liegt, für sich selbst zu sprechen, so tun Sie es in diesem Falle im Interesse Ihrer Familie. Nur an einer grossen Universität können Sie Ihren Studenten wirklich das geben, was Sie wollen. Auch da werden Sie über eines überrascht sein: Dass amerikanische Soziologie ein Mädchen für alles ist, dass [!] man vergnügt jedes Gebiet soziologischer Behandlung unterwirft - d[as] h[eisst] daraus eine Reihe von "facts" nimmt und die armen Studenten sie einpauken lässt. An systematische Auswahl des Tatsachenmaterials und an daraus zu ziehende Schlussfolgerungen denkt man nicht. Das müssen Sie einmal überstehen; man gewöhnt sich auch daran. Kommen Sie aber an eine kleinere Universität, so mag es Ihnen gehen wir mir: dieses Semester 12 Wochenstunden Kolleg und nächstes 14. Das wäre alle e[r]träglich, wenn es sich um Gebiete handelte, auf denen ich publizieren möchte. Aber nein - alles was niemand sonst wollte, und rotieren tut man nicht. Auch das ist in späteren Jahren keineswegs so schlimm wie im ersten. Aber regelrecht häuten muss man sich da zunächst, und inzwischen flucht man ungefähr ebensoviel wie man arbeiten muss. Zuletzt nimmt man folgende Lösung: Interessiert sich bei den Studenten, namentlich bei den undergraduates, vor allem für die menschliche Seite, erwartet sonst nicht viel, und wo man wissenschaftliches Interesse findet, nimmt man es als dankbare Zugabe. In unserem Falle ist das bei den Graduates wesentlich besser, da es sich meistens um Geistliche handelt, welche ihre Diözesen schicken, um in ihnen Fachleute für wirtschaftliche und soziale Fragen zu haben. Das Material ist ausgezeichnet - aber die Vorbildung! Nationalökonomie ist ein wenig vom College dabei, und das ist oft grauenhaft. Nun ist der geistige Standard sonst so hoch, dass die Leute ungern nocheinmal mit elementaren Dingen beginnen. Das aber müssen Sie, wenn sie als Nationalökonomen zu etwas kommen wollen, und so bleiben denn eben auch da die Probleme. - Nun ist das alles aus individueller praktischer Erfahrung heraus geschrieben, es soll nicht verallgemeinert werden, übrigen[s] nicht einmal zeitlich, da sich unsere Universität in den Sozialwissenschaften vielleicht schon bald sehr heben wird. Aber eines ist sicher: Man reibt sich zunächst an vielen vielen Dingen, kommt etwas in den Ruf eines hochmütigen Kritikers und wird missverstanden. Ehe anderes kommt, muss man das rein physisch überleben. - Daher: Wenn Sie nach hier kommen, sollten Sie sich bewusst sein, was Sie vorfinden werden. Europäische Kultur ganz bestimmt nicht, und ein noch so bescheidenes Plätzchen irgendwo in Europa wäre besser als ein guter Platz hier. Wenn Sie aber sich die Dingen [!] hier ansehen wollen, tun Sie es in Gottes Namen. 6 Versuchsmonate sind eine ausgezeichnete Sache, und die hiesigen Hilfskomitees (die Adressen haben Sie ja wohl in London, sonst schreibe ich Sie Ihnen) werden Sie dirigieren. An sich ist trotz der Ueberfülle der Deutschen die Lage jetzt besser, da die Studentenziffern steigen und neue Leute gebraucht werden. Wenn Sie einmal drin sind, werden Sie von selbst weiter kommen - es sei denn das[s] etwas Ungewohntes dazwischen kommt, was es kann, was aber Sie wohl verhindern können. Ueber meine hiesigen Arbeiten habe ich mit dem Vorstehenden wohl ge[n]ug gesagt. Ein gemeinsam mit Prof. Briefs [2] zu schreibendes Buch über Sozialversicherung ist immer noch in den Anfängen; wenn ich nächsten Sommer Zeit habe und Geld um aus Washington zu kommen, sollte ein Buch über den französischen Faschismus fertig werden, und zu dem kommt noch ein Plan - immer nur Pläne -, nämlich endlich eine englische Ausgabe meiner Wahlrechtsarbeit [3] zu machen, für die verlegerisches Interesse da ist, wofür ich aber ein M[anu]s[kript] brauche. Ich versuchte im Semester etwas daran zu tun und war sofort überarbeitet. Nun haben wir einige Tage Ferien, und bisher habe ich mich nur mit rückständiger Korrespondenz befasst. Was bei allem möglich war, sind einige Artikel im Oesterreichischen Volkswirt, pseudonym in der "Hilfe" und jüngst ein Artikel über Proporz in "Social Research", der viel Aufsehen erregte, und für mein Buch jetzt gute Konjunktur schaffen würde - aber davon schrieb ich ja. Und so verbringt man sein[e] kurzen Tage. Nun sind das die ersten zwei Jahre; ich fühle mich trotz allem frischer als seit Jahren, aber es ist doch nicht, was es sein sollte. Hoffentlich kommen Sie bald nach hier; wir würden uns sehr freuen, Sie und Ihre Frau hier begrüssen zu können. Und dann könnte man mündlich ja manches mehr sagen. Sehr würde ich mich freuen, über Ihre Eindrücke von Mitteleuropa zu hören. Sobald Ihr neues Buch erscheint, würde ich mich freuen, es zu sehen, ich werde versuchen, in einer amerikanischen Zeitschrift eine Rezension unterzubringen. Bitte, entschuldigen Sie den konfusen Stil dieses Schreibens, mir rumort es noch im Kopf von allerhand Semestereindrücken und sonstigen Dingen, und so komme ich schwer zur Sammlung. Aber ich habe bei Ihnen immer so viel freundliches Verständnis gefunden, dass ich auch jetzt darauf hoffe. Mit verbindlichen Grüssen Ihr Ihnen ergebener F.A. Hermens Bitte, empfehlen Sie mich Prof. K. Mannheim. [4] Erinnert sich Laski [5] meiner viel? Auf ihn wollte ich da seit immer eine grosse Attacke loslassen, da er den Gegnern der Demokratie doch zu sehr in die Hände spielt, liesse ihn denn aber gern vorher das M[anu]s[kript] sehen. Brief, irrtümlich 1936 datiert. Das Original dieses Briefes befindet sich im Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich, Graz, Nachlass Ernest Manheim, Signatur 31/1. Ferdinand Aloys(ius) Hermens (*Nieheim 1906, †Rockville, Md. 1998), deutscher Politologe und Nationalökonom; emigrierte 1934 nach Großbritannien und 1935 in die USA; 1935-1938 Assistant Professor of Economics an der Catholic University of America in Washington, D.C., 1938-1945 Assistant Professor und 1945-1959 Professor of Political Science an der Notre Dame University, Ind.; vorübergehende Rückkehr in die BRD 1959. Anm. R.M. [2] Ferdinand A. Hermens war in Deutschland Assistent von Goetz Anton (Antony) Briefs (*Eschweiler 1889, †Rom 1974), amerikanischer Nationalökonom und Finanzexperte deutscher Herkunft; emigrierte 1934 in die USA; 1934-1937 Visiting Professor an der Catholic University of America in Washington, D.C., 1937-1962 Professor of Economics and Finance an der Georgetown University in Washington, D.C. Anm. R.M. [3] Vgl. Ferdinand A[loys] Hermens: Demokratie und Wahlrecht. Eine wahlrechtssoziologische Untersuchung zur Krise der parlamentarischen Regierungsbildung. Paderborn: Schöningh 1933 (= Görres-Gesellschaft. Sektion für Sozial- und Wirtschaftswissenschaft: Veröffentlichungen. 6.), 186 S. Anm. R.M. [4] Karl Mannheim (d.i. Károly Mannheim; *Budapest 1893, †London 1947), deutsch-britischer Soziologe österreichisch-ungarischer Herkunft; Cousin von Ernest Manheim; 1933 Emigration nach Großbritannien. Anm. R.M. [5] Harold Joseph Laski (*Manchester 1893, †London 1950), britischer Politiker und Politikwissenschaftler; Professor of Political Science an der London School of Economics; führendes Mitglied der Fabian Society, strebte eine Synthese der Traditionen der britischen Arbeiterbewegung mit der Theorie des demokratischen Sozialismus an. Anm. R.M. |