Brief von Julia Mannheim an Ernest Manheim in Kansas City, Mo. London, am 21. Februar 1947
Übersetzung von Karin Eisner
Kommentar von Reinhard Müller [1]

5 The Park
London N.W. 11.
21.2.1947.

Lieber ! Es tut mir sehr leid und ich schäme mich fast dafür, dass ich Deinen warmen Brief, für den ich Dir sehr dankbar bin, erst heute beantworte. Auf die Gründe für diese verspätete Antwort will ich jetzt nicht näher eingehen, nur soviel dazu, dass das schlimmste Unglück, das mir je widerfahren konnte, über mich hereingebrochen ist und ich mit der Erledigung von den vielen anfallenden administrativen Arbeiten und anderen Sorgen des Alltags beschäftigt war. Die vielen Beileidsbekundungen, die aus allen Teilen der Welt bei mir eintrafen und von Freunden kamen, die aus der wärmsten Ecke ihres Herzens schrieben, konnte ich über Wochen hinweg nicht öffnen. In aller Eile habe ich auch die Liste der Publikationen zusammengestellt. Es kann sein, dass sie etwas unvollständig ist, aber im großen und ganzen müsste sie passen.

Ich bin Dir schon im voraus dankbar für Deinen Nachruf, [2] den niemand adäquater verfassen kann als Du. Zwar haben auch Clarke, T.S. Eliot und Lindsay [3] darinnen einen Nachruf geschrieben, aber niemand von ihnen hatte wirklich eine Ahnung von dem, was Karl tatsächlich gedacht und getan hat.

Seit 1945 war Karl in einer zufriedenen Arbeitssituation. Nach der furchtbaren Frustration an der London School of Economics, wo ihm Ginsberg [4] seit 1939 nicht mehr erlaubt hat, sein eigenes Fach zu unterrichten, hatte er einen Lehrstuhl an der University of London erhalten, wo er über die Principles of Education aus sozialer Perspektive gelehrt hat. [5] Er hatte eine rund 800köpfige Hörerschaft. Bis er dahin gekommen war, musste er so viele Irrwege machen, und ich denke hier z.B. an die Schriftleitung der International Library for Sociology and Social Reconstruction, [6] so dass ihn das tödlich ausgelaugt hat. Und als sich ihm das Gelobte Land eröffnet hat, war er müde, und sein Herz hörte auf zu funktionieren. Sein Mörder ist der Ginsberg und das Land, das nur fähig ist zu nehmen, aber nicht imstande ist, etwas zu geben. [7] Wie recht hat Karl gehabt, Dir zu sagen, dass Du von hier so rasch als möglich weggehen sollst. Jetzt zerbrechen sie sich den Kopf und denken darüber nach, wer ihnen auch nur einen Teil von dem geben könnte, was Karl ihnen gab. Einige Wochen vor seinem Tod hat man Karl die Leitung der Unesco in Europa angeboten und vorgeschlagen, sie dem Institute of Education anzuschließen. [8] Die Pläne dafür waren in seinem Kopf fertig, und ich weiß, dass er auch für Dich Pläne hatte. Viele Bücher und Manuskripte sind unvollendet geblieben, vor allem das letzte Buch, an dem er 6 Jahre gearbeitet hatte, mit dem Titel "Essentials of Democratic Planning", [9] das er im Auftrag des Chatham House geschrieben hat. [10] Im Sommer wollte er das ungeheuer viele Material, das er schon bearbeitet hatte, in eine endgültige Form bringen, aber leider hatte er dafür keine Zeit mehr.

Ich selbst habe eine psychoanalytische Praxis. [11] Nur die Arbeit keeps me going.

Ich möchte gern von Dir, Anne und dem Kind alles hören, und ich habe mit Freude vernommen, dass Deine Mutter und Greti wohl behalten sind. [12]

Du weißt, dass Tante Rosa und Onkel Gustav gestorben sind.[13]

Ich hätte es sehr gerne, wenn man in Amerika versuchen könnte, die nicht herausgegebenen Arbeiten Karls fertigzustellen, weil seine alten Schüler und die, die seine Gedanken gekannt und verstanden haben, alle in Amerika sind. Vielleicht fällt Dir in diesem Sinne etwas ein. [14]

Viele warme Grüße an Euch alle. In alter Freundschaft
Juliska




[1]  
Am 9. Jänner 1947 starb Karl Mannheim in London. Sechs Wochen später schrieb seine Witwe, die Psychologin und Psychoanalytikerin Julia Mannheim (geborene Károlyné Júlia "Juliska" Láng; *Budapest 1893, †London 1955) aus London an Karls Cousin Ernest Manheim in Kansas City, Mo.
Zuerst abgedruckt in: Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich. Newsletter (Graz), Nr. 16 (Dezember 1997), S. 14-16. Das Original dieses Briefes befindet sich im Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich, Graz, Nachlass Ernest Manheim, Signatur 31/1. Anm. R.M.

[2]  
Vgl. Ernest Manheim: Karl Mannheim 1893-1947, in: The American Journal of Sociology, 52. Bd., Nr. 6 (Mai 1946), S. 471-474. Anm. R.M.

[3]  
(Seit 1943) Sir Fred Clarke (*High Coggy, Witney 1880, †London 1952), britischer Pädagoge, 1936-1945 Director des Institute of Education an der University of London; T[homas] S[tearns] Eliot (*Saint Louis, Mo. 1888, †London 1965), amerikanisch-britischer Dichter; Alexander Dunlop Lindsay, 1st Baron Lindsay of Birker (*Glasgow 1879, †Keele 1952), britischer Moralphilosoph. Anm. R.M.

[4]  
Morris Ginsberg (*Litauen 1889, †Highgate 1970), britischer Soziologe; kam als Kind nach Großbritannien; 1929-1954 Professor of Sociology an der London School of Economics and Political Science. Anm. R.M.

[5]  
Karl Mannheim war 1933-1945 Lecturer in Sociology an der London School of Economics and Political Science und 1941-1945 Lecturer am Institute of Education an der University of London, wo er 1945 Chairman of Education wurde. Anm. R.M.

[6]  
1942 von Karl Mannheim gegründete Schriftenreihe (London-New York). Anm. R.M.

[7]  
Dieser zweifelsohne unhaltbare und auch ungerechtfertigte Vorwurf lässt sich wohl nur aus der psychischen Ausnahmesituation, in der sich die Witwe befand, erklären. Anm. R.M.

[8]  
Karl Mannheim wurde 1946 als Vorsitzender der Europäischen Kommission der UNESCO designiert, konnte das Amt aber aus Gesundheitsgründen nicht mehr antreten.

[9]  
Vgl. Karl Mannheim: Freedom, power, and democratic planning. New York: Oxford University Press 1950. Anm. R.M.

[10]  
Das Chatham House, ehemals Wohnsitz des Earl of Chatham in London, ist Sitz des 1920 gegründeten Royal Institute of International Affairs. Anm. R.M.

[11]  
Julia Mannheim hatte 1918 in Budapest das Diplom als Psychologin bei Géza Révész (1878-1955) erworben. Anm. R.M.

[12]  
Gemeint sind die Ehefrau von Ernest Manheim, Anna Sophie (Ann Sophy), geborene Vitters (*Osnabrück 1899, †Kansas City, Mo. 1988), und deren Sohn Tibor (Frank Tibor) Manheim (*Leipzig 1930), der als Geochemiker Universitätskarriere machte. Die Mutter von Ernest Manheim ist Hermine Manheim, geborene Wengraf, wiederverheiratete Déri (1870-1953), "Greti" seine Schwester Margit, verheiratete Ivan (1899-1974). Anm. R.M.

[13]  
Gemeint sind die Eltern von Karl Mannheim, Rosa Mannheim, geborene Eylenburg, und Gusztáv (Gustav) Mannheim. Anm. R.M.

[14]  
Vgl. Karl Mannheim: Essays on the sociology of culture. Edited by Ernest Manheim in cooperation with Paul Kecskemeti [d.i. Pál Kecskeméti]. New York: Oxford University Press 1956. Anm. R.M.