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Brief von Franz L. Neumann an Ernest Manheim in Chicago, Ill. Des Moines, Iowa, am 11. März 1937 Transliteration and comment byReinhard Müller [1] Des Moines Public Schools Department of Adult Education Division of Public Forums Garfield Building, Des Moines, Iowa 11.III.37. Seien Sie als Erstes herzlichst begrüßt auf der besseren Hälfte der Erdkugel. Ich hörte von Ihrem Hiersein bereits durch Louis Wirth, [2] den ich letzten Sonnabend in Chicago traf. Hoffen wir, daß Sie bald Ihren permanenten Stammsitz hier aufbauen können. Ich will gern alles tun, was in meiner Macht ist, Ihnen dazu zu verhelfen. Es wird sich leider in erster Linie auf Informationen und Tips beschränken, da wie Sie sich denken können von meiner New England Klause aus meine Wirkungsmöglichkeit nicht gerade weit reicht. Aber fragen Sie mich bitte um alles, was ihnen fraglich erscheint. Am besten sprächen wir baldigst mündlich über Alles. Wie Sie aus dem Briefkopf ersehen bin ich z[ur] Z[eit] im Middle West, wo ich für 3 Wochen als Forum Leader fungiere. Es ist ein Musterinstitut für Erwachsenenbildung vom Ministerium für Erziehung eingerichtet. Höchst ehrenvoll für mich, daß sie auf mich verfallen sind (sie kannten zum Glück meine Berliner Tätigkeit als Leiter des Volksbildner-Seminars) aber es ist eine Heidenarbeit. 30 Vorträge innerhalb 3 Wochen, mit anschließenden 11/2 stündigen offenen Diskussionen. Ich will froh sein, wenn ich es glücklich überstanden habe und noch lebe. In diesem Falle beabsichtige ich über Ostern in Chicago zu bleiben und da mir Wirth mitteilte, daß Sie auch in Kürze in Chicago sein werden, hoffe ich sehr, daß wir dort eine ausführliche Verabredung treffen können. Bitte schreiben Sie mir, wann und wo ich Sie dort treffen kann. So weit ich die Situation übersehen kann, sind die Aussichten im Middle West besser als im Osten. Die Gesamtlage hat sich im Laufe der letzten drei Jahre wohl verbessert. Auf der anderen Seite ist das Interesse an dem Einströmen "Deutscher Emigranten" nicht nur abgeflaut, sondern von vielen Seiten werden wir mehr und mehr als reine Konkurrenz angesehen (was Sie besser Amerikanern nicht erzählen). Das soll Sie keineswegs entmutigen (auch wenn Sie von einigen Freunden an der New School for Social Research in diese Richtung gehende Hinweise bekämen), sondern Ihnen nur klar machen, daß wir nicht auf Wohltätigkeiten rechnen sollen (was wir ja ohnedies nicht wollen), sondern nur auf Grund persönlicher Leistung es zu etwas bringen können! Und hierbei müssen wir jetzt den Vergleich mit jedem Amerikaner bestehen, der natürlich was Sprache und American background anbelangt uns immer überlegen sein wird. Das Wichtigste ist deshalb: möglichste Sprachbeherrschung und Einfühlung in die besonderen Bedürfnisse amerikanischen Erziehungswesens. Bis auf wenige große Universitäten (Chicago, Harvard, Columbia - und selbst da ist es zweifelhaft) ist es grundverschieden von unseren Erfahrungen. Auf Grund meiner eigenen Erfahrung kann ich nur sagen, daß die meist viel aufreibendere und unangenehme Tätigkeit an einem kleinen Platz wie Wesleyan auf lange Sicht sicherlich viel besser ist, als Wirksamkeit in New York, Chicago u.s.w. wo Sie nicht so unter dem Druck einer Anpassung stehen, und sich zunächst natürlich viel wohler fühlen würden. Haben Sie das Emergency Committee in Aid of Displaced German Scholars [3] aufgesucht? Prof. [John] Whyte [4] kann Ihnen wenigstens einige Hinweise geben. Von der New School ist natürlich der Erfahrenste Alvin Johnson. [5] Aber auch [Eduard] Heimann, [6] [Emil] Lederer, [7] [Karl] Brandt [8] und - wie mir scheint - vor allem [Gerhard] Colm [9] haben einige Beziehungen im Lande. Ich würde Ihnen gern persönlich Winke geben, aber das besser mündlich. Ihre Spezialisierung auf Anthropologie ist, so weit ich sehen kann, eine sehr glückliche Wahl. Trotzdem müssen Sie natürlich damit rechnen, alles zu unterrichten, was sich bietet. Und zu große Spezialisierung ist vor allem an kleineren Plätzen eine Erschwerung für Unterbringung. Das bedeutet natürlich nicht eine Aufforderung zu Hans Dampf in allen Gassen; sondern im konkreten Falle gilt es, die goldene Mitte zu halten! - Auf baldigst und inzwischen mit den besten Wünschen Ihr
Frz Neumann. Das Original dieses Briefes befindet sich im Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich, Graz, Nachlass Ernest Manheim, Signatur 31/1. Franz Leopold Neumann (*Kattowitz [Katowice] 1900, †Visp, Schweiz 1954), amerikanischer Sozial- und Politikwissenschaftler deutscher Herkunft; 1928-1933 Dozent an der Hochschule für Politik in Berlin, 1933 als führender sozialdemokratischer Parteifunktionär vorübergehend verhaftet; emigrierte 1933 nach Großbritannien (Forschungen an der London School of Economics, Ph.D. 1936) und 1936 in die USA; 1936-1942 Mitarbeiter am Institute for Social Research in New York, N.Y., seit 1950 Professor of Public Law and Government an der Columbia University. Anm. R.M. [2] Louis Wirth (d.i. Alois Wirth; *Gemünden, Hunsrück 1897, †Chicago, Ill. 1952), amerikanischer Soziologe deutscher Herkunft (kam bereits 1911 in die USA); 1926-1928 Instructor, 1931 Assistant Professor, 1932-1940 Associate Professor, 1940-1952 Professor of Sociology an der University of Chicago in Chicago, Ill. Anm. R.M. [3] Emergency Committee in Aid of Displaced Foreign Scholars: 1933 in New York gegründete Flüchtlingsorganisation für Universitätsangehörige aus Deutschland (später auch aus Österreich); 1945 aufgelöst. Anm. R.M. [4] John Whyte (*Watertown, Wis. 1887, †New York, N.Y. 1952), amerikanischer Germanist; 1935-1937 Assistant Secretary des Emergency Committee in Aid of Displaced Foreign Scholars; seit 1937 Professor of German am Brooklyn College in New York, N.Y. Anm. R.M. [5] Alvin Saunders Johnson (*bei Homer, Nebr. 1874, †New York, N.Y. 1971), amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler; 1923-1945 Director der 1919 gegründeten New School for Social Research in New York, N.Y. Die New School's Graduate Faculty of Political and Social Science wurde 1933 als eine "University in Exile" eingerichtet, an der bis 1945 etwa 170 mitteleuropäische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Künstlerinnen und Künstler lehrten. Anm. R.M. [6] Eduard Heimann (*Berlin 1889, †Hamburg 1967), deutsch-amerikanischer Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler; emigrierte 1933 in die USA; 1933-1958 Professor of Economics an der New School for Social Research in New York, N.Y.; 1963 Rückkehr in die BRD. Anm. R.M. [7] Emil Lederer (*Pilsen [Plzen] 1882, †New York, N.Y. 1939), deutsch-amerikanischer Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler österreichisch-tschechischer Herkunft; emigrierte 1933 in die USA; seit 1933 erster Dean der Graduate Faculty of Political and Social Science der New School for Social Research in New York, N.Y. Anm. R.M. [8] Karl Brandt (*Essen 1899, †Menlo Park, Calif. 1975), amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler deutscher Herkunft; emigrierte 1933 in die USA; 1933-1938 Professor of Agricultural Economics an der Graduate Faculty der New School for Social Research in New York, N.Y., 1938-1961 Professor of Economy and Agricultural Economics an der Stanford University. Anm. R.M. [9] Gerhard Colm (*Hannover 1897, †Washington, D.C. 1968), amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler deutscher Herkunft; emigrierte 1933 in die USA; 1933-1939 Lecturer und 1938 Dean der Graduate Faculty der New School for Social Research in New York, N.Y.; ab 1939 hochrangiger US-Regierungsbeamter. Anm. R.M. |