Otto Wolf

Zur Geschichte des Lagers

Beiträge zur Heimatkunde von Mitterndorf a. d. Fischa (Mitterndorf a. d. Fischa), Nr. vom 31. Mai 1950, S. 49–53.

49

Zur Geschichte des Lagers

Zu den bedauernswürdigsten Opfern des Weltkrieges gehört wohl jene Bevölkerung der ehemals österreichisch-ungarischen Monarchie, welche in den von unseren ehemaligen Feinden bedrohten Grenzgebieten wohnten. Es musste deshalb eine der Hauptaufgaben der damaligen Heeresverwaltung sein, jene armen, oft so plötzlich ihrer Heimat beraubten Familien rechtzeitig in Sicherheit zu bringen, diesen aber auch vorübergehend eine zweite Heimat zu schaffen. Da viele Grenzgebiete schon aus »strategischen« Gründen geräumt werden mussten, war die Zahl jener Heimatlosen sehr groß. Zur Unterbringung dieser nach vielen tausenden zählenden Flüchtlinge kam zur Hauptsache Innerösterreich, insbesondere Niederösterreich in Betracht. Hier waren es wieder größere ebene Landstriche, welche für solche stadtähnliche Barackensiedlungen günstig erschienen.

Auf diese Weise entstand unser »Lager«, das zu den größten dieser Art gehörte. Wie, das lassen wir unserem Chronisten – Herrn Ob[er]l[ehrer] i[m] R[uherstand] Leopold Mozelt – wie folgt selbst erzählen:

»Bald nach Beginn des Krieges war in der ganzen Gegend große Nachfrage nach leerstehenden Gebäuden zu Kriegszwecken. Es wurde daher von der Stadtgemeinde Mödling die ihr gehörige, schon über 10 Jahre außer Betrieb stehende Fabrik der k[aiserlich] k[öniglichen] Bezirkshauptmannschaft, bez[iehungs]w[eise] k.k. n[ieder] ö[sterreichischen] Stadthalterei zur Verfügung gestellt. Es kamen Offiziere, welche das Gebäude besichtigten, ob es sich als Reservespital eigenen könnte, wurde aber als nicht geeignet befunden. Es wurde auch besichtigt mit der Absicht, es in ein Kriegsgefangenenlager zu verwandeln. Aber auch dazu war es nicht geeignet. Schließlich wurde es als Flüchtlingsunterkunftsort für geeignet befunden.

Am 14. November 1914 trafen die ersten Flüchtlinge – 125 Personen ein. Es waren Polen und Ruthenen aus Galizien. Sie kamen jedoch nicht direkt aus Galizien; es waren solche Leute, die im Frühjahr 1914 als Feldarbeiter von Galizien nach Böhmen und Deutschland reisten, um sich dort als Arbeiter beschäftigen zu lassen. Als sie im Herbste nachhause reisen wollten, war ihre Heimat von den Russen besetzt und so wurden sie hierher gebracht.

Täglich kamen neue Flüchtlinge nach, so 5, 10, 15 u[nd] s[o] w[eiter]. Am 22. November kamen 215 Flüchtlinge direkt aus Galizien an, die evakuiert worden sind. Darunter waren auch bessere Leute, so ein Postmeister, ein Statthaltereibeamter, eine Lehrerin, ein Fabrikleiter, ein Wirtschaftsverwalter usw. Nun waren im Ganzen schon 569 Flüchtlinge hier. Das Auskochen besorgte in den ersten 3 Wochen die hiesige Gastwirte Eberl und Widhalm und sie erhielten pro Person und Tag 70 Heller. Vom 4. Dezember an wurde das Auskochen einem Grünzeughändler Staudinger übertragen. Der k.k. Bezirksschulrat Mödling sorgte dafür, dass die unter den Flüchtlingen befindlichen 53 schulpflichtigen Kinder nicht ohne Unterricht blieben. Im ehemaligen Arbeiterwohnhaus[1] wurde ein Zimmer hergerichtet, Schulbänke aus der hiesigen Schule und auch eine Wandtafel hineingestellt. Die Unterrichtserteilung wurde der unter den Flüchtlingen befindlichen Lehrerin Fr[äu]l[ein] Marie Rydz übertragen.

50

Dieselbe unterrichtete Ruthenisch und Polnisch. Der Unterricht begann am 3. Jänner 1915, hatte aber anfangs sehr viel Unterbrechungen durch die Feiertage. Die Polen wahren meist röm[isch]-kath[olisch], die Ruthenen griech[isch]-kath[olisch]. Die Feiertage der griech.-kath. fallen um 13 Tage später als die unsrigen und mussten ebenfalls gehalten worden, weil die meisten Flüchtlinge griech.-kath. waren. Am 23. Jänner 1915 kam von der k.k. Bezirkshauptmannschaft Mödling der Auftrag, dass alle ruthenischen Flüchtlinge nach Gmünd abzugehen haben und wurden diese am 25. Jänner 1915 dorthin überführt. Es blieben nun nur 123 Polen zurück. Aus der Fabrik sollte vorübergehend eine Kaserne werden, aber den Offizieren gefiel es in Mitterndorf nicht und so unterblieb dies. Um das Lokal auszunützen, kamen Rumänen aus der Bukowina hieher und zwar solche Leute, die aus dem Militärstande entlassen wurden, aber nicht nachhause konnten, weil ihre Heimat vom Feinde besetzt war. Die Zahl der Rumänen betrug beiläufig 400. Am 25. Februar brach unter den Rumänen der Flecktyphus aus und das Flüchtlingslager wurde abgesperrt. Es erkrankten im ganzen 18 Personen und starben davon 3. Die erkrankten Personen wurden separiert und die Gesunden sofort gründlich entlaust. Durch diese Maßregel wurde man der Krankheit bald Herr. Am 20. Mai wurde die Epidemie für erloschen erklärt und die Rumänen durften teils nachhause gehen, die Tauglichen mussten wieder Einrücken. Nun brach der Krieg mit Italien aus und Mitterndorf wurde als Flüchtlingslager für die evakuierten Südtiroler italienischer Nation bestimmt.

Am 31. Mai 1915 kamen ungefähr 2.000 an. Nun wurden Baracken gebaut. Anfangs war das Lager für 12.000 Flüchtlinge bestimmt, die in 40 Baracken und im Fabrikgebäude untergebracht werden sollten. Aber bald erwies sich das Lager als zu klein und es wurden weitere 48 Baracken gebaut. In diesen 96 Baracken sollten 16.000 Flüchtlinge untergebracht werden. Gleichzeitig mit den ersten 48 Baracken wurde eine Schule mit 8 Lehrzimmern gebaut. Auch eine Barackenkirche wurde errichtet. Als die zweiten 48 Baracken gebaut wurden, wurde eine zweite Barackenschule mit 8 Lehrzimmern und bald auch noch eine dritte solche Schule gebaut. Unter den Flüchtlingen befanden sich über 40 Lehrerinnen aber nur 2 männliche Lehrer. Die männlichen Lehrer aus Südtirol waren alle einberufen. Bevor die ersten Barackenschule fertiggestellt wurde, wurden die Flüchtlingskinder im hiesigen Schulhause unterrichtet. Für die hiesigen Kinder waren gerade Ferien. Die Flüchtlingskinder wurden in 4 Gruppen eingestellt. Die 1. Gruppe wurde von 8–10 Uhr, die 2. Gruppe von 10–12 Uhr, die 3. von 2–4 Uhr, die 4. Gruppe von 4–6 Uhr unterrichtet.

Die unterrichtenden Lehrpersonen sowie der pensionierte Oberlehrer CARLO CORRADI erhielten außer ihrem Gehalt noch eine Zulage von 60 Kronen monatlich. Den Religionsunterricht erteilte der Pfarrer aus SACCO Monsignore ALOIS BRUGNOLLI. Anfangs waren außer den Flüchtlingen aus Südtirol auch Flüchtlinge aus Görz [d.i. Gorizia, Italien; Anm. R.M.] und Triest [d.i. Trieste, Italien; Anm. R.M.] hier (ca. 700). Diese vertrugen sich aber mit den Südtirolern nicht und es wurde daher die Anordnung getroffen, dass die Flüchtlinge aus Görz, Gradiska [d.i. Bosanska Gradiška / Босанска Градишка, Bosnien und Herzegowina; Anm. R.M.] und Triest nach LANDEGG kamen und hier alle Flüchtlinge italienischer Nationalität aus Südtirol vereinigt werden sollten. Bald wurde der hiesige Friedhof zu klein und es wurde auf Kosten des Staates derselbe von der Barackenverwaltung erweitert.

51

Die Einweihung des erweiterten Friedhofes wurde vom Pfarrprovisor VIKTOR LUKASEK am 31. 0ktober 1915 vorgenommen. Der erweiterte Friedhof wurde bis Mitte Februar 1916 wieder voll und es wurde auf der sogenannten KASTNERWIESE ein eigener Flüchtlingsfriedhof errichtet.

Im Jahre 1916 wurden ein Waisenhaus und ein Kindergarten im Flüchtlingslager für Flüchtlingswaisen beziehungsweise Flüchtlingskinder errichtet. In der Schule im Flüchtlingslager wurde der Unterricht in 24 Lehrzimmern erteilt. Die 2.026 Schulkinder sind in 42 Klassen eingeteilt, und zwar 6 I Knaben, 6 I Mädchen, 6 II Knaben, 6 II Mädchen, 6 III Knaben, 6 III Mädchen, 6 IV Knaben, 6 IV Mädchen. Nach Aussage des Baracken-Schulinspektors DON CAESARE TISO dürften noch ca. 1.000 Schulkinder die Schule nicht besuchen.

Als im Jahre 1916 unsere Armeen wieder von den Russen über unsere Grenze nach Galizien hereingedrängt wurden und Lemberg [d.i. L'viv / Львів, Ukraine; Anm. R.M.] neuerdings in Gefahr war, von den Russen genommen zu werden, wurde im Lager für eine allfällige Evakuierung Lembergs vorgesorgt und das Lager durch das sogenannte neue Lager erweitert. Das neue Lager wurde auf den nach MOOSBRUNN gehörigen Wiesen errichtet. Ungemein gefällig sehen diese 190 Baracken dieses Lagers aus, deren stadtähnliche Anordnung durch die überall vor und zwischen den Häuschen stehenden Gartenkulturen allerliebst gehoben erscheint. Aus zweifachen Gründen, um die Arbeitslust anzuspornen und die Nahrungsbeschaffung zu erleichtern wurden an alle Flüchtlinge Ackerland und Samen kostenlos verteilt. Gleich wie in einer modernen Stadt wird das Lager von einem Kanalnetz durchzogen, eine Wasserleitung wurde gebaut und eine eigene elektrische Zentrale sorgte für die Beleuchtung.

Vorsteher des Barackenlagers war vom Juli 1915 bis Mai 1918 Herr VIKTOR Edler von IMHOF GEISZLINGERHOF, Konzipient der k.k. Bezirkshauptmannschaft in Ober-Hollabrunn, der mit der Leitung der Barackenverwaltung betraut war. Als er im März 1918 zum Bezirkskommissär der k.k. Statthalterei ernannt und dorthin versetzt wurde, wurde Herr Ing. FRIEDRICH SCHMIDKUNZ, Ing[enieur] der k.k. Bezirkshauptmannschaft in Wiener-Neustadt, der seit November 1915 bei der hiesigen Barackenverwaltung in Verwendung stand, die Leitung der Verwaltung anvertraut. Die beiden genannten Herren, die sich um die Gemeinde Mitterndorf viele Verdienst erworben haben, wurden zu Ehrenmitgliedern dieser Gemeinde ernannt.

Herr Oberinspektor CESARE LOSZ, ein Neffe [Alois] NEGRELLIS, des berühmten Suezkanalerbauers schildert die Flüchtlinge als sehr religiös und moralisch. Die Lagerverwaltung sucht das Schicksal der Verbannten möglichst erträglich zu gestalten, freilich ohne befriedigenden Erfolg. »Wir haben den Krieg, nicht gewollt, lasst uns in die Heimat gehen«, verlangten viele von ihnen. Manch ein Ungeduldiger zog fort. Allein ihre verwüsteten Wohnstätten boten noch keine Lebensmöglichkeit und jeder kehrte gern wieder ins Lager zurück. »Wir sollten alle Leute einmal heimreisen lassen können, dann würden sie uns zufriedener wiederkehren«, meint Oberinspektor LOSZ. 40 % der Flüchtlinge, meist holde Weiblichkeit, sind in den Lagerbetrieben beschäftigt. In einer Dampfbäckerei wird Brot gebacken.

52

Dampfwäscherein reinigen die Wäsche – Krankenwäsche in einem besonderen Abteil. In geräumigen Küchen werden in ungeheuren Kesseln für jene die Mahlzeiten bereitet, welche es nicht vorziehen, nicht selbst zu kochen. Kräftigere Suppen werden in der sogenannten Spitalsküche hergestellt.

Monsignore BRUGNOLLI aus Sacco und 8 Flüchtlingspriester betätigen sich als Seelenhirten der Lagergemeinde. Früher waren 12 Priester, 4 sind schon mit ca. 4.000 Flüchtlingen in ihre Heimat zurückgekehrt.

Großartig sind die Einrichtungen, die Fürsorge für die Erhaltung der Gesundheit zu nennen. Nur einiges sei hier angeführt. Die Desinfektion, die Badeanstalt, die Liegehalle, die Apotheke, das Krankenhaus mit fünf Infektionsbaracken, das bakteriologische Institut, ein Kinderspital, drei Siechenhäuser. Entzückend mutet das Kinderspital an. Rings unter der Decke läuft ein reizender Fries reihentanzender Kinder, in die Winkel und die Mitte des weisgehaltenen Raumes sind Blattpflanzen gestellt. Die weißgestrichenen Gitterbettchen stehen zumeist leer, nur einzelne Kinder sind da. Sieben Ärzte, einige aus den evakuierten Gebieten, mit dem Chefarzt ROSMARIN an der Spitze und Nonnen als Pflegerinnen betreuen die Patienten.

In der Schule werden gegenwärtig 36 Klassen, 18 Knaben- und ebensoviel Mädchenklassen 1750 Kinder von 23 weiblichen und 3 männlichen Lehrkräften unterrichtet. Die Unterrichtssprache ist italienisch, mit vier deutschen Sprachstunden wöchentlich. Alle Schulzimmer sind hell, luftig und mit modernsten praktischen Bänken ausgestattet. Im Lager sind auch 1 Kindergarten und 2–250 Kinder beherbergende Waisenhäuser. Ein genauer Kenner des Pfadfinderwesens, Hauptmann BARTOLATTI aus Triest hat den Pfadfinder-Knabenhort errichtet. 75 Knaben wohnen, essen, schlafen, lernen und exerzieren gegenwärtig in der Anstalt, doch will der Hauptmann die Zahl 300 erreichen. –

In einem Kaufhaus erhalten die Flüchtlinge die nötigen Waren zum Selbstkostenpreis. Die im Lager errichtete Schuhfabrik ist die größte Österreichs. 2000 Arbeiterinnen erzeugen 1500 Paar Schuhe im Tag. Sie arbeiten im Akkord und verdienen 40 bis 60 Kronen wöchentlich. Der Leiter gesteht, dass ihre Abrichtung ungemein mühevoll war. Auch eine Fabrik für bewegliche Holzsohlen birgt das Lager. Ein Postamt mit 5 Beamten, ein Telegrafen- und Telefonamt vermitteln den Verkehr. Eine Feuerwehr verstärkt durch Russen und Serben ist mit den modernsten Löschgeräten versehen. Eine vielköpfige vortreffliche Musikkapelle vereinigt die Musiker des von seinen Bewohnern verlassenen TRENTO. Auch Chorgesang pflegt man. Mit einem Taglohn von 4–6 Kronen, ganze Verpflegung, Wohnung und Kleidung sind Kriegsinvaliden als Wachen u. Aufseher angestellt.

Verunreinigungen, Schulversäumnis und andere Vergehen werden mit einer strengen Geldstrafe belegt. Diese Einnahmenkommen wieder den bedürftigen Flüchtlingen zu gute. In einem Kino werden täglich 3 Vorstellungen gegeben.

[1] Heute ist dies das Haus Lagerstraße 11, frühere Konskriptionsnummer 63, oder auch der »Hoftrakt« genannt. Anmerkung Arnold Krizsanits.