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Marie Jahoda über Marienthal fünfzig Jahre nach der Studie Gramatneusiedl, ehemaliges Fabrikgasthaus Marienthal, Juni 1980 Es war für mich sehr spannend. Das Straßenbild war total verändert. Die Häuser stehen noch immer, aber jetzt steht ein Auto vor jedem Haus, und manche Leute haben sich Wasser ins Haus leiten lassen, denn ursprünglich gab es Wasser nur draußen im Hof. Hundert, zweihundert Marienthaler sind ins Gasthaus, wo wir ein Zimmer gehabt hatten, gekommen, und sie haben alle behauptet, sie würden sich an mich erinnern. Aber vielleicht war das nur ihre Phantasie, denn viele von ihnen waren zu der Zeit noch Kinder. Sie haben allerlei Geschichten erzählt, wie sie damals über uns spekuliert haben, was wir wirklich dort wollten und warum wir da waren. Ihnen allen ist bewußt, daß die Studie Marienthal sie berühmt gemacht hat, sie waren alle sehr stolz darauf. Die meisten von ihnen hatten Exemplare der Suhrkampausgabe,1 und ich habe alle unterschreiben müssen. [...]Es gibt dort zwei neue Fabriken.2 Es war ganz tragisch, denn trotz all dem Schrecken der Arbeitslosenzeit in den dreißiger Jahren haben die Marienthaler immer wieder gesagt: »Aber in gewissem Sinne war’s damals doch besser als heute. Jeder hat jeden gekannt, die Leute haben einander geholfen, und jetzt sind die Menschen einander fremd.« Und dabei waren die wirtschaftlichen Zustände wirklich furchtbar zu der Zeit, wo wir die Studie gemacht haben. Die Leute haben sich auch genau daran erinnert, und trotzdem haben sie gesagt, daß es in gewisser Hinsicht damals besser war. Marienthal war in den dreißiger Jahren wirklich noch eine Gemeinschaft, und das ist verschwunden. Heute fahren alle Leute mit dem Auto zur Arbeit nach Wien oder sonst irgendwohin, haben nicht soviel Zeit und kennen einander nicht mehr. Ich fand das einen sehr erschreckenden Gedanken, daß das Gemeinschaftsgefühl mit dem relativen Wohlstand verschwunden ist, aber so haben sie es geschildert. Ich habe auch mit der jetzigen Wirtin des Gasthauses gesprochen. Sie ist mir wie eine nette, anständige, vernünftige Frau vorgekommen. Sie hat mir erzählt, daß sie während des Krieges in Marienthal beim Sohn des Fabrikanten3 Hausgehilfin war, und dann hat sie gesagt: »Und wissen Sie, obwohl der ein Jud’ war, war er doch ein anständiger Mensch.« Ihr war nicht bewußt, was sie sagt. So hat sie es erfahren und empfunden. Das hat mir einfach die Sprache verschlagen. Stefanie Engler und Brigitte Hasenjürgen: Biographisches Interview mit Marie Jahoda, in Marie Jahoda: »Ich habe die Welt nicht verändert«. Frankfurt/Main-New York: Campus Verlag 1997, S. 101-169, hier S. 113–114.
1 Vgl.
Marie Jahoda / Paul F[elix] Lazarsfeld / Hans Zeisel [d.i. Hans
Zeisl]: Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer
Versuch über die Wirkungen langdauernder Arbeitslosigkeit. Mit
einem Anhang zur Geschichte der Soziographie. (1. Auflage.)
Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975 (= edition suhrkamp. 769.).
Anmerkung
Reinhard Müller.
2 Tatsächlich
gab es 1980 nur eine Fabrik in Gramatneusiedl, die auf dem Gelände
der ehemaligen Textilfabrik Marienthal 1962 eröffnete
»Para-Chemie«, die vor allem Acrylglas herstellt. Der
Erinnerungsfehler dürfte darauf zurückzuführen sein,
dass man Marie Jahoda erzählte, dass es nach Schließung
der Textilfabrik Marienthal 1929/30 zwei kleine Nachfolgeunternehmen
gab: 1933 bis 1938 die Vigogne-Spinnerei des Wiener
Textilfabrikanten Walter Prade und 1934 bis 1958 die Weberei und
Appretur des Textilfabrikanten Kurt Sonnenschein, der 1938 nach
England flüchten musste, während sein Unternehmen 1938 bis
1945 »arisiert« war. Sonnenscheins Unternehmen wurde
1958 bis 1961 vom Wiener Textilfabrikanten Justinian Karolyi
weitergeführt.
Anmerkung Reinhard Müller.
3 Hier
liegt ein Irrtum der Erzählerin oder Marie Jahodas vor: Das
damalige Nachfolgeunternehmen der ehemaligen Textilfabrik
Marienthal, die Weberei und Appretur Kurt Sonnenschein, wurde 1938
vom deutschen Großindustriellen Fritz
Ries
(1907–1977) »arisiert«, ging 1940 an den deutschen
Unternehmer Adolf
Ahlers
(1899–1968) und kam erst nach dem Zweiten Weltkrieg an Kurt
Sonnenschein zurück, dessen gleichnamiger Sohn hier
angesprochen ist.
Anmerkung Reinhard Müller.
© Reinhard Müller -- Graz, im Oktober 2006 |
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