Marie Jahoda in der Exilszene und »Radio Rotes Wien«

London und Woburn, 1938–1945

Eine der Untersuchungen, die Marie Jahoda für den »War-time Social Survey« durchgeführt hatte, war eine Fragebogenerhebung unter Fabrikarbeitern. Ermöglicht wurde ihr dies durch den Labour-Funktionär Austen Albu (1903–1994), den sie bereits 1938 kennen gelernt hatte. Rasch verband sie eine tiefe Freundschaft, und als Albu mit einigen Gesinnungsfreunden die betont anti-kommunistische »Socialist Clarity Group« gründete, wurde Jahoda Mitglied, weil sie starke Parallelen zur Gruppe »Neu Beginnen« feststellte, der sie in Österreich während des Ständestaats angehörte.
Auffällig ist die geringe Präsenz Jahodas in der österreichischen Exilszene in Großbritannien. Dies hängt wohl damit zusammen, dass sie in den ersten Jahren in der Provinz lebte, während London das Zentrum der österreichischen Exilbewegung war. Als im April 1941 das »London Bureau of the Austrian Socialists in Great Britain« als offizielle Exilkörperschaft der österreichischen Sozialdemokratie gegründet wurde, trat ihm Jahoda bei. Allerdings führte diese Exilorganisation eine Randexistenz innerhalb der österreichischen Exilbewegung. Österreichische Kommunisten, Liberale, Konservative und Legitimisten (Monarchisten) kämpften damals um die Anerkennung der Wiedererrichtung Österreichs in seinen Grenzen vor dem »Anschluss«, während die Sozialdemokraten – ausgenommen die abgespaltene Gruppe um Marie Koestler (1879–1965) – diese Forderung ablehnten und für eine »gesamtdeutsche Revolution« eintraten. Dazu kam, dass Marie Jahoda innerhalb des von Oscar Pollak (d.i. Oskar Pollak; 1893–1963) dominierten »London Bureau of the Austrian Socialists in Great Britain« eine oppositionelle Position bezog, indem sie die Ideen ihres mittlerweile nach New York geflüchteten Freundes Joseph Buttinger (1906–1992) propagierte und mit Karl Czernetz (1910–1978) enger zusammenarbeitete. Aber auch ein grundsätzliches Umdenken Jahodas in zentralen Fragen des Marxismus ist erkennbar: »One problem that worries me is the function of the working class, and the concept of a classless society«, gesteht sie im Juli 1940 Buttinger. »The latter I think is an impossibility, if you define class as a group of persons who have the same function in the process of production. The former I find difficult to understand in a positive sense. In a negative sense, namely that they have suffered most from the chaos of our time and therefore demonstrate most clearly that all is not well with that world of ours, I can see their function. But for the process of reconstruction I cannot convince myself any longer that this is the class who is pushing towards a new society. Not only Germany is an example for the contrary – there is no question that the bulk of the working class supports Hitler – but also the outlook and ideology of the English working class as far as I know them. You made a remark in your letter about your growing dislike of reformists, well I cannot see that the English working class as a whole wants ever to be anything else but reformists.«1
Ihre Sicht der politischen Situation ließ keine Zweifel daran aufkommen, nicht mehr wie ursprünglich geplant in die USA zu gehen, was ohnedies kaum möglich gewesen wäre. »London is the center from which a decision in this war will come which will influence centuries, and certainly our own political ideas. […] We have not become British nationalists, but we are European patriots. That is to say we feel that Europe’s fate is going to be decided here, and whatever we think of chances, we do not want to run away from Europe in a moment like this.«2 Dazu kam ein gewichtiges persönliches Motiv, wie sie Joseph Buttinger gestand: »My own personal situation you probably realise: mother and child are very strong inducements indeed; on the other hand I hate the idea of becoming again an undesirable refugee in a new country when I have had the good luck to overcome this state of affairs here. […]. I am getting old […].«3
Kurz nach ihrer Kündigung beim »War-time Social Survey« bot der bekannte britische Journalist und Labour-Politiker Richard »Dick« Crossman (1907–1974), mit dem sie sich 1938 befreundet hatte, Marie Jahoda einen neuen Job an. Es war Geheimdienstarbeit beim British Foreign Office, weshalb sie auch den Official Secret Act unterschreiben musste, der sie zu dreißigjährigem Schweigen über diese Tätigkeit verpflichtete. Sie übersiedelte in eine beschlagnahmte Villa in Woburn (Bedfordshire) nördlich von London. Unter Leitung von Crossman arbeitete sie mit Walter Wodak (1908–1974), der einst an der Marienthal-Studie mitgearbeitet hatte, und Stefan Wirlander (1905–?) vom September 1941 bis Frühjahr 1943 an dem neugegründeten Sender »Radio Rotes Wien«. Jeden Abend gab es eine zwanzigminütige Sendung mit Nachrichten für das besetzte Österreich – unter Wahrung einer sozialistischen Perspektive. Tagsüber wurden die Sendungen aufgrund der internationalen Presse zusammengestellt, am Abend von Marie Jahoda im nahegelegenen Geheimsender verlesen. »It was the most intensive working period of my life«, erinnerte sich Marie Jahoda: »But I do not think we ever had a large audience.«4
Marie Jahoda, die damals nur über ein Postfach in London (Box 7, W.C.D.O., London, W.C.2) zu erreichen war, verbrachte die wenigen freien Wochenenden in der britischen Hauptstadt mit Austen Albu, dessen Ehefrau Rose (?–1956) mit den Kindern Martin und Colin Albu damals in den USA weilten, in Earl’s Court. Als Rose nach England zurückkehrte, wurden Marie Jahoda und Rose Albu enge Freundinnen.
Im Frühjahr 1943 kam das Aus für den Sender. Marie Jahoda erinnerte sich, dass ihr Rundfunkkommentar, Großbritannien müsse Indien nach dem Krieg in die Unabhängigkeit entlassen, als Grund für die Auflösung des Senders diente. Sie vermutete dahinter aber einen Vorwand und eher in der geringen Hörerschaft den tatsächlichen Grund.

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1 Marie Jahoda: Brief an Hubert [d.i. Joseph Buttinger]. Street, am 1. Juli 1940, in: Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich, Graz, Nachlass Marie Jahoda, Signatur 41/1, »Buttinger, Joseph«, pag. 14–16.
2 Marie Jahoda: Brief an Hubert [d.i. Joseph Buttinger]. London, am 3. November 1940, in: Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich, Graz, Nachlass Marie Jahoda, Signatur 41/1, »Buttinger, Joseph«, pag. 21–23.
3 Marie Jahoda: Brief an Hubert [d.i. Joseph Buttinger]. London, am 3. November 1940, in: Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich, Graz, Nachlass Marie Jahoda, Signatur 41/1, »Buttinger, Joseph«, pag. 21–23.
4 Marie Jahoda Albu: Reconstructions. [Keymer, Sussex: Published by the author] 1996, S. 74.

© Reinhard Müller -- Graz, im Oktober 2006