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Brief von Karl Mannheim an Ernest Manheim in Chicago, Ill. [London, am 25. März oder Mai 1938] Transliteration and comment byReinhard Müller [1] The Red Court Hotel, 17, 18, 19 & 20, Bedforce Place, Russell Square, W.C. 1. Lieber ich schreibe Euch heute in erster Reihe um über Dr Hugo Fischer [2] persönliche Information zu erhalten. Er ist aus Deutschland herausgekommen da seine Situation unhaltbar zu werden scheint, und ich bin bemüht für ihn Übergangslösungen zu finden. Das Komité will aber mehr über seine politische Haltung wissen. Ist er jemand den Liberale und Sozialisten unterstützen sollen oder ist seine Richtung im Grunde auch Nazi nur moderierter. Es sind so viele in Not und so muß man die rechte Auswahl treffen. Mit gefällt er recht gut, er scheint ein ernster Mensch zu sein vorläufig noch voll mit Leipziger Atmosphäre: Romantisierte Realpolitik wie es sich der Kleine (Freyer [3]) Moritz vorstellt. Da aus diesem Schlag noch ganz gute Amerikaner werden kann [!] (siehe Ehepaar E[rnest] Manheim) bitte ich Euch mir zu sagen ob Ihr ihm den Weg nach und in Amerika erleichtern Ihr werdet in den nächsten Tagen [Morris] Ginsberg [4] in Chicago sehen. Berichtet mir einmal über seinen "Erfolg" genau. Ob die Leute dort "hell" genug sind um zu sehen was mit ihm los ist. Bitte sage es in meinem Auftrag [Louis] Wirth, [5] daß er weder mein noch sein Feind ist. Er soll daß [!] nur wissen wenn er mit ihm spricht um alles richtig zu beurteilen. Er soll natürlich nichts merken lassen wenn er mit ihm spricht. Genau so sollst Du auch nichts davon merken lassen, (wenn Du mit Sonst ist es hier sehr interessant. Die nervöse Spannung entstand durch meinen für Moritz unheimlich werdenden Lehrerfolg. Es wird Euch auch interessieren dass [Bronislaw] Malinowski [7] sich als aufrichtiger Freund entpuppte. Was mit der Welt werden wird weiß ich nicht auch die Kriegsgefahr wäre ein Argument nach d[en] U.S.A. zu gehen. Es besteht keine Ursache weg gehen zu müssen aber die Psychologie Moritzens zu ertragen wird immer schwieriger. Nun habe ich mich bischen [!] abreagiert; als wäret Ihr hier. Wie steht es mit Eurer Stellung? Ist das nächste Jahr schon gesichert. Schreibt auf alle Fälle sofort. Bitte auch Bericht über d[en] Eindruck den Ginsberg auf die U.S.A. machte. Wir grüssen alle (auch Tibor [Manheim] [8]) Herzlichst
Karl Der Brief wurde von Ernest Manheim auf den 25. März oder Mai 1938 datiert. Das Original dieses Briefes befindet sich im Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich, Graz, Nachlass Ernest Manheim, Signatur 31/1. Karl Mannheim (d.i. Károly Mannheim; *Budapest 1893, †London 1947), Cousin von Ernest Manheim; deutsch-britischer Soziologe österreichisch-ungarischer Herkunft, emigrierte 1933 nach Großbritannien. Anm. R.M. [2] Ernst Hugo Fischer (*Halle an der Saale 1897, †Ohlstadt 1975), deutscher Philosoph; emigrierte 1938 nach Norwegen und weiter nach Großbritannien; 1925-1938 Privatdozent der Philosophie an der Universität Leipzig; Mitglied des national-revolutionären Zirkels um Ernst Jünger (1895-1998); 1938 Direktor der Forschungsabteilung des Institutt for Samfunnsforsking og Arbeidslære in Oslo; in Großbritannien Forschungstätigkeit; 1956 Rückkehr in die BRD, außerplanmäßiger Professor der Philosophie an der Universität München. Anm. R.M. [3] Hans Freyer (*Leipzig 1887, †Wiesbaden 1969), deutscher Soziologe und Philosoph; 1925-1948 Professor der Soziologie an der Universität Leipzig, unterbrochen von einer Professur 1938-1944 in Budapest; unterhielt ein umstrittenes Naheverhältnis zum nationalsozialistischen Regime; Förderer und enger Freund von Ernest Manheim. Anm. R.M. [4] Morris Ginsberg (*Litauen 1889, Highgate 1970), britischer Soziologe (kam bereits als Kind nach Großbritannien); 1929-1954 Professor of Sociology an der London School of Economics. Zwischen Ginsberg und Mannheim kam es vor allem von Seiten Mannheims zu einer teils scharf ausgetragenen Feindschaft, deren Härte sich in einem Brief von Mannheims Ehefrau Julia zeigt (siehe Brief von Julia Mannheim). Dieser Konflikt ist vor allem vor dem Hintergrund zu sehen, dass der renommierte Mannheim sich in einer ungleich schwächeren akademischen Position befand als der ihm vorgesetzte - ebenfalls renommierte - Ginsberg. Anm. R.M. [5] Louis Wirth (d.i. Alois Wirth; *Gemünden, Hunsrück 1897, †Chicago, Ill. 1952), amerikanischer Soziologe deutscher Herkunft (kam bereits 1911 in die USA); 1926-1928 Instructor, 1931 Assistant Professor, 1932-1940 Associate Professor, 1940-1952 Professor of Sociology an der University of Chicago in Chicago, Ill. Anm. R.M. [6] Gemeint ist Morris Ginsberg. Anm. R.M. [7] Bronislaw Kaspar Malinowski (*Krakau 1884, †New Haven, Conn. 1942), britisch-amerikanischer Ethnologe und Sozialanthropologe österreichisch-polnischer Herkunft; gilt als Begründer des Funktionalismus in der Völkerkunde; seit 1921 Professor of Anthropology an der University of London, bei dem Ernest Manheim 1937 promovierte (Ph.D.); seit 1939 Professor of Anthropology an der Yale University in New Haven, Conn. Anm. R.M. [8] Tibor (Frank Tibor) Manheim (*Leipzig 1930), Geochemiker; Sohn von Ernest und Ann Sophy Manheim. Anm. R.M. |