Delphine Blumenfeld

Das Arbeitslosentheater

in Delphine Blumenfeld: Arbeitslos. Heimatlos. Alles los. Erzählungen und Lieder. Klagenfurt / Celovec: Drava Verlag / Založba Drava 2008, S. 27–35.

Die Veröffentlichung auf dieser Website erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Delphine Blumenfeld, Sankt Jakob im Rosental / Šentjakob v Rožu. Beachten Sie das Copyright!

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Das Arbeitslosentheater

Mein Name ist Luci Blum.

Ich bin 43 und lebe in einem Bauwagen.

Nicht ganz freiwillig. Aber es sind meine 4 Wände, genauer genommen 6, wenn man Fußboden und Decke dazuzählt. Das sollte man. Es gibt nicht nur Wände an jeder Seite, sondern auch die Wände oben und unten. Die Wand oben verstellt mir die Sonne, den Mond und die Sterne, aber sie schützt mich vor Regen. Die Wand unter mir besteht aus ein paar roh zusammengezimmerten Brettern und soll darüber hinwegtäuschen wie tief der Abgrund letztendlich ist und wie dünn die brüchige Lavaschicht.

Dieser Bauwagen ist alles, was ich mir derzeit leisten kann, 100 Euro Miete im Monat, zuzüglich Betriebskosten, Wasser und ein wenig Strom aus dem Nebengebäude, die ich nur selten bezahlen kann. Ich habe eine Glühbirne, angeschlossen an eine Kabeltrommel, so kann ich lesen, oder Musik hören, jeweils eins von beiden. Meist verwende ich Kerzen, oder wenn ich es mir leisten kann, wärmendes Gaslicht.

Auf meinem wackligen Tisch steht ein Bergkristall. Mein einziger Luxus. Ihn würde ich niemals hergeben, nicht kampflos. Er ist etwa so groß, wie meine Handfläche, bis zum Ende der Fingerkuppen, durchzogen mit milchigweißen Adern und glitzernden Bruchstellen. Wenn man ihn gegen das Licht hält, sieht er aus, als wüchsen darin Bäume und Sträucher, verästelt, vor einem schneebedecktem

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Berg, über den der Wind weht. Ein schneeumwehter, kleiner Berg aus Milch. An den Bruchstellen, unter der Oberfläche, die scharf und kantig sind, fängt er das Licht, und bricht es in Regenbogenfarben.

Regenbögen gibt es nur entlang der Bruchstellen, die scharf sind, wie Glasscherben.

An den Stellen, wo keine Milch ist, kein Berg, keine Äste und keine Bruchstellen, ist er durchsichtig, wie Glas.

Wenn ich kein Geld habe, hole ich Kerzen vom Friedhof. Ich steige nachts über die Mauer, und pflücke die noch nicht abgebrannten Kerzen von den Gräbern. Dabei bitte ich die Toten, mir zu verzeihen. In der Regel tun sie es.

Ich erzähle ihnen, dass ihre Kerzen für sie weiterbrennen werden, in meinem Wagen, während sie mir gleichzeitig Licht und ein wenig Wärme geben.

Ich habe keine Angst mehr vor den Toten. Ich fürchte die Lebenden.

Wenn ich den Toten meine Situation erkläre, verstehen sie meistens.

Wo ich hingegen Widerstand fühle, lasse ich die Kerzen auf dem Grab stehen.

Ich bestehle die Toten nicht. Die meisten von ihnen wissen, wie es ist, vergessen zu werden.

Vergessen werden ist nicht immer schlimm. Es hängt davon ab, von wem man vergessen wird. In manchen Fällen ist es wohltuend.

Mein Bauwagen hat zwei kleine Fenster, von denen aus ich die Bäume sehe. Im Herbst, wenn sie die

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Blätter verlieren, sehen sie aus wie Blutgefäße, die sich in einem Körper verzweigen, dunkel, vor dem herbstgrauen Himmel.

Letzten Herbst haben sie mein Auto mitgenommen. zwei Männer, mit einer gerichtlichen Verfügung. Einer der beiden ist ohne viele Erklärungen in meinen Wagen gestiegen, und hat die Autoschlüssel verlangt. Eine kleine Staubwolke hinter sich herziehend, verließ uns der blaue Wagen, mit der großen Ladefläche, und bog zum letzten Mal um den Bauernhof der in der Nähe meines Bauwagens liegt.

Charlie und ich sind zurückgeblieben, einigermaßen ratlos, und haben ins Geäst der Bäume gestarrt. Ich jedenfalls habe mich in ihren dunkel verzweigten Ästen verloren, als wäre ich in einen Körper eingedrungen.

Es regnet. Nebelschwaden ziehen an den Fenstern meines Bauwagens vorbei.

Als würde der Winter zurückkehren. Dabei ist es Mai. Ein Tag, an dem jemand wie ich sich am liebsten aufhängen würde.

Es ist nicht der Bauwagen. Der Bauwagen ist in Ordnung. 6 Wände für mich und Charlie. In allen 6 Himmelsrichtungen: Norden, Osten, Süden, Westen, Oben, Unten. Hier sind wir einigermaßen sicher.

Ich und Charlie, der Schäferhund, den ich aus dem Tierheim geholt habe. Und jetzt bin ich das

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Schaf, das er beschützt. Wenn ich längere Zeit daran denke, wird Charlie so unruhig, dass ich mit ihm hinausgehen muss. So wie jetzt, in die regennassen Wälder. Eigentlich wollte ich meine Selbstmordgedanken verschweigen. Aber das wäre unaufrichtig. Wahrscheinlich gehören sie bei Leuten wie mir dazu.

Das zarte Grün der Blätter und Fichtenwipfel. Die Stimmen der Vögel.

Ich habe eine kleine Bank nach einem neuen Freund benannt. Sie liegt in der Sonne, auf einer Lichtung inmitten von Brombeersträuchern. In deren Mitte steht eine Lärche. Über dem Wald kann man die Gipfel der Berge sehen. Die Bank ist ungewöhnlich, hoch, auf einem abgeschnittenen Baumstumpf, und nicht sonderlich bequem. Aber mein Freund ist auch kein bequemer Mensch.

Ich liebe diesen Platz.

Charlie und ich gehen durch den Regenwald, wir haben den Bauernhof hinter uns gelassen. Mit dem Bauern, der seine Bäurin keinen Korb für ihre Katze kaufen lässt. Obwohl sie sich einen wünscht. Und obwohl sie Tag und Nacht für ihn schuftet. Angeblich stammt der Bauer aus armen Verhältnissen, deshalb hat er ständig Angst zu verhungern. Deshalb will er nichts hergeben. Gar nichts.

Wir haben einen Unterstand, gerade so groß, dass Charlie und ich hineinpassen. Ein Holzdach, über das eine Plastikplane gezogen ist, darunter eine Holzbank, Bretter an der Seite und am Fußboden. An den

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Brettern, die die Bank abschließen, hängt rechts ein Holzschnitt. Ein Hirsch, ein Hund, ein Baum und ein Jäger, mit dem Gewehr im Anschlag.

Darunter, in Plastikfolie eingeschweißt, ein ungelenker Text in Kursivschrift:

Der brave Hirsch

Er war hier in diesen drei Jagdgebieten zuhause. Im September 1974 traf ihn eine Kugel, er wurde schwer verletzt, gejagt, verfolgt und gesucht. Während der großen Treibjagd am 31. Dezember wurde er hier erlegt. In seiner Decke waren Hunderte Zecken. Er war nur mehr 78 Kilo schwer.

Sein Leiden war hier zu Ende. Viele Neider gab es unter den Jägern. Wer wollte nicht diesen einst so prächtigen Hirsch erlösen.

Ich werde meinen braven Hirsch immer in Erinnerung behalten.

Der alte Jäger.

Ich habe den alten Jäger gestern getroffen. Ein bisschen bin ich ihm dankbar für den Unterstand. Ich bin keine Hirschkuh. Zu mir war der Jäger freundlich.

Ich sitze hier inmitten des Regenwaldhanges. Rechts unter mir ein Wurzelberg, gekippt, der Stamm darüber abgesägt. Ein aufgerissenes, stummes Maul, aus Erde und Wurzeln.

Wenn ich ein wenig Geld habe, werde ich der Bäurin einen Katzenkorb schenken.

Die letzten 3 Tage habe ich hauptsächlich Speck gegessen. Wirklich guten Speck, der nach Rauch und

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Wacholder schmeckt. Die Bäurin hat mir ein größeres Stück geschenkt, weil ich ihr im Garten geholfen habe. Der Bauer darf nichts davon wissen. Nach 3 Tagen ist mir der Speck zu viel. Aber das ist egal. Das habe ich hier im Bauwagen gelernt: Essen muss nicht schmecken. Es ist dazu da, dass man satt wird.

Manchmal stelle ich mir vor, dass mein Bauwagen ein Zirkuswagen ist.

Leute wie ich jonglieren mit Äpfeln, Brot, einem Krautkopf und Speckstückchen.

Der Himmel über uns ist in Wirklichkeit ein Zirkuszelt.

Die Sterne daran nur angenäht.

Ich bin Seiltänzerin und jongliere unter der Zirkuskuppel.

Deshalb kann ich die Nähte der Sterne sehen.

Meine Äpfel und Krautköpfe sind in Wirklichkeit kleine Planeten, rote, gelbe, grüne, und manchmal durchzogen wie Speckstückchen.

Ich bin keine gute Jongleurin.

Ständig gerät einer aus der Bahn, trudelt, und fällt hinunter.

Es Fällt mir schwer, an die Wirklichkeit zu glauben. Was wir Wirklichkeit nennen, ist eine Vereinbarung, an die sich die Leute gefälligst zu halten haben. Diese gilt nicht für Menschen, die aus ihr herausfallen.

Nach dem Essen habe ich meinen Bauwagen gekehrt. Es ist unglaublich, wie viele Haare Charlie verliert.

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Man könnte sie filzen und damit Kleidung und Decken herstellen.

Auch die Inuit nähen Hosen aus Hundefell, seit man ihnen die Eisbären nahezu ausgerottet hat.

Bevor ich hier eingezogen bin, habe ich ein Gebet gesprochen, obwohl ich nicht an Gott glaube. Etwas anderes ist mir nicht eingefallen.

Sie haben die Wohnungsbeihilfe gekürzt. Jemand wie ich ist nicht mehr in der Lage, sich etwas zum Wohnen zu mieten. Weil ich mir keine Wohnung mehr leisten konnte, habe ich die letzten 2 Jahre im Haus meiner Mutter verbracht. Bis es nicht mehr ging.

Ich komme aus einer ziemlich kranken Familie. Wir brauchen Abstand von einander, damit die alten Wunden verheilen. Im selben Wohnraum reißen sie wegen irgendwelcher Äpfel und Birnen neu auf. Familien sind Wiederholungstäter. Man will die Familien wieder mehr in die Pflicht nehmen, hat die Sozialarbeiterin gesagt. Die wollen nicht wissen, was sie den Menschen damit antun.

Also habe ich gebetet. Ich habe meine Freundinnen und Freunde angerufen. Und alle Tiere, denen ich jemals geholfen habe.

Katze, Hund, Maus, Schnecke,

Reh, Krähe, Spatz, Spinne,

Eidechse, Taube, Ratte,

alles was Federn hat, kriecht und fliegt,

alles was Flügel hat, Pfoten und Fell,

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meine Großväter und Großmütter in Tier- und Menschengestalt,

Wasser, Feuer, Wind,

Sonne, Sterne, Mond, Erde,

alle, die mir mir befreundet sind,

ich habe das Gebet mit Fichtenharzstückchen im Feuer verbrannt. Die Asche in alle 6 Himmelsrichtungen gestreut, und gebeten, sie mögen mir helfen. Den Platz zu finden, an dem ich einigermaßen sicher wäre.

Meine Herkunftsfamilie war krank. Meine Tante hat sich in der Nähe eines von Kröten bewohnten Teiches aufgehängt. Niemand von uns war auf ihrem Begräbnis.

Wenn ich an meine Tante denke, sehe ich immer diesen dunklen Teich in ihrem Garten vor mir, in dem die dicken Kröten schwimmen, mit denen ich als Kind gespielt habe.

Ich denke an die spitze Nase meiner Tante. Oft strich sie mit Daumen und Zeigefinger über die Nasenflügel. Ich passte auf dass ich nicht versehentlich dieselbe Bewegung machte, weil ich dachte, davon würde ich auch eine so spitze Nase wie meine Tante bekommen.

Alle männlichen Angehörigen meiner Familie haben ihre Namen geändert. Weil sie nichts mit ihren Namensgebern gemeinsam haben wollten. Meine Familiengeschichte ist eine Gespenstergeschichte.

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Es ist seltsam, dass Gespenster nur in Familien und in Privathaushalten vorkommen. Auf den wirklich großen Schlachtfeldern unseres Landes wurden sie von niemandem gesehen. Ich glaube, in diesem Land spuken vor allem die Lebenden.

Ich war bei der Schuldnerberatung. Es war ein freundlicher Mann, der mich beriet, aber angesichts meiner Lage war er ratlos und ziemlich traurig.

Am liebsten hätte ich ihn in die Arme genommen. Sie haben zu wenig Schulden, sagte er. Ich kann nichts für sie tun.

Ich verstand nicht.

Erst später begriff ich. Die Gesetze in diesem Land sind dazu da, die Interessen der Besitzenden zu schützen. Besitzlose Menschen sind nicht in der Lage, sich ausreichend zu verschulden, um in Konkurs gehen zu können, um entschuldet zu werden.

Ich habe einmal eine Ratte gesehen, die von zwei Männern in eine Schaufensterpassage getrieben wurde. Dort verstellten die Männer den Ausgang. Die Ratte lief hin und her. Kopflos, von einer Wand zur nächsten und nirgends ein Ausweg. Als der Mann mir dem Brett ausholte, sprang die Ratte in sein Gesicht. Der Mann erschrak, und der Weg war frei.

Manchmal denke ich, das sollte ich tun. Ihnen mitten ins Gesicht springen.