M. Mautner [d.i. Marie Jahoda]: Die Intellektuellen und die revolutionäre Bewegung in Österreich

In: Der Kampf. Neue Folge (Brünn [Brno]), 4. Bd., Nr. 1 (1937), S. 16-22.1
Die Veröffentlichung auf dieser Website erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Lotte Bailyn, Belmont (Massachusetts).

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M. Mautner (Wien): Die Intellektuellen und die revolutionäre Bewegung in Österreich



1. Das Verhältnis der Intellektuellen zur revolutionären Bewegung.
Wir bezeichnen als Intellektuellen jeden, der auf irgendeinem Gebiet geistiger Arbeit eine Spezialausbildung genossen hat. Außerordentlich groß, aber nirgends zahlenmäßig erfaßt, ist die Gruppe jener Intellektueller, die in ihrem eigenen Beruf keine Arbeit gefunden haben und entweder wenig qualifizierte Arbeit verrichten oder arbeitslos sind. Die anderen beziehen in der großen Mehrzahl ein mehr als bescheidenes Einkommen: Ein Konzipient hat Anspruch auf 250 S im Monat, er erhält im günstigsten Fall 180 S, viele Konzipienten arbeiten für einen Bruchteil dieses Gehalts, viele ohne jede Entlohnung, um wenigstens die notwendige Praxis zu erwerben. Die jungen Hilfslehrer an Volks- und Hauptschulen beziehen nominell 120 S, ausgezahlt erhalten sie etwa 105 S; wenn sie aus der Hilfsverwendung, die oft 4 bis 5 Jahre dauert, in den ordentlichen Dienst übernommen werden, steigt ihr Gehalt auf 195 brutto. Ebenso viel bekommen auch die Verwaltungsbeamten der Gemeinde, die man als Hilfsjuristen bezeichnen kann; von ihnen wird Matura und eine Verwaltungsprüfung verlangt. Nach 15jähriger Dienstzeit erreichen sie eine Gehaltsklasse von etwa 350 S. Junge Mittelschulprofessoren erhalten, wenn sie beim Bund sind, 230 S, in Privatschulen 170 S; Hilfsassistenten an der Universität 120 S, ordentliche Assistenten 200 S. Aerzte - sofern sie Anstellung finden - 300 S, diejenigen, die auf die Privatpraxis angewiesen sind, verdienen oft nicht einmal den Betrag einer vollen Arbeitslosenunterstützung. Selbständige Abteilungsleiter im Gemeindedienst erhalten Jahre hindurch 230 S. Daneben gibt es natürlich einzelne Intellektuelle - Rechtsanwälte, Aerzte, Journalisten etc. -, deren Monatseinkommen in die Tausende geht.
Ebenso uneinheitlich sind die Intellektuellen ideologisch. Und dabei sind sie durch ihre Intellektualität keineswegs davor gesichert, den engstirnigsten Ideologien zu verfallen. Man braucht nur an die Zahl der mit dem Nationalsozialismus sympathisierenden Intellektuellen denken, die größer sein mag als die Zahl der mit uns Sympathisierenden. Der Versuch, die Ursachen dafür aufzuzeigen, setzt eine sozialpsychologische Schilderung der Entstehung von Ideologien voraus, die hier nicht gegeben werden kann. Wir greifen eine dieser Ursachen heraus: das Sympathisieren mit dem Sozialismus stellt an den Intellektuellen weitaus größere Anforderungen als das Sympathisieren mit dem Nationalsozialismus. Das bürgerliche Arbeitsmilieu der meisten Intellektuellen erzeugt in ihnen Denk- und Lebensgewohnheiten, mit denen sie radikal brechen müßten, wenn sie sich sozialistischen Gedankengängen zuwenden wollen. Abgesehen von der geistigen Leistung, die darin steckt, wenn mit lang erworbenen Denkgewohnheiten gebrochen werden muß, wird dieser Bruch dem einzelnen Intellektuellen zum sozialen Problem, weil er sich innerlich und äußerlich von seinem Milieu, von seinen Arbeitskollegen trennen muß. Diese Trennung trotz dem täglichen Kontakt zu vollziehen und dabei durchzuhalten, ist nicht jedermanns Sache. Die nationalsozialistischen Intellektuellen ersparen sich in der wohlwollenden Atmosphäre, die sie umgibt, diese Leistung. Ihr Denken mag noch so radikal der heutigen Regierung widersprechen, es bleibt im Rahmen der heutigen Gesellschaftsordnung.
Dieser Umstand bringt es nicht nur mit sich, daß es mehr nationalsozialistische Intellektuelle gibt, sondern auch, daß diese in ihrem Milieu eine erfüllbare und be-

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friedigende Funktion ausüben können, die sozialistischen Intellektuellen gewöhnlich versagt ist: die Bildung ideologischer Keimzellen. Der sozialistische Intellektuelle entbehrt diese Möglichkeit in seinem Arbeitsmilieu, er ist isoliert.
Die Erkenntnis dieser Schwierigkeit darf uns von Versuchen zu ihrer Bewältigung nicht abhalten. Denn wir brauchen diese Keimzellen unter den Intellektuellen notwendig. Jeder, der sich bemüht, über das Heute und Morgen hinauszudenken, muß diese Notwendigkeit erkennen. Der Mangel an Spezialisten ist ein ernstes Problem im russischen Aufbau gewesen: die klägliche Not an fähigen Köpfen, unter der das österreichische Regime heute zu leiden hat, stellt es vor das Problem, entweder Gegner in Amt und Würden zu belassen oder sie durch frappante Unfähigkeit zu ersetzen. Wir werden nicht immer in der Illegalität bleiben, die Arbeiterklasse wird eines Tages auch in Oesterreich zu zeigen haben, ob sie die Fähigkeit zur Machteroberung und zur Machterhaltung, vor allem, ob sie die Fähigkeit zum Aufbau einer neuen Gesellschaftsordnung besitzt. Für diesen Augenblick kann der Kreis von Intellektuellen, die zumindest mit uns sympathisieren, gar nicht groß genug sein. Bis dahin gibt es für ihre Sympathie nur einen entsprechenden Ausdruck: sich zu höchsten und qualifiziertesten Spezialisten auf jedem Gebiet zu entwickeln. Ganz besonders gilt dies für alle jene, die im Verwaltungsapparat des Staates stehen, also für alle in ihrem Wirkungskreis selbständigen Beamten, Abteilungsleiter und Sachverständige. Leider findet man diesen Typus des hochstehenden sozialistischen Intellektuellen noch allzu selten. Allein die beschränkte Anzahl vorhandener Begabungen auf einem Gebiet schafft hier eine natürliche Auslese; darüber hinaus aber ist der Blick für diese entscheidende Funktion der Intellektuellen bei ihnen selbst und in der Partei getrübt. Sachlich leistungsfähige Intellektuelle stehen der Bewegung zum Teil in weltfremdem Hochmut gegenüber, der von der Bewegung mit Nichtbeachtung der Intellektuellen und ihrer Leistungen quittiert wird, oder es hindert sie ein tiefes soziales Minderwertigkeitsgefühl, das ihnen oft von der Bewegung aufgezwungen wurde, an der im sozialistischen Sinn verwertbaren Spezialistenarbeit. Es ist eine Schande für die junge österreichische Intellektuellengeneration, daß sie, sei es mit welcher Begründung immer in den letzten zwei Jahren keine einzige bemerkenswerte Leistung hervorgebracht hat, und darüber hinaus für die gesamte junge europäische Intellektuellengeneration. Wir sind über das Alexanderalter hinaus, in dem sein Schmerz, noch nichts Weltbewegendes geleistet zu haben, der Mitwelt nur ein bewunderndes Lächeln bei so viel jugendlichem Tatendrang entlockte. Die heutige Generation wird, wenn sie sich nicht sehr beeilt, nur mehr auf ein bestenfalls nachsichtiges Lächeln rechnen können.
Die Forderung der sozialistischen Bewegung an die sympathisierenden Intellektuellen heißt also: Seid qualifizierte Spezialisten, vervollkommnet eure Kenntnisse im Hinblick auf eure Funktion im kommenden Aufbau einer neuen Gesellschaft! Das Ausmaß, in dem die intellektuellen Freunde der Bewegung gewillt und imstande sind, diese Forderung zu erfüllen, können leider nur sie selbst bestimmen.
Anders ist die Situation bei jenen Intellektuellen, die sich der Partei zur aktiven Mitarbeit zur Verfügung stellen.

2. Die Aufgabe der Intellektuellen in der Arbeiterbewegung.
Das Problem der Einordnung der Intellektuellen in die Arbeiterbewegung ist nicht erst in der Illegalität aufgetaucht. Wer das Organisationsleben der alten Partei gekannt hat - insbesondere das in Wien -, weiß, daß es auch vor dem Februar 1934 bestanden hat, verschärft und gemildert durch die Legalität. Verschärft, weil die Schwierigkeiten offen zutage traten, weil die sozialistischen Intellektuellen nicht nur absolut, sondern auch relativ in der Partei stärker vertreten waren und damit die Konfliktsmöglichkeiten gehäuft haben. Gemildert, weil die alte Partei m ihrer organisatorischen Vielfältigkeit den Intellektuellen Arbeits- und Wirkungsmöglichkeiten bot, die in ihnen das Bewußtsein der Zugehörigkeit zur Arbeiterbewegung entstehen ließen,

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ohne ihr gesellschaftliches Sein und ihre gesellschaftliche Funktion zur Diskussion zu stellen.
Dieses Problem ist jedoch keineswegs nur das Vermächtnis der alten Partei, es ist vielmehr ein grundsätzliches Problem jeder Arbeiterbewegung. Denn das Gedankengebäude des Sozialismus, die Leistungen seiner großen Theoretiker üben wie jede Idee eine große Anziehungskraft auf Intellektuelle aus. Die Bourgeoisie ist gegen diese Anziehungskraft unserer Idee durch ihr ökonomisches Klasseninteresse gefeit; nur wenige Unternehmer gestatten sich entgegen ihrem Klasseninteresse die Auseinandersetzung mit der Idee des Sozialismus, ganz vereinzelt sind diejenigen, die aus einer solchen Auseinandersetzung Konsequenzen ziehen, wie etwa die Uebergabe des Unternehmens an die Arbeiterschaft.2 Auf die schwankende und vielfärbige Gruppe der Intellektuellen dagegen ist die Marxsche Definition des Begriffs »Klasse« überhaupt nicht anwendbar, sie haben kein einheitliches ökonomisches Interesse, das ihnen verbieten würde, der Anziehungskraft der sozialistischen Idee nachzugeben. Damit stößt zur Arbeiterbewegung eine Menschengruppe, die außer durch ihre natürliche Klassenfremdheit noch durch ein anderes Gruppenmerkmal in ihrer Stellung zur Arbeiterbewegung charakterisiert ist: durch ihren Anspruch auf geistige Führung oder zumindest weitgehende Beeinflussung der Ideologie der Bewegung, der sie sich anschließen. Die Rechtfertigung dafür scheint ihnen ihre größere formale geistige Schulung zu sein, die es ihnen häufiger als den Arbeitern und auf weniger beschwerlichem Wege ermöglicht, sich mit der Theorie des Marxismus vertraut zu machen. Sie zählen sich gewöhnlich unbekümmert und selbstverständlich zu den »Ideologen« der Bewegung im Leninschen3 Sinn, deren Aufgabe es ist, »in den Klassenkampf des Proletariats, der sich auf dem Boden der kapitalistischen Verhältnisse spontan entwickelt, den Sozialismus hineinzutragen«.4
Dieser Anspruch ist zwar in seiner Entstehung begreiflich, aber ebenso unberechtigt wie gefährlich. Gefährlich wurde er z.B. der Bewegung der russischen Sozialrevolutionäre,5 die ihn anerkannten. Sie betonten stets die Dreieinigkeit von Intellektuellen, Arbeitern und Bauern, ohne sich darüber Rechenschaft abzulegen, daß damit eine Vorherrschaft der Intellektuellen in der Bewegung geschaffen wurde, die die Sozialrevolutionäre der Arbeiterklasse notwendigerweise entfremden mußte. Die Folge dieses intellektuellen Charakters der sozialrevolutionären Bewegung war unter anderem, daß ihnen die Marxsche Erkenntnis von der revolutionären Funktion der Arbeiterklasse, die sich aus der Struktur der kapitalistischen Gesellschaft ergibt, verloren ging. Deutlich wurde ihr Unglaube an die Funktion der Arbeiterklasse z.B. in ihrer Verherrlichung des individuellen Terrors. Die angeblich sozialistische Ideologie Intellektueller, die außerhalb der Arbeiterbewegung und unkontrolliert von ihr ihre politischen Gedankengänge entwickeln, scheint übrigens auch unter anderen historischen Bedingungen der Gefahr, gerade diesen Erkenntnisfehler zu begehen, besonders ausgesetzt zu sein. So begegneten wir in einigen Leitartikeln Willi Schlamms6 in den in Prag erschienenen »Europäischen Blättern«7 der Ansicht, daß in kommenden revolutionären Umwälzungen die Technik an Stelle der Klassenkräfte die entscheidende Rolle spielen wird.
Wir verstehen diese verkehrten Ansichten über die Funktionsteilung oder den Funktionswandel in gesellschaftlichen Vorgängen als Ueberbau über einer ökonomischen Lebensbasis, die auf individueller geistiger Leistung beruht. Selbstverständlich aber bedeutet dieses Verstehen - wie immer in der Politik - nicht ein Alles-Verzeihen, sondern das Gegenteil: die Erkenntnis der Entstehungsursachen einer solchen Ideologie liefert uns gleichzeitig die Rechtfertigung und die Waffen für ihre Bekämpfung. Auch in Oesterreich gibt es heute einige solche bewegungsfremde sozialistische Intellektuelle; Gustav Richter8 hat sie in seinem Artikel »Leninisten?«1) gekennzeichnet. Der

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Verteidigungskrieg gegen sie ist aber zumindest heute noch ein weniger aufregendes Problem als die Präventivmaßnahmen ihrer sinnvollen Einordnung in die Bewegung.

3. Die Eingliederung der Intellektuellen in die Organisation.
Wir haben schon eingangs gesehen, daß es sich nicht empfiehlt, den Führungsansprüchen der Intellektuellen Rechnung zu tragen. In der Arbeiterbewegung kommt jeder Anspruch nur aus der Leistung innerhalb der Bewegung. Eine andere Qualifikation ist nicht zulässig. Ganz gewiß ist die Tatsache, daß man pathologische Anatomie oder römisches Recht studiert hat, kein Befähigungsnachweis für einen politischen Führer. Nicht einmal die noch so große Kenntnis von Sozialwissenschaften hilft hier etwas. Mögen unsere Genossen Nationalökonomen und Soziologen zeigen, ob sie die Lehren von Marx und Engels9 weiterbilden können, ob sie imstande sind, die heutige Gesellschaft zum Nutzen der Bewegung zu studieren. Auch mit dieser gewiß überaus wichtigen Tätigkeit haben sie der Politik erst ein Hilfsmittel geliefert und noch nicht Politik gemacht. Wir alle haben bereits genügend viele politische Dilettanten am Werk gesehen, um endlich zu begreifen, daß die politische Tätigkeit eine Spezialistentätigkeit ist, die nicht jeder, der lesen, schreiben und reden gelernt hat, in sinnvoller Weise ausüben kann. Gewiß: diese drei Kenntnisse sind notwendige Kenntnisse eines Politikers, aber keineswegs hinreichend. Ein Intellektueller, der das nicht begriffen hat, ist für eine Funktion in der Arbeiterbewegung nicht geeignet. Dieser unbegründete Hochmut der Intellektuellen hat sein Widerspiel in einem ebenso unbegründeten Minderwertigkeitsgefühl mancher Intellektueller. Statt selbstbewußte qualifizierte Fachleute zu sein, schämen sie sich, etwas gelernt zu haben, was sie von der Arbeiterschaft trennt, bemühen sie sich, es zu verheimlichen und womöglich auf die Dauer selbst zu vergessen. Und sie haben in diesem Punkt mit der Zeit Erfolg. Allerdings übersehen sie bei diesem Kunststück, daß sie auch dadurch nicht zu Mitgliedern der Arbeiterklasse werden, sondern nur jedes Recht auf eine Funktion in ihr verlieren. Einen gewissen Teil der Verantwortung an solchen hochmütigen oder verhinderten Intellektuellen trägt allerdings auch die Partei. Man darf ihnen das Leben nicht so schwer machen, wie Gustav Richter es tun will: gewiß begnügen sich gerade die Intellektuellen unter jenen, die nichts können, damit, gescheiter zu sein als die anderen. Das ist ja eben diese verderblichste Eigenschaft der Intellektuellen, daß sie zu allem und jedem, was sie tun und lassen, eine Theorie machen können, die ihr Verhalten vor sich, vor der Mitwelt, und nicht zu vergessen, vor der Nachwelt, rechtfertigt. Aber deshalb ist noch nicht jeder, der eine Theorie zu seinem Verhalten entwickelt, ein Leninist mit Fragezeichen. Gewiß drängt es jeden, der etwas kann, im politischen Leben zur Tätigkeit. Aber viele sozialistische Intellektuelle sind verurteilt, müßige Diskutierer zu bleiben, weil ihnen die Organisation nicht offensteht, in der sie zeigen könnten, ob sie auch darüber hinaus etwas verstehen.
Wie können sie nun also in die Organisation sinnvoll eingegliedert werden? Sehen wir von ihren Spezialkenntnissen ab: allein in ihrer formalen geistigen Schulung liegt bereits der Hinweis auf ein großes und befriedigendes Arbeitsgebiet, das zum großen Vorteil der Gesamtbewegung allen jenen Intellektuellen anzuvertrauen ist, die sich über das Wesen einer Kaderorganisation ebenso im klaren sind wie über die Motive, die sie zur Mitarbeit in der Arbeiterbewegung veranlassen.
Im Wesen der Kaderorganisation liegt es, daß an ihren entscheidendsten Posten solche Genossen zu stehen haben, die imstande sind, einen Kreis von Albeitern, einen Betrieb, eine legale Organisation im täglichen Klassenkampf sowie in Entscheidungskämpfen zu führen. Dieser Funktion gerecht zu werden, gelingt manchen sozialistischen Intellektuellen in ihrem Arbeitskreis, es kann keinem Intellektuellen in der Arbeiterschaft gelingen. Damit sind die »Karriere«möglichkeiten, die die Bewegung den Intellektuellen bietet, eng begrenzt. (Der Ausdruck »Karriere« ist hier nicht als Pauschalverdächtigung aller Intellektuellen gemeint, sondern ist nur Ausdruck für den natürlichen Wunsch jedes Menschen, der an der Sache hängt, für die er arbeitet, sich

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in immer größerem Maße durchsetzen.) Der intellektuelle Mitarbeiter muß sich darüber klar sein, daß er sich nicht auf dem Weg der Erringung höchster Funktionen, sondern nur in intensivster, in der Funktion stets gleichbleibender Arbeit durchsetzen kann.
Unter der Voraussetzung dieser Erkenntnis scheinen die Intellektuellen für zwei Arbeitsgebiete besonders geeignet: für technische Arbeit und für die Schulung. Das zweite mag eine Selbstverständlichkeit sein, das erste wird viele Genossen, nicht zuletzt die Intellektuellen selbst, in Erstaunen und sogar Schrecken versetzen. Intellektuelle im technischen Apparat? Ein Teil der Genossen wird meinen, daß das eine unerlaubte Verschwendung von Kräften ist, ein anderer Teil, daß an einem solchen Vorschlag der technische Apparat zugrunde gehen könne. Beide haben unrecht.

4. Die Intellektuellen im technischen Apparat der Organisation.
Für eine Bewegung, die so viele Kräfte und Menschen beansprucht und opfern muß, ist eine ökonomische Vorgangsweise in der Verwendung der einzelnen das wichtigste Gebot. Die Leistungsfähigkeit eines Apparats, durchdacht vom kräfteökonomischen Standpunkt, hängt von der Qualität seiner Mitarbeiter in den sogenannten unteren Funktionen in ebensolchem Ausmaß ab, wie von der Qualität seiner Spitzenfunktionäre. Es wäre ein ganz falsches Prinzip, die Tatsache, daß einer seine Funktion spielend bewältigt, zum Anlaß einer Verwendungsänderung zu nehmen.
Welche Qualitäten hat der Intellektuelle für den technischen Apparat? Die wichtigste: eine bessere Tarnungsmöglichkeit als die Arbeiter. Kleidung und Benehmen machen ihn der Polizei nicht von vorneherein verdächtig. Zweitens besitzt er eine größere Möglichkeit, nützliche, unbelastete Menschen aufzuspüren. So wenig es vielleicht auch unsere überlasteten Wohnungsreferent glauben wollen, es gibt diesen Menschenschlag in Oesterreich noch immer in großer Zahl. Man muß nur Mühe darauf verwenden, sie zu finden. Der Intellektuelle, der einen größeren Bekanntenkreis hat als der Arbeiter, vor allem einen mit größeren Wohnungen, muß dieses Problem leichter bewältigen. Außerdem sind seine räumlichen und psychischen Beziehungen zum Telephon weitaus besser als die der Arbeiterschaft. Er ist also leicht erreichbar und daher als zentraler Verbindungsmann besonders zu empfehlen; dazu kommt, daß für ihn das Ueberschreiten der Wohnbezirksgrenze eine große Selbstverständlichkeit ist. Schreibmaschinen und Abziehapparate stehen ihm eher zur Verfügung, und man sieht ihn nicht sofort als verdächtig an, wenn er eine größere Menge Papier anschafft. Natürlich kann das alles auch jeder Arbeiter machen; das ist heute die Regel. Aber es ist eine schlechte Regel. Denn Genossen, die unter der Arbeiterschaft eine Kaderfunktion auszuüben haben, müssen vor der Gefahr bewahrt bleiben, im Technischen unterzugehen. Sie sollen Zeit und Muße haben, soweit diese Begriffe in der Illegalität Sinn haben, ihrer Aufgabe gerecht zu werden und sich für sie zu schulen. Der Intellektuelle kann sie im Technischen mit einem weit kleineren Müheaufwand, als es den Arbeiter kostet, entlasten. Er leistet dem Arbeiter also technische Hilfe, damit dieser frei sei für seine politische Funktion. Er leistet ihn [!] geistige Hilfe, in Erfüllung der zweiten Aufgabe, für die der Intellektuelle prädestiniert ist: in der Schulungsarbeit.

5. Die Intellektuellen in der politischen Schulungsarbeit.
Auch die Funktion der Intellektuellen im Schulungsapparat hat als Voraussetzung ein großes Maß von Bescheidenheit, von geistiger Disziplin, verbunden mit höchsten Anforderungen an die eigene Leistungsfähigkeit. Zweierlei sollen die Intellektuellen, die Zirkel halten, bieten: Erstens die Motivenberichte zu den politischen Beschlüssen. Bei der Erläuterung der Kriegsthesen z.B. handelt es sich darum, alle jene Tatsachen bekanntzugeben, deren Kenntnis zum Verständnis der Thesen und darüber hinaus zum richtigen Verhalten notwendig ist. Zweitens hat der Schulungsreferent die Aufgabe, bei der Beantwortung aller jener Fragen der Politik und Organisation, zu denen die

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Partei noch keine endgültige Stellung bezogen hat, an der Willensbildung mitzuarbeiten. Die geistigen und moralischen Anforderungen an den Referenten sind hier deshalb so besonders groß, weil er der Versuchung widerstehen können muß, in erster Linie für eine eigene vorgefaßte Meinung Anhänger zu werben. Ohne Zweifel kann jeder geschickte und geschulte Intellektuelle vier Arbeitern so lange »ein Loch in den Bauch reden«, bis sie entweder aus Müdigkeit oder weil sie seiner formalen Ueberlegenheit ausgeliefert sind, ja und amen sagen. Diese Form der »Willensbildung« ist aber höchst uninteressant für die Bewegung. Die Willensbildung hat vielmehr in ständiger Wechselwirkung zu verlaufen. Der Intellektuelle verfügt über Wissen, formale Schulung, Kenntnis der verschiedenen Strömungen in der Partei, daneben über Gedanken und vielleicht sogar auch über eine eigene Meinung. Alles das hat er zu konfrontieren mit dem, was er nicht hat: nämlich mit der Kenntnis von der realen Lebens- und Bewußtseinslage der Arbeiterschaft inner- und außerhalb der Betriebe. Erst die Kombination beider Faktoren erlaubt eine politische Meinungsbildung. Der Referent muß also den Zirkel ebenso als Erkenntnisquelle für sich betrachten wie die anderen Zirkelmitglieder. Eine solche Methode erst gestaltet die Schulungsarbeit zu dem, was sie sein soll: nicht nur die Stelle, an der Tatsachen vermittelt werden, sondern die Stelle, an der eine Methode der Weltbetrachtung von allen Zirkelmitgliedern gelernt wird. Tatsachen sind nur an Hand von Kenntnissen und Wissen erkenntnismäßig bewältigbar, Wissen führt nur in ständiger Konfrontation mit den Tatsachen von der Interpretation zur Handlung. Der Intellektuelle ist dazu prädestiniert, das formal geistige Moment beizusteuern.

6. Beruf und Parteiarbeit.
Jeder sozialistische Intellektuelle, der in diesem Sinn in der Bewegung aktiv sein will, steht über kurz oder lang vor dem Problem der Ueberlastung: er soll ein Fachmann auf seinem eigenen Arbeitsgebiet bleiben oder werden, er soll geistige und technische Arbeit leisten. Dieses Problem der Ueberlastung teilt er bei dem heutigen Mangel an Menschen mit allen anderen Genossen. Die Lösung, die von sehr vielen Genossen oft unausgesprochen angestrebt wird, ist, den eigenen Beruf fallen zu lassen und besoldeter Funktionär zu werden. Den alten bolschewistischen Begriff verzerrend, bezeichnet man die besoldeten Parteiarbeiter jetzt oft als »Berufsrevolutionäre«, obwohl unter dieser Bezeichnung ursprünglich alle aktiven Mitglieder der Kaderpartei verstanden wurden.
Viele Genossen stehen auf dem Standpunkt, daß unsere Bewegung viel zu wenig Berufsfunktionäre hat. Für sie ist die Begrenzung ihrer Zahl nur ein finanzielles Problem und eine Frage der vorhandenen Kräfte. Eine Organisation jedoch, die den Anspruch auf eine Führung der Klasse erhebt, muß mit ihren Mitgliedern innerhalb der Klasse stehen. Selbstverständlich gilt das nicht für die Leitung der Bewegung. Die Leitung, reduziert auf einen möglichst kleinen Kreis, muß sich aus Berufsfunktionären zusammensetzen, gleichgültig, ob es sich um Arbeiter oder Intellektuelle handelt. Alle diese Genossen aber müssen sich darüber klar sein, daß sie Intellektuelle zu werden haben. Damit teilen sie auch die Nachteile dieser Menschengruppe. Sie stehen außerhalb der Klasse und sind in ihrer Arbeit auf alle jene angewiesen, die sie zu führen haben. Alle großen Führer der Arbeiterbewegung waren Intellektuelle; wenige von ihnen entstammten der Arbeiterklasse, die meisten sind als Intellektuelle zum Sozialismus gekommen. Diese Tatsache allein müßte genügen, um bei den Arbeitern die Stellung zu den Intellektuellen zu klären. Gewiß haben sie recht mit ihrem Mißtrauen gegen die gesamte Menschengruppe; unrecht haben sie, wenn sie diese Haltung generalisieren. Wir brauchen die Sympathisierenden, wir brauchen die aktive Mitarbeit von Intellektuellen. Die Auslese der Führer unserer Bewegung muß sich jenseits dieser Ueberlegungen, die wir hier für die ganze Menschengruppe, nicht für den einzelnen, angestellt haben, abspielen und ist einzig eine Frage der persönlichen Qualitäten, über deren Bewertung die Organisation zu entscheiden hat.

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Jeder einzelne Intellektuelle hat zu entscheiden, ob er sympathisierender Spezialist, mitarbeitender Spezialist, technischer oder politischer aktiver Mitarbeiter sein will. Es war die Absicht dieser Arbeit, den weiten Rahmen für die Eingliederung der Intellektuellen abzustecken, die Grenzen ihrer Aktionsmöglichkeiten aufzuzeigen. Aufgabe der Organisation ist es, diesen Rahmen mit aktiven Intellektuellen aufzufüllen.

1 Der Artikel wurde Anfang 1936 verfasst. Anmerkung Reinhard Müller.
2 Ein solches Beispiel war Marie Jahodas Bruder Eduard Jahoda (1903-1980), der in Wien den väterlichen Betrieb übernommen hatte, trotzdem immer Sozialist blieb und in den USA dann auch einen auf Gewinnbeteiligung der Mitarbeiter beruhenden Betrieb gründete. Anmerkung Reinhard Müller.
3 Vladimir Il’ič Lenin / Владимир Ильич Ленин (d.i. V.I. Ul’janov / В.И. Ульянов; Simbirsk / Симбирск [Ul’janovsk / Ульяновск], 1870 - Gorki / Горки bei Moskau, 1924): Politiker, Begründer des Marxismus-Leninismus; Oktober 1917 bis Januar 1924 Vorsitzender des Rats der Volkskommissare (Regierungschef). Anmerkung Reinhard Müller.
4 »Wer nicht absichtlich die Augen verschließt, der muss sehen, dass die neue ›kritische‹ Richtung im Sozialismus nichts anderes ist als eine neue Spielart des Opportunismus. Beurteilt man die Menschen nicht nach der glänzenden Uniform, die sie sich selber angelegt, nicht nach dem effektvollen Namen, den sie sich selber beigelegt haben, sondern danach, wie sie handeln und was sie in Wirklichkeit propagieren, so wird es klar, dass die ›Freiheit der Kritik‹ die Freiheit der opportunistischen Richtung in der Sozialdemokratie ist, die Freiheit, die Sozialdemokratie in eine demokratische Reformpartei zu verwandeln, die Freiheit, bürgerliche Ideen und bürgerliche Elemente in den Sozialismus hineinzutragen«; in Ленин (Lenin) [d.i. Vladimir Il’ič Ul’janov / Владимир Ильич Ульянов]: Что делать? Наболевшие вопросы нашего движения. [Russisch: Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung.]. Stuttgart: Verlag J.H.W. Dietz Nachf. 1902, Kapitel I. Anmerkung Reinhard Müller.
5 Sozialrevolutionäre: aus der Vereinigung von Gruppen der Narodniki (Volkstümler) der 1890er-Jahre 1901 entstandene russische Partei, die - in entschiedenem Gegensatz zum Marxismus - mit einer Verbindung von Volkstümlertum und sozialdemokratischem Gedankengut in Russland einen bäuerlichen Sozialismus errichten wollten. Im Kampf gegen den Zarismus bedienten sie sich auch terroristischer Methoden. 1922 wurden die Sozialrevolutionäre von den Bolschewisten ausgeschaltet. Anmerkung Reinhard Müller.
6 Willi Schlamm (später: William Siegmund Schlamm; Przemysl, Galizien [Przemyśl, Polen], 1904 - Salzburg, 1978): Politiker, Journalist und Publizist; seit 1919 Mitglied der »Kommunistischen Partei Österreichs« (KPÖ), 1929 nach Parteiausschluss Mitbegründer der »Kommunistischen Opposition Österreichs«; 1931 Austritt; 1933 Flucht nach Prag; im April 1934 Gründer und Chefredakteur der bis 30. November 1935 erscheinenden »Europäischen Hefte« (Prag-Bern); 1938 Emigration in die USA; entwickelte sich zu einem radikalen Anti-Kommunisten und maßgeblichen Ideologen des Kalten Kriegs. Anmerkung Reinhard Müller.
7 Recte »Europäische Hefte« (Prag): siehe Fußnote 6. Anmerkung Reinhard Müller.
8 D.i. Joseph Buttinger (1906-1992). Anmerkung Reinhard Müller.
1) Kampf, Jänner 1936.
9 Friedrich Engels (Barmen [Wuppertal-Barmen], Nordrhein-Westfahlen, 1820 - London, 1895): Philosoph und Politiker, Mitbegründer des Marxismus. Anmerkung Reinhard Müller.