Max Vancsa

Besuch des Flüchtlingslagers in Mitterndorf

in: Monatsblatt des Vereines für Landeskunde von Niederösterreich (Wien), 9. Jg. (1918), S. 178–180.

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Besuch des Flüchtlingslagers in Mitterndorf

Dr. Max Vancsa

Über Einladung unseres so überaus rührigen Mitgliedes, Herrn Statthaltereirates Fuchs, besichtigte der Verein am Mittwoch, 5. Juni, das in seiner Bezirkshauptmannschaft (Mödling) gelegene Flüchtlingslager in Mitterndorf.

Als im Jahre 1915 die ersten Flüchtlinge aus dem Süden eintrafen, wurde auch die leerstehende Teppichfabrik Philipp Haas in Mitterndorf zur Unterkunft verwendet, sodann mit der Errichtung von Baracken begonnen und dazu die notwendigen öffentlichen Gebäude (Verwaltungsgebäude, Kirche, Schulen, Spital, Fabriken, eine sogenannte Volkshalle usw.) geschaffen. Der Grund dazu musste dem Sumpfterrain förmlich abgerungen werden. Aber bald erwies sich diese erste Anlage als zu klein und es wurde zu dem alten Lager ein zweites neues gebaut, so dass schließlich eine Barackenstadt von 675.000 m2 mit 441 Gebäuden für 20.000 Flüchtlinge italienischer Nationalität aus Südtirol und Istrien emporgewachsen ist. Zur Zeit des Besuches waren die letzteren bereits wieder in ihre befreite Heimat zurückgekehrt und so war das Lager nur mehr von etwa 8000 italienischen Südtirolern mit etwa 2000 Personale der Lager- und Betriebsverwaltung bevölkert.

Trotz dieser Einschränkung war das Leben und Treiben noch erstaunlich. Es hat sich hier geradezu eine besondere Industrie entwickelt, vor allem in der großartigen Schuhfabrik, die an 600 Personen beschäftigt und täglich 2000 Paar Schuhe erzeugt. Der maschinelle Betrieb, in dem jeder Teil einzeln hergestellt wird, bis dann beim sogenannten »Rendezvous« Oberteil und Holzsohle vereinigt werden, bildet allein schon eine Sehenswürdigkeit.1) Eine andere hier gepflegte Industrie ist die Holzwarenerzeugung. Für den Bedarf des Lagers arbeiten eine Dampfbäckerei und eine Dampfwäscherei. Kuh-, Pferde- und Schweineställe reihen sich an.

Den Mittelpunkt der Zentralanlage bildet die Kirche, ein tüchtiges Werk des Architekten Jolli, geräumig, licht und freundlich. Die Schule, ursprünglich für 53 Klassen bestimmt, beherbergte 22 Klassen, an denen 4 Lehrer und 30 Lehrerinnen wirkten. Ein Teil der Knaben war zu einem Knabenhort vereinigt und konnten sich die Besucher von der strengen Disziplin der Knaben überzeugen. Auch ein Kindergarten und ein Waisenhaus sind vorhanden, an denen sowie im benachbarten Spital weiße Franziskanerinnen still und freundlich ihres Berufes walten. Berührt schon in den Schulräumen die Ordnung und Sauberkeit sehr wohltuend, so ist sie doppelt wichtig in den nach modernsten hygienischen Grundsätzen eingerichteten Spitälern (für Erwachsene, Kinder, Wöchnerinnen, Infektionskrankheiten usw.). Der geringe Belag der Abteilungen bewies am erfreulichsten den guten Gesundheitszustand des Lagers. Nur in den offenen Liegehallen unterhielten genesene Kinder und Erwachsene. An das Spital schließen sich, recht malerisch an der Fischa gelegen, die Badeanlagen. Zu den Wohlfahrtseinrichtungen gehören eine eigens angelegte Wasserleitung und eine Feuerwehr, die auch für die weitere Umgebung des Lagers segensreich wirkt.

Nachdem etwa zwei Stunden in Anspruch nehmenden Rundgang, der in drei Gruppen unter Führung des Lagerleiters, Herrn Statthalterei-Ingenieurs [Friedrich] Schmidtkunz, unter dessen Leitung die ganze Anlage gebaut wurden ist, des Herrn Oberinspektors Loß und des Herrn Statthaltereikonzeptspraktikanten Krelik stattfand, wohnten die Teilnehmer noch einer Vorführung im Kino der Volkshalle bei.

Bei der Jause in der Kantine begrüßte Statthaltereirat Fuchs die Teilnehmer aufs herzlichste, worauf Landesarchivar Vancsa namens des Vereines ihm und den liebenswürdigern Führern wärmstens dankte und ihn zu dem großartigen, mustergültigen und bewunderungswürdigen Werke der Flüchtlingsfürsorge beglückwünschte, das auf dem Boden seiner Bezirkshauptmannschaft entstanden ist und auf das die österreichische Regierung stolz sein kann.

Da das angenehm kühle und schöne Wetter äußerst einladend war, so unternahmen die meisten Teilnehmer noch eine Wanderung über Moosbrunn nach Gramatneusiedl, während ein kleiner Teil mit der Zweigbahn dahin fuhr, um dann gemeinsam mit der Ostbahn nach Wien zurückzukehren. Der Gruppe der Teilnehmer, welche unter dankenswerter Führung des Oberlehrers von Mitterndorf, Leopold Mozelt, den Weg über die sumpfigen Wiesen nach Moosbrunn einschlug, erläuterte Landesschulinspektor Dr. Becker die Bedeutung und den Aufbau der Wiener Bucht und insbesondere die eigenartigen hydrografischen Verhältnisse der Gegend von Moosbrunn.

1) Einen kleinen Ausschnitt des Betriebes konnte man auch in der Ersatzmittel-Ausstellung im Kaisergarten in Wien sehen.