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tagebücher / 1935-38 / 1937-12-25

25. Dez. 1937. Samstag. Christtag.

Eine seltsam bewegte Woche; durch Mimi vor allem, die Sonntag wiederkam. Wir waren viel beisammen & so glücklich wie wohl noch nie, bei aller Trauer über die kommende Trennung. Ich habe sie auch noch nie so hingabefreudig gefunden. Ganz neue Tore haben sich geöffnet & wir sind auf geheimnisvolle Weise näher & ferner gerückt.

Gestern kam sie zur Bescherung. Ein netter Baum unter dem ich fand: Boswell's Life of Johnson (3 Bd., prächtiges Leder, McMillan Classics); Pepy's Drary & grüne Lederbände, reich illustriert. Endlich also diese schon so lange ersehnten Werke; die zugleich Schmuck sind. [Ich habe überhaupt das Wachsen meiner Biblioth. etwas vernachlässigt; in USA werde ich viele erwerben, denke ich.] Dann 1 schöne Meerschaumpfeife mit Bernsteinmundstück (nie hatte ich eine solche geraucht), 1 Lewis "blonde" Straight grain. ... d. Col. ... – Bei den Eltern ein reicher Tisch & viel Zufriedenheit, getrübt wegen Taxi. Hannchen gab ich 1 Perlenschnur (137 Stück, über 200,- S.), Muttel einen Gasofen für die Küche, Vatel 1 Brieftasche (Hannchen 1 Abendtasche noch) & meine Armbanduhr. Ich selbst habe eine neue: schwerzes Zifferblatt mit grossem Sekundenzeiger (sehr beunruhigend!). – Mi erhielt von mir Alice in the Wonderland, 1 Schal & in einer Glasdose den sehr gewünschten Ring mit der Doppelbrücke aus kleinen Rubinen. So glücklich darüber! – Von zu Hause: 1 schöne, schwere Haarbürste (...holz), 1 Frackuhrkette, mehrere Reisedinge, 1 Pfeifenständer etc. Sehr zufrieden.

Heute nicht bei den Eltern, sondern lange geschlafen. Um 315 kam Mi.; sie fährt heute nach Anton, bis etwa Freitag-Samstag. Merkwürdig: sie fährt in Flucht vor mir. Sie fühlt sich so sehr gebunden & gestört & gelöst, d. h. sie liebt mich wohl wirklich sehr. Da sie hier bleibt, hat sie es auch viel schwerer als ich.

Im Büro alles in Ordnung. Mittw. mit John & Kamitz bei Kienböck. Ich gab ihm den Bahnbericht, der auch am gleichen Tage an Taucher überreicht worden war. (Es haben ihn noch: Ender, Schuschnigg, Neumayer). Es ist ein grosses Ding & hat viel Mühe gekostet. Die Zus.fassung & bes. die "Schlußfolgerungen" habe ich mir Wort für Wort überlegt. Hoffentlich kommen hievon einige gute Wirkungen. Eigentlich müßte Rauscher zurücktreten, der durch die Rona & die unsinnige Tarifpolitik so viel Schaden gemacht hat. Kienböck empfahl ich meine beiden Herren. John hat keinen bes. günstigen Eindruck gemacht; er ist noch immer zu sehen & ... so gut er sachlich ist. Ich muß in meiner Abwesenheit vor allem auf Kamitz weltlicher Tüchtigkeit bauen.

Von der W.gesch. will Kienböck noch etwas sehen. Ich liefere ihm das 3. Kapitel baldigst; ca. 100 Sieten. Nun ist auch der Vortrag für die V.F. auszuarbeiten. Ich werde ihn viell. diktieren; ev. sogar drucken; ein Teil davon kommt ins Buch. Dieses soll in 1 Jahr zum Druck gehen!

Gestern ein Brief von Kittredge: Die Donaugelder ($ 3250,-) für uns bewilligt; bedeutet weitere Aufrechterhaltung des Apparates. Milic wird froh sein.

So jetzt will ich etwas Nachtmahlen. Ich habe noch so wunderbaren Tee aus England. 2/6! Dann die blonde Pfeife & endlich wieder zeitig ins Bett. Es giesst in Strömen.

Später: In Amerika will ich versuchen, wenigstens eine kurze Notiz täglich z u machen. Ich werde sehr viele neue Leute treffen. In den letzten Tagen habe ich etliche Dutzend Brief diktiert oder geschrieben. Frl. Parzer ist sehr brauchbar; man kann ihr fliessend engl. diktieren; ev. setzt sie sogar Briefe auf. Drüben werde ich mir auch eine Hilfskraft geben lassen, ev. sogar zahlen, weil ich dadurch viel Zeit sparen kann. Dr. Weldler schriebe mir aus Baltimore, man kann Freikarten auf amerik. Bahnen bekommen, wenn sich der Vertreter der ÖBB darum kümmert. Ich werde das Min. dann schreiben lassen. Vom Foreigen Office habe ich eine Empfehlung an den brit. Botschafter Sir Ronald Lindsay in Wash.; das kann für meine Besprechungen nützlich sein.

Schuschniggs Buch 3 x Öst. habe ich zu lesen begonnen. Stellenweise sehr gut, aber oft vage & sentimental. Und so häufig ein erbärmliches Deutsch; wirkliche gramm. Fehler! Das hätten doch seine Mitarbeiter merken müssen. Aber trotzdem ist es wertvoll.

Gestern erschienen die ges. Aufsätze von Schlick. Einige darin, die ich noch nicht kenne. Ein wertvolles Buch; schade, daß ich es jetzt nicht lesen kann, viell. in Madison, denn für mein engl. Buch wäre es wertvoll, um die klare methodol. Einleitung zu finden. Welch' ein Verlust, daß dieser Mann nicht mehr ist.

Mit Menger geschrieben. Wir sehen uns drüben bestimmt, denn er bleibt noch bis zum Sommer. Nur?? Er geht mir sehr ab, denn so kluge Leute findet man nicht so bald wieder.

Heute einmal wieder Ruhe & Sammlung gehabt. 2-3 Tage muß ich wohl der Sammlung aller meiner Papiere, MS & Bücher widmen, die ich mitnehmen will.

Zu sagen: am 10. I. fahre ich nach Amerika, ist etwas ganz neutrales, aber zu sagen: in 14 Tagen, oder in 8 Tagen fahre ich, ist etwas ganz anderes, sogar etwas ziemlich unwahrscheinliches (scheint es).

So viel jetzt.

Oskar Morgenstern Tagebuchedition: Tagebuch 1935-38, Eintrag 1937-12-25
(Zugriff über http://doi.org/11471/319.25.21)