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tagebücher / 1938-39 / 1938-10-29

Samstag, 29. Okt.

Die Zeit läuft. Warum ich mich scheue wenigstens einiges von dem niederzuschreiben, was mich bewegt - ! Freitag soll Mimi also aus South. abreisen; viell. ist sie schon in London.

Gestern war Sebba hier. Er war 3 Monate im Gefängnis; eine harte Sache. Er hat so viele dort gesehen: Schmitz, Presser, Kerschagl etc. Spann hat an Machlup (!) geschrieben, ob man ihm nicht eine Prof. hier in Amerika verschaffen könne. So ändern sich die Zeiten. An einen Juden wendet er sich, den er nicht hat habilitieren lassen. Mayer soll auch wackeln & ganz oben auf der Abbauliste stehen. Auch das wundert mich nicht. Winkler hat mir geschrieben & ich bin über ihn gefragt worden. So geht das fortwährend; es ist entsetzlich. Meinl soll ganz entsetzt sein; der Sohn mußte ausscheiden & ist in Jugoslawien. Bloch ist ganz verarmt. S. erzählte viel von den Tagen unmittelbar vor dem Anschluss: was für ein Durcheinander. Es deckte sich mit dem, was die Philippovichs wußten. Heute rief Wyler (Bern) aus N. Y. an & kommt zum Nachtmahl. Nett, ihn zu sehen, aber es wird mir schon zu viel. Ich will mehr Ruhe haben, damit ich mich dann Mimi widmen kann. Ich werde bald diese Besuche ablehnen.

Ich arbeite an Vorlesungen & Vortrag für N. Y. Viele neue Bücher überschwemmen mich. Soeben ist das von W. I. King erschienen. „Econ. Fluct.“, eine grosse Enttäuschung. Er zitiert allen möglichen Quark, aber nicht Haberler! Es ist toll.

Sebba machte gestern eine Lebend-Maske von mir, aber sie zerbrach, weil der Gips zu langsam trocknete & ich schlucken mußte.

Bei Rieflers zum Dinner. Sehr angenehm. Noch: Miss Wise; Prof. Smyth & Fr. (Phsik). Mr. Notestein & Fr. (Er gefällt mir & ist sehr kompetent). Mr. & Mrs. Roberts (Ölquellenbesitzer). Nachher kamen noch Mr. & Mrs. Lambert (baut hier; Eigentümer der „Yankee“ Yacht etc.) & Cohen, einer der jetzigen Roosevelt-Braintruster; sehr typisch. Die übliche sanfte Arroganz dieser Leute.

Do. ist 1. Seminar. Lutz wird sprechen.

Was für ein Erlebnis es sein wird, nach so vielen Monaten Mimi wieder in die Arme nehmen zu können; ihren Atem zu spüren & die glänzenden Augen zu sehen. Ich sah wieder ihre Photos; aber ich kann kaum noch hinschauen, so gross wird sonst mein Verlangen nach dem geliebten Kind.

Oskar Morgenstern Tagebuchedition: Tagebuch 1938-39, Eintrag 1938-10-29
(Zugriff über http://doi.org/11471/319.25.22)