OSKAR MORGENSTERN TAGEBUCHEDITION //
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tagebücher / 1940-41 / 1940-01-29

29. I.

Mimi meinte gestern, wir müssten wohl fürchten, unsere Eltern nie wiedersehen zu können. Hoffen wir, daß dieser Gedanke nicht richtig ist, aber ich fühle oft, daß die Aussichten sehr gering sind. Wie soll ich z. B. „nach“ dem Krieg überhaupt reisen können (so lange ich noch nicht Amerik. bin)? Aber vor allem gibt es ja gar kein „nachher“; denn das geht ja in verschiedenster Form so weiter & weiter. Neulich dachte ich daran, wie tief doch die Wurzeln des Nazismus liegen. Fichte, Hegel, Lassalle, usw. Und all dieser Unsinn ist eingesaugt worden vom deutschen Volk. Ich mag es nicht. Und ich ärgere mich nur, wenn ich daran denke. Amerika sagt mir so zu, weil hier der Staat nicht so im Vordergrund steht, nur eine Einrichtung ist; „Administration“ sagt man statt „Government“. Das bringt den ganzen Unterschied heraus. Mimi sagte unlängst – etwas tadelnd – sie kenne niemanden, der so zivilistisch gesinnt sei, wie ich. Ein grosses Kompliment, denn alles soldatische ist primitiv barbarisch, kollektiv. Die Chinesen haben eben recht, die Soldaten irgendwo ganz unten an die Skala zu stellen. –

Schumpeters Bus. Cycles, die ich rez. muß, mißfällt mir bei vieler Anerkennung. Breit, vage, schlechtes englisch. Voller nichtssagender „gelehrter“ Andeutungen. Es kommt nichts heraus dabei. Und warum 1000 Seiten? Wenn wenigstens noch die geschichtl. Teile zu brauchen & angenehm zu lesen wären!

Ich finde, daß es mir gut tut, auch nur dies ganz bescheid. Tagebuch zu führen.

Oskar Morgenstern Tagebuchedition: Tagebuch 1940-41, Eintrag 1940-01-29
(Zugriff über http://doi.org/11471/319.25.23)