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tagebücher / 1940-41 / 1940-04-22

Montag 22. April.

Es geht nicht gut; ich entferne mich immer mehr vom Leben. Ich sehe es besser, empfinde es stärker & verschiedenartiger, besonders in meinen Erinnerungen, aber ich habe nicht teil daran. Mich schmerzt, was ich um mich sehe, an Leid, Verworrenheit, Unsinn. Was ich aus Wien höre betrübt mich, was ich aber bei Mimi sehe, die sichtlich leidet, wie sie nie gelitten, betrübt meine Seele zutiefst. Und ich stehe da & weiss nicht wie ich ihr helfen kann–.

Mimi war gestern hier (bis heute) & vor einer Woche (als wir reiten gingen, anfänglich bei Schneetreiben & dann in der Sonne.) Es war unsagbar bitter & ich bin ganz verstört; nicht weil ich leide, sondern weil es mir so nahe geht ihren ungekannten Schmerz zu sehen & die Veränderung in ihr zu beobachten. Als ob sie ihre Lebenslust verlöre. Und das bei ihr – .

Also anderes: Ashton-Gwatkin hier Freitag ausführlich besprochen. Er hat noch den Runciman-Geist & München ganz im inneren. Ein Beamter; noch dazu phlegmatisch; so wie sie den Krieg nicht gewinnen werden. Ich sagte, was ich mir von der Nachkriegszeit erwarte (nach meinen Notizen über Econ. of War). Das ergab viel Diskussion, die mir aber keine neuen sachlichen Fortschritte brachte.

Was für ein Unterschied: Samstag sah ich im Waldorf-Astoria Rist, der in 1-2 Tagen mit den Clipper heimfliegt. Wir lunchten zus. & haben 3h ausführlichst gesprochen. Wie er die Engl. Regierung beurteilt! Nicht ein Jota anders, als ich. Chamberlain hält er für einen der dümmsten Menschen. Als Ch. aus München zurückkam & sagte: Peace for our time! sagte ihm jemand (den Rist gut kennt), daß Hitler schon vieles versprochen & nicht gehalten habe. Darauf antwortete er: But he did not promise it to me!“!!! So ein Affe. Rist weiss auch, daß Hitler von ihm nur als „das Arschloch“ spricht. Und das wissen die „Männer“ aus Chamberlains Umgebung. Rist sagte, die Verhandlungen mit brit. Ministerien seien unerträglich schleppend. „Sie glauben, sie hätten die ganze Zeit der Welt für sich“. Er meint, daß die Alliierten sich weniger scheuen werden, als Hitler, 100 000e zu opfern, um eine Entscheidung herbeizuführen. Er ist weder optimistisch noch pessimistisch, sondern weiss eben, daß der Ausgang des Krieges unsicher ist. Von Keynes’ Plan hält er auch nicht viel. Über Nachtkriegeszeit haben wir nicht so viel gesprochen; er meinte nur, daß im deutschen Sprachgebiet mit Sozialwissenschaften nicht viel anzufangen sein wird; gleichgültig was geschieht. Möglich. –

Weyl sprach neulich zu mir, daß er erst Do (vorigen) mit Aydelotte werde sprechen können. Seither habe ich ihn nicht gesehen, will auch nicht drängen. Mir wird nur immer mehr klar, was das für ein Glück wäre. Whittlesey hat einen Ruf an die Penn State U.; ich finde, er sollte gehen. Howard ist Ordin. Geworden.

Donnerstag kam John D. Rockefeller 3rd zu mir zu Besuch; er war wegen einer Trusteesitzung hier. Sehr nett von ihm; ich hatte ihn vorigen Montag besucht. Er will sofort von mir wissen, falls ich von anderswo ein Angebot bekomme. Sa. tel ich von N.Y. aus mit David, dem John von seinem Besuche hier schon erzählt hatte. David macht übermorgen sein Dr. Examen in Chicago & wird am 1. Mai Sekretär von La Guardia.

Freitag war also der Waltz-Ball im Ritz-Carlton. Vorher Dinner für 26 Personen bei Morgans. Es war sehr nett; Diana, Noël, Helen, Mary, waren alle reizend & man hat sich gut amüsiert. Natürlich bin ich mit Diana nicht viel zus.gekommen. Ich sprach für sie mit Rist, weil ein Bekannter von ihr in einem französ. Lager ist. Gestern rief sie hier an & war sehr nett. Sie fuhr für 4-5 Tage nach Norfolk, um das Haus aufzumachen. So werden wir uns viell. Sa. wiedersehen. –

Vorlesungen & Seminar gehen ganz gut. Mittw. in N.Y. mit Hanay & Neumann. Sitzung im Nat. Bureau. Nachher Nachtmahl mit Angell im Century Club (sehr gutes Essen & ½ Fl. Volnay 1934!). –

Morgen habe ich sehr viel zu tun. Immer mehr & mehr zu schreiben. Ich ersticke schon fast in Notizen; - 12 Tage hat es geregnet. Noch nicht grün; ich möchte so gerne reiten gehen (habe eine neue Hose.). –

Oskar Morgenstern Tagebuchedition: Tagebuch 1940-41, Eintrag 1940-04-22
(Zugriff über http://doi.org/11471/319.25.23)