OSKAR MORGENSTERN TAGEBUCHEDITION //
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tagebücher / 1940-41 / 1940-06-19

19. Juni.

Die Tragödie Frankreichs stimmt so traurig & ich mußte an das Wort denken, daß jeder Mensch 2 Vaterländer habe: sein eigenes und Frankreich. Das ist es, was vernichtet ist. Wie schwer das bei uns wiegt, die wir unsere alte Heimat schon früher verloren haben –.

Und wie gemein, daß ein solcher Lump wie Mussolini im letzten Augenblick mit „reinem Gewissen“ hinterrücks angegriffen hat & ohne Opfer nun an der Beute teil hat.

Der junge Meinl schrieb im letzten Brief (etwa April), er teile meinen Pessimismus nicht, sondern sei viel optimistischer ….. Wenn er nur seine Familie rechtzeitig herüber gebracht hätte. – Was mag mit Rist, Garr, Dupriez, Lemoine, Tinbergen, Huber, Rueff etc etc sein? Alles zersprengt & sicher manche tot.

Jetzt wieder zur Arbeit am Aufsatz für R. of Ec. Stat. –

Später:

Ich habe mich wieder in die Arbeit vertieft, aber was ich anrühre, zerbricht mir unter den Fingern. Z. B. wollte ich etwas sagen über den Zus.hang zwischen dem Maße der Schwankungen & dem Grade der Flexibilität des Systems. Aber wo ich anrühre, zeigen sich, bei etwas schärferer Formulierung der Fragestellung phantastische Schwierigkeiten. Es ist aber interessant zu sehen, daß man in diesen Dingen von der Lit. wenig Hilfe erhalten kann. So wenig Autoren bemühen sich, wirklich tief vorzustossen; es genügt ja – im heutigen Stadium – sich über die Probleme klar zu werden; sie sollen nicht durch Geschwätzigkeit überdeckt werden. –

Oskar Morgenstern Tagebuchedition: Tagebuch 1940-41, Eintrag 1940-06-19
(Zugriff über http://doi.org/11471/319.25.23)