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tagebücher / 1940-41 / 1940-06-21

Freitag 21. VI.

Was sich in Frankreich abspielen muß, kann man sich gar nicht recht vorstellen. Zu der wirklichen Tragödie grössten Ausmasses kommt hinzu die Tatsache, daß die Franzosen so viele Fehler gemacht haben, kleinlich waren, nur politisch. Obendrauf die widerwärtige Effekthascherei Hitlers, der quasi als Theaterregisseur funktioniert. Der heutige Bericht Archambaults in der Times war sehr aufschlußreich, aber besonders ermutigend. Falls England geschlagen wird, sollte auch dort eine Sumpfblase aufgestochen werden, die uns allen Übelkeit bereiten wird. Ich kann mich wirklich nicht beruhigen über die phantastische Inkompetenz, die in beiden Ländern zu Tage tritt (und worüber man seit Jahren gesprochen hat).

Gestern Abend in Atlantic City; herrliche Sonne, kühler Tag. Heute früh erst zurück, noch Frühstück am Meere.

Nachher, um 5h, gehe ich zu Thomas Mann zum Tee.

Mit der Geschichte über Flexibilität komme ich gar nicht recht weiter. Es ist doch eigentümlich, wie man von der Lit. wenig Hilfe zu erwarten hat. Mein Aufsatz stockt gänzlich; ich glaube, daß dieser Punkt nicht eingearbeitet werden sollte, weil er noch viel Überlegung bedarf.

Das Dep. ist in völliger Des-Organisation. Jetzt geht auch Dell (kein wiss. Verlust); vorhin war Duncan hier (36! nur 1 Aufsatz publiziert), der jetzt mit Smith ein Lehrbuch der Statistik schreibt, wozu beide völlig unqualifiziert sind. D’s Ansichten über Wahrscheinlichkeit gehören in die primitive Schule. Es ist grässlich, wie es hier ausschaut.

Donnerstag soll ich zu David nach Pocantico kommen.

Vorgestern Abend mit den Rolls & Lovasy beim Delaware, Turm bestiegen, Dinner in der Tow Path Inn; zu mir, Beethoven V.e Angenehmer Abend & alle 3 sichtlich erfreut. Ich mußte einfach meine Schulden abtragen.

In Washington setzt man einen wilden Plan nach dem anderen in die Welt, anstatt ruhig, aber wirksam an die Arbeit zu gehen. Man soll die Produktionsbedingungen verbessern & nicht so viel Reden. Warren, Stuart, Thomas alle sind böse über die offensichtliche Konfusion.

Heute ist Kittredge angekommen; ich werde ihn nächsten Do. besuchen. An Nurkse ist gekabelt worden, daß er eine Fellowship bekommen dürfte. Hoffentlich gibt es dann noch eine Reisemöglichkeit.

Später II p.m.

Tee bei Thomas Mann. Noch seine Frau, Dr Weisel (Sekr.) & Pudel (von ihnen sehr geschätzt). Natürlich viel über den Krieg gesprochen, aber er weiss auch nicht mehr als andere. Dr Berman ist vor 2 Monaten von den Schweden eingesperrt worden, was doch unerhört ist. Mann meint, daß der Zus.bruch in Frankreich auch sehr stark mit der wirksamen deutschen Propaganda zus.hängt. Er fürchtet sehr für hier & sieht ähnliches wie einen Faschismus kommen. (Eine Ansicht, die viele Europäer immer schon im Augenblick hatten, als sie hierher kamen, aber gewöhnlich nach einiger Zeit fallen lassen.) Wir sprachen auch von sonstigen Bekannten wie Lernet-Holenia, Vossler, Höllriegel, etc. Sie haben einen neuen Wagen, Buick-Super, & auch das wurde hervorgebracht, viell. einfach Besitzerfreude, oder gar ein amerik. Einfluß?? Jetzt fahren sie nach Californien, werden aber ab Herbst wieder im gleichen Hause wohnen.

Vorhin „Our Town“ (Thornton Wilder) gesehen. Fast genau nach dem Stück, das ich am 8. Nov. 1938 mit Eve & Arthur Burns sah. Im Stück ist allerdings der Ausgang anders, weil sie wirklich im 2. Kindbett stirbt. Eindrucksvoller, guter Film, wie sie selten sind. Weyls sah ich einen Moment.

Ich beginne jetzt den Versuch, einmal eine Sache wirklich systematisch festzuhalten, auch wenn ich sehe, daß ich unmittelbar keinen Fortschritt mache. Z. B. Elastizität. Es kommt aber doch irgendwie zu nutze. –

Mimi versuchte ich anzurufen; aber viell. ist sie schon in Washington, wo sie das Weekend ist.

Die deutsch-engl. gegenseitigen Bombenangriffe scheinen an Heftigkeit zuzunehmen. Wie das noch werden soll –.

Oskar Morgenstern Tagebuchedition: Tagebuch 1940-41, Eintrag 1940-06-21
(Zugriff über http://doi.org/11471/319.25.23)