OSKAR MORGENSTERN TAGEBUCHEDITION //
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tagebücher / 1940-41 / 1940-06-23

So. 23. VI.

Ich bin wirklich noch mit Hanay & den Lutzs in die Felder gefahren, um wilde Erdbeeren zu pflücken. Am frühen Abend, herrlich usw. aber die 2 Lutzs sind blind, mufflig (bes. er; das ist typisch deutsch!) & sie haben H. & mir die ganze Stimmung beinahe verdorben. Es ist mit ihnen einfach nichts anzufangen & ich habe es jetzt wirklich satt & werde mich nicht mehr kümmern. Merkwürdig, sich sein Leben so platt zu machen. Es muß wohl eine Art Perversion sein, ein Masochismus. Dabei sind ihnen die Fähigkeiten & Kenntnisse (enger Kreis) nicht abzusprechen.

Abends rief Mimi unerwarteter Weise an. Sie wird Di. herkommen; wir haben uns dann über 2 Wochen nicht gesehen.

Jetzt kommt immer mehr über die Art des franz. Zus.bruches zu Tage. Es ist wenig überraschendes dabei. Die wichtigsten Dinge sind schon vor 20 & mehr Jahren festgestellt worden. Es war schon vor 1914 so, daß in Deutschland mehr, länger, intensiver gearbeitet wurde als in den 2 Westmächten. „Dynamik“ vs. Statik. Das muß zu einer solchen oder ähnlichen Katastrophe führen, wenn diese Diff. wachsen kann. Genau das, ist aber geschehen. Das Tempo & die Bequemlichkeit des Lebens jedes Einzelnen & jeder Nation wird eben von denen bestimmt, die im weitesten Sinne Konkurrenten sind. Natürlich ist das schlecht & unbequem, aber man hätte eben bald etwas dagegen tun können, als es noch nicht so viel Mühe gekostet hätte. Hier in US ist der günstigste Zeitpunkt schon vorüber. Die Hoffnung besteht nur darin, daß die Anstrengung der Deutschen so gross ist, daß eine Jahrzehnte lange Erschöpfung folgen wird. Sicher wäre das nach einer Niederlage. Aber immer wieder muß man wiederholen: sie muß deutlich militärisch sein. Die Deutschen wollen ja heute weniger denn je einsehen, daß sie 1918 regelrecht militärisch geschlagen worden sind. Die Aussichten für solche milit. Erfolge der Alliierten (richtig: Englands) sind geringer denn je & ein deutscher Zus.bruch würde im Wege über den Hunger gehen. Das ist nicht genug. Der Krieg müsste auch im Reiche selbst stattfinden; viell. wird die Luftwaffe, das noch zustande bringen. [Was für unangenehme Gedanken – ].

Oskar Morgenstern Tagebuchedition: Tagebuch 1940-41, Eintrag 1940-06-23
(Zugriff über http://doi.org/11471/319.25.23)