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tagebücher / 1940-41 / 1940-06-25

Di. 25. VI.

Gestern 2 Briefe aus Wien; der 2. war schon einer nach der neuen Vorschrift geschrieben & enthielt wenig Nachrichten. Im anderen bestätigten sie wieder Pakete & schienen ganz glücklich darüber. Bes. Kaffee scheint ein ungeheurer Luxus zu sein; sie hatten einen Ausschnitt aus der Ill. BZ beigelegt, die das zeigt. Sonst geht es ihnen schlecht; was Vatel für Steuern zu zahlen hat, fast 1000.- Mk!

Hier war es weiter kühl & gestern regnete es. Heute war ich bei Bergen wegen des Reitens & es geht auch dort; viell. gehe ich morgen. Mittag wollten sich Lutz’s mit mir Autos ansehen, weil sie nun endlich daran denken, eines zu kaufen. Viell. sollte ich meinen Wagen im Winter eintauschen, weil später viell. Qualität schlechter wird, bes. wenn Am. doch in den Krieg geht. Aber wie? Wo nicht mehr viel Ansatzpunkte für das Eingreifen übrig sind. Gott sei dank kommt die Prod. von Flugzeugen jetzt wirklich in Gang. Knudsen soll so ausgezeichnet wirken. Er ist wohl einer der grössten Organisatoren hier, kennt Ford & Gen. Motors.

Die europ. Tragödie schreitet immer weiter fort. Die engl. Kurzwellen Stat. waren vorhin stumm; offenbar neue Luftangriffe. Die Engländer behaupten deutsche Flugzeugfabriken schwer beschädigt zu haben.

Viel in Mises weiter gelesen. Meist sehr gut, aber was er über Logistik sagt, ist nicht sehr genau, bes. über Tautologie. Ebenso die Behauptung, die Logik beschäftige sich mit allgemeinsten Gegenständen (!), wobei ihm vorschwebt, daß man doch eine Verbindung mit der Empirie herstellen müsse. Auch der Grundlagenstreit ist nicht sehr gut dargestellt. Gegen die Protokollsätze & die ganze diesbez. Theorie habe ich noch immer die gleichen Einwände, die ich schon Schlick vorgebracht habe & die er mir nicht genügend entkräftet hatte.

Weiter über den Aufsatz nachgedacht. Aber es geht so langsam. Wieder bricht die Sache ins Uferlose & würde mich zwingen, ein grosses Buch zu schreiben. Ich glaube, es wird wohl am besten sein, wenn ich eines plane; dann kann ich jeder Sache ihren Platz zuweisen & würde so zu grösserer Einheit kommen. Das übliche Abspalten von Artikeln will mir nicht gelingen. Es scheint, als ob ich mich in einer tieferen Schichte der Überlegungen bewege. Deswegen leide ich wohl auch so unter dem langsamen Fortschritt. Die Mühe, die ich die ganze Zeit empfinde, ist ganz erheblich. Sicherlich bin ich tief innen auch abgelenkt, durch Krieg & anderes. Ob mich Mimi noch so stört, ist schwer zu sagen. Ich weiss, daß ich sie ebenso gern wie immer bei mir hätte. Heute rief sie wieder an, daß sie nicht heute käme, sondern erst Samstag. Ich glaube sie registriert zu genau, ob ich mich etwas zurückhaltend zeige & dann kommt sie lieber nicht. Also leidet sie eben unter dem schlechten Gewissen. Jetzt sagt sie auch, daß sie Europa ganz abgeschrieben habe. Aber was soll das in ihrer Lage bedeuten?? Ich bin jetzt ganz allein & auch sehr auf mich eingestellt; nicht so bedürftig andern Menschen; bes. nicht der Frauen, die mich völlig kalt lassen. Ich kann mir einen Zustand der Verliebtheit gar nicht mehr vorstellen. Viell. irre ich mich; aber das ist der jetzige, ganz neutrale Zustand. & das hat nichts mit mangelnder Sexualität zu tun. –

David Rockefeller, der mich für Do. nach Pocantico eingeladen hatte, rief gestern abend an, daß LaGuardia ihn nach Washington schicke, auf 2 Wochen, & wir uns daher nicht treffen könnten.

Oskar Morgenstern Tagebuchedition: Tagebuch 1940-41, Eintrag 1940-06-25
(Zugriff über http://doi.org/11471/319.25.23)