OSKAR MORGENSTERN TAGEBUCHEDITION //
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tagebücher / 1940-41 / 1940-07-04

Do. 4. Juli.

Independence Day. Hoffentlich ist die Unabhängigkeit, so wie wir sie heute geniessen, nicht gefährdet. Es wird ganz von der Wachsamkeit abhängen. Trotz des grossen Rüstungsprogrammes bin ich nicht sehr damit zufrieden. Die breiteren Massen wissen nicht, worum es geht. Daher müssen es eben die, die mehr Einsicht haben immer wieder mit Nachdruck sagen.

Heute eine Tragödie: Die Engländer haben Teile der franz. Flotte versenkt! Man darf gewiss nicht sentimental sein, weil nichts wichtiger ist, als daß Hitler nicht die Flotten in seine Hände bekommt, aber man muß doch erschauern. Jetzt sind die etwaigen Friedensmöglichkeiten natürlich begraben & auch wenn Hitler einmal versinkt, wird ein neues Europa unter franz. engl. Führung wohl für Generationen undenkbar sein. Aber das hat man ja gewußt, jedoch wenn wieder ein Schritt auf der Bahn abwärts gemacht wird, nein, gemacht werden muß, ist es ergreifend. – Nun wird wohl auch bald – am 9. oder 10. wieder? – der Angriff auf England erfolgen – .

Ich habe in den letzten Tagen zus.hängend geschrieben & möchte mich dabei nicht unterbrechen lassen. Es ist nur der erste Entwurf, aber es soll weitergehen, zumal ich wirklich vieles sagen will. Wenn ich einmal erst wieder ins Schreiben gekommen bin, wird noch vieles andere folgen. Der Bann, der über mir in dieser Hinsicht lag, scheint gebrochen zu sein & ich hoffe auch die gewisse Freude wiederzufinden, die in der Fertigstellung von Arbeiten liegt. Es ist auch eine Angelegenheit der Zucht & des Willens.-

Mimi war Sa/So hier & sehr nett, obwohl wieder ein Misston drohte. Ich darf nicht böse werden, sonst mache ich diese bescheidenen Freuden des Zus.treffens unmöglich. Ob ich sie noch liebe? Ob sie mich liebt? – Haben diese Fragen Sinn? Ein „noch“ zu setzen!

Wir waren 2 x reiten; gingen spazieren & hatten So. Lunch mit Kittredges, McAlpin & van Dusen. Es war recht amüsant & die Leute schienen sich wohl gefühlt zu haben. Das Wetter war herrlich & wir sassen beim P. of Dr. im Garten.

Mo. waren Gödels bei mir am Abend. Sie ist ein Wr. Wäschermädeltyp. Wortreich, ungebildet, resolut & hat ihm wahrsch. das Leben gerettet. Daß er sich für Gespenster interessiert, war neu! Er war so gut aufgelegt, wie ich ihn noch nie gesehen habe.

Gestern fuhr ich nach N.Y. zum Dinner bei David Rockefeller (in Park Av.), wo noch Tintner (!) & 2 Freunde Weil (von Macy) & Gray hinkamen. Ganz nett. David erzählte viel von seiner Arbeit bei La Guardia. Tintner war eine Kuriosität; er verteilte, wie gewöhnlich, Visitkarten & machte Anstrengungen mit allen wieder zus.zukommen. Schwer pathologisch! David muß demnächst nach Washington; er hätte schon früher sollen. Wenn ich vom Urlaub zurückkomme, sollen wir wieder in Pocantico zus.treffen & er hat mir Mussolini angeboten (das schöne Pferd). Ich übernachtete in Hillside & heute hatte ich Lunch mit Diana, die wieder sehr nett war; eben aus Norfolk wiedergekommen; man erwartet mich & es verspricht ganz nett zu werden. Aber ich bin im Augenblick gar nicht aufs Reisen eingestellt, sondern fühle mich hier wohl & will bei meinen MS’s bleiben. John ist schon in Merriam & er erwartet mich Ende Juli. Mimi fährt nicht nach dem Westen, sondern nur 8-10 Tage nach New England.

Mises „Nat.Ökon.“ ist eingetroffen. Ein riesiger Schmöker von etwa 800 Seiten. Es wird sicher sehr gut geschrieben sein, viele interess. Gedanken & Bemerkungen enthalten & trotzdem ein grässliches Buch sein. – 30 Jahre zu alt.

Oskar Morgenstern Tagebuchedition: Tagebuch 1940-41, Eintrag 1940-07-04
(Zugriff über http://doi.org/11471/319.25.23)