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tagebücher / 1943-44 / 1943-07-14

Mittw. 14. Juli.

Gestern Abend war Clari einen Sprung hier. Sie erzählte, daß sie einen Brief von Maxwell bekommen habe; er lasse mich & Mary Smyth grüssen & er sehne sich nach "seinem Princeton." Was für eine verrückte Welt. – Und ich kann Madeline nicht vergessen. Oft bekümmert es mich so sehr. Neulich nachmittag war ich einen Sprung bei Louise; aber ich brachte es nicht fertig nach ihr zu fragen. –. Ob sie wohl manchmal an mich denkt & sich der vielen schönen Stunden erinnert?

Heute 3h; bei der feuchten Hitze ist das eine Menge. Aber ich glaube, ich werde mir alles einrichten können. Morgen könnte ich Mitchell in N.Y. sehen, aber ich werde erst einen Plan ausarbeiten & ihm schicken.

Etwas weiter gearbeitet an den neuen Vorlesungen. Das beste wird sein, die Zeit dafür ausschliesslich auf Mittw.-Sa. Nachmittag zu beschränken & an den anderen Tagen für das Bureau zu Arbeiten; sonst geht alles durcheinander & nichts kommt zustande. Dr. Silberner, der mir bei den Precepts helfen soll, war heute hier. Er gibt auch deutsch Unterricht. Viele können scheinbar gut deutsch. Aber es gibt viele, die nicht das geringste je von Ökonomie gehört haben. (Z.B. ein Baumeister, ein Chiropodist, manche 19, andere 37 Jahre; andere Graduates in Ökon. von Yale. Schwieriges Gemisch für Vorlesungen. Aber schliesslich habe ich mir sie nicht ausgesucht und zum Amüsement sind wir alle nicht hier.).

Manchmal möchte ich fort von hier. Dabei gefällt es mir, & könnte es mir noch besser gefallen. Johnny ist natürlich der Magnet. Aber ich habe den Gedanken nicht gern, mein Leben so wie es ist ins unbestimmte weiterzuführen. Das könnte ich tun, wenn ich mich wirklich entschlösse, ein ganzes Buchleben zu führen. Die Univ. erfüllt mich nicht genug. Seit ich hier bin hat erst ein einziger früherer Grad. Student etwas publiziert. Und das nichts besonderes. Kein Leben. Schon ganz die Galaxie der Instruktoren … Ich kann Johnny schon verstehen. Klari spottete neulich, daß für ihn der Mensch erst beim Nobelpreisträger oder so ähnlich anfange. (Dabei sind wir beide nicht so! Aber der Witz der Sache ist, daß das Leben viel interessanter sein kann & verdammt kurz ist.)

Mir ist in letzten Jahren erst richtig klar geworden, wie viel ich eingebüsst habe durch die einem durch Milieu & Erziehung künstlich auferlegten Hemmungen. Dabei habe ich eine gute Erziehung gehabt. Aber die Freiheit der Gefühle ist nicht gewesen. Wo ich ohnehin, von Natur, so zurückgezogen bin. Ist bei uns, zu Hause, je von Liebe die Rede gewesen? Nein. Hannchen ist daran überhaupt verkümmert und tut mir nun mehr leid als jemals. Neulich war Jim Davis hier & sagte mir, daß er beim Hören eines Liedes, gesungen von Marian Anderson geweint habe. Ein erwachsener Mann, aber er scheut sich nicht. Eben ein Künstler. Sonst könnte er keiner sein. Ich schätze ihn übrigens mehr & mehr; wir kommen sehr gut miteinander aus.

Oskar Morgenstern Tagebuchedition: Tagebuch 1943-44, Eintrag 1943-07-14
(Zugriff über http://doi.org/11471/319.25.25)