OSKAR MORGENSTERN TAGEBUCHEDITION //
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tagebücher / 1944-45 / 1945-05-02

Mittw. 2. Mai 1945.

Was für Ereignisse! Berlin gefallen, Hitler tot, Capitulation in Italien bis hinauf nach Salzburg, Tirol etc. Es sind die letzten Tage oder Stunden des Reiches. Was da alles zu Grunde gegangen ist –. Und ich fürchte, in diesem Getaumel sind nur noch schlimmere Menschen gemacht worden als die, die zu Grunde gegangen sind. Oder: die Widerstände der Menschen gegen das Böse werden so geschwächt sein, daß man noch mehr befürchten muß, auch wenn unmittelbar keiner der üblichen, gewöhnlichen Machtpolitischen Konflikte entsteht. Man hat keine Gefühle, wenn es so viele Ereignisse gibt. Obwohl es sich um Deutschland handelt, zu dem man doch irgendwie gehört. Es ist eben alles zu gross–. Und Österreich? Dort gibt es eine neue Regierung: Renner, Kunschak, Heinl (!) & andere, z.B. Kommunisten. Eine plausible Regierung, aber die westlichen Alliierten sind nicht gefragt worden. Hoffentlich kommt die Controllkom. bald ins Funktionieren. Da werden die Eltern & Hannchen von mir hören & ich bald über sie –.

Hier geht es normal weiter. Brüte über den neuen Kapiteln & werde bald anfangen können zu schreiben; wahrscheinlich über offiz. Diskontsätze. Sehr, sehr viel Arbeit vor mir. – Johnny fuhr gestern nach Santa Fé. Er hat aber noch Schritte wegen der Maschine unternommen & viell. können wir im Spätsommer anfangen. Das wird sehr aufregend werden: so etwas ist in der Ökon. noch nie gemacht worden; bes. Korrelationen zwischen Fourierperiodogrammen!! Ich treibe tägl. Math. & bin ganz hinein verbissen. Es ist wie das Lernen einer neuen Sprache; Johnny hat da ganz recht. Nur daß die logische Struktur es einfacher macht:

Der arme Graham verliert seinen 22 jähr. Sohn Hugh; er hat ein Nierenleiden. Und es scheint nicht möglich zu sein ihn zu retten. Sie tun mir alle so leid.

Gestern Siegel hier. Wieder ein so interess. Abend mit Ausnahme der xten Diskussion seiner Rückkehrpläne. –

Mit den Vorlesungen geht es gut & leicht. Ich sollte wirklich meine Notizen ausarbeiten. Die Studenten drängen & finden alles so viel klarer & tiefer, wie ich es behandle, as was sie lesen (bes. in Stigler & Boulding). Aber ich habe keine Zeit & will (noch) kein Lehrbuch schreiben. Ganz zu schweigen von dem Konflikt mit der neuen Theorie! Viel lieber daran weiter arbeiten.

Dies ist alles für heute.

Oskar Morgenstern Tagebuchedition: Tagebuch 1944-45, Eintrag 1945-05-02
(Zugriff über http://doi.org/11471/319.25.26)