OSKAR MORGENSTERN TAGEBUCHEDITION //
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tagebücher / 1947-47 / 1947-11-28

Freit. 28. Nov. 47

Etwas Kratzen im Halse & Gaumen; schon gestern & daher nicht mit Dave nach dem schönen Thanksgiving Dinner reiten gegangen. Es war ganz en famille, wie es sein soll. Die 2 Stewart Söhne waren da. Ich habe gestern & heute ausschließlich mich mit Math. beschäftigt. Es ist immer dasselbe: wenn ich einmal anfange, & sonst keine äussere Abhaltung habe, kann ich mich einfach nicht davon trennen. Mein Verhältnis zur Math. wird jedenfalls ständig enger & immer subjektiv befriedigender.

Heute Lunch bei Lahière mit Weyls. Er ist nach Ascona für Aug. 48 eingeladen; die Reise wird gezahlt. Er arbeitet noch immer an dem phil. Buch & hält sonst viele Vorlesungen (…gleichungen; …Funktion). – Neumanns sind Mittw. nach Cambridge gefahren & kommen erst So. Abend wieder.

Gestern Abend bei Oppenheims im neuen Haus. Felix zeigte Farbenphotos aus Italien, z.T. sehr gut. (So dumm, daß ich nichts mehr photogr. habe!) Einstein war da & als Giotto's Campanile gezeigt wurde, der ihm sehr missfiel, sagte er zu mir: "Wenn das nicht das berühmte Florenz wäre, würde ich die Zunge herausstrecken". Wir sprachen auch über die Mondillusion, die er für rein psychologisch hält, ohne aber eine wirkliche Theorie zu vertreten, und über Vavilow's offenen Brief, den er noch gar nicht gesehen hatte. Das Haus ist nett; alles ganz modern. Es passt irgendwie nicht zu den schon älteren Leuten; keine persönliche Geschichte, ausser durch die z.T. schönen Bilder, von denen mir der Renoir am besten gefällt. Sie können sich aber nicht entfernt mit denen von Goldschmidt messen.

Heute einige nette Zeilen von Winnie, die schon am 24. aufgegeben waren. Viell. rufe ich heute oder morgen an. Ich will aber sicher sein, daß ich wieder ganz mobil bin.

Habe mir einen mit Fiberglass gefütterten Mantel gekauft. Soll angeblich sehr warm sein.

Einen neuen Brief aus Wien. Leider, leider klingt es gar nicht gut, was sie über Muttel schreiben. Sie selbst schrieb sehr nett & vigorous. Dr. Eiselsberg war dort & ist ganz begeistert von der Medizin, die ich in der Schweiz gekauft hatte. Sie ist in Wien nicht zu bekommen & viele 1000'e Schilling wert.

Bei Johnny neulich – aber auch manchmal bei Weyl & Gödel – fiel mir wieder auf, als wir die Grenzen & den Zustand der Th. der Spiele besprachen, wie detachiert er ist zu seinen eigenen Geisteskindern. Es ist eine eigenartige Objektivität & Distanziertheit. Er betrachtet sie, als ob sie etwas von ihm ganz getrenntes wäre. Das führt zu einer Serenität der Haltung, die man bei Sozialwiss. kaum findet. Es hängt wohl auch damit zus., daß dies math. Theorien eben viel fertiger, abgeschlossener sind, als sozialwiss., obwohl die Ökon. das für ihre Kinder viell. nur im Unterbewusstsein spüren. Da wird alles so persönlich; eine Glaubenssache, "Schule", mit "Treue" & "Verrat" etc. Mir fiel letzteres bei Mayer in Wien besonders auf, als ich ihn im Sommer sah. Aber auch bei bedeutenderen Vertretern ihres Faches gilt es.

Oskar Morgenstern Tagebuchedition: Tagebuch 1947-47, Eintrag 1947-11-28
(Zugriff über http://doi.org/11471/319.25.28)