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tagebücher / 1959-60 / 1960-06-18

Sam. 18. Juni

Briefe von Dorothy & Carl. Sie klingen gut & trösten mich in meiner Einsamkeit, die ich immer schlechter ertrage. Aber nun kommen sie bald. Und das kleine Töchterchen scheint goldig zu sein. Nette Photos, die Carl gemacht hat. Ich glaube Dorothy & Carl sollten Donnerstag um 1h in Frankfurt abreisen, derselbe Zuge, den ich nahm. Ich möchte ihnen bis Freiburg entgegenfahren.

Die Vorlesungen fanden guten Widerhall. Bombach sagt, dass die Studenten nun alle Spektra berechnen wollen! Er selbst war ganz begeistert von der neuen Methode. Gütl kommt auch immer & ist sehr bei der Sache. Ich bin froh, daß es nach vorigem Jahr keine Enttäuschung ist. Beckerath kam auch gestern als ich über W.politik sprach, ebenso Müller aus Freiburg mit Frau (wo ich natürlich auch sprechen sollte, ebenso wie in Zürich, von wo Dr Künzi kam, der eine Übersetzung von Drescher's Buch über Spieltheorie publiziert).

Neulich Vortrag von v.d. Groeben, EWG; viel Gerede, der Mann nicht sympathisch. Nachher gab Salin (oder die List Ges.) ein Dinner hier, sehr schön. Ich sass neben Zschokke, Chef des Erziehunsdep. Wir sprachen uns sehr gut; ein vernünftiger Mann. Ebenso Hagemann (Sohn), der die Nationalzeitung herausgibt & Prof. f. Völkerrecht ist. Er ist sehr bedacht mein Buch bald zu erhalten & den Fortune Aufsatz zu lesen.

Gestern Lunch mit Beckerath, Müllers, Beck jun. (aus Berlin) & Bombach. Jürgensen (ex-Münster) erschien; er geht als Ordinarius nach Hamburg (35!). Dann Dinner bei Fritsch, der Prof. in Karlsruhe ist. Er erzählt nicht so gute Sachen über Deutschland. Ich glaube ja auch, daß die Demokratie sehr dünn ist. Ebenso wie in Japan, wo die schrecklichen Demonstrationen zur Ausladung Eisenhowers geführt haben. Eine schwere Niederlage der Am. Diplomatie. Das darf einfach so nicht weitergehen. Die Welt ist in enormer Bewegung & man kann kaum deren Richtung erkennen. Wir müssen endlich ideologisch etwas leisten. Ich glaube mehr denn je daß die Idee der "offenen Welt" geeignet ist immer wieder eingehämmert zu werden und nicht erschüttert werden kann. Ich bin neugierig ob ich Reaktionen auf meinen Fortune Aufsatz bekommen werde.

Jetzt muß ich wieder an die Arbeit. Noch 1 Seminar (v. Weizsäcker (Sohn des Physikers) hat eine Idee) & 2 Vorlesung: eine über das v. N. Modell & unsere Modifizierung; eine über meine Idee der "Konstanten" & der verschiedenen (Strengen der) Interdependenzen. Letzteres muß ich mir noch sehr überlegen.

Es ist zweifelhaft, daß Einandi kommt; dagegen viell. Prinz & Prinzessin Ludwig v. Hessen (Wolfsgarten) weil sie die Darmstädter Madonna wieder geliehen haben. Die Holbein Ausstellung ist fabelhaft. Nun ist eine von griechischen Skulpturen eröffnet worden, die ich noch nicht gesehen habe.

Später: Es kamen noch weitere Photos, einige farbig, alle lieb. Kurze Notiz von Dorothy (die den Machlups sehr hilft ein Haus zu finden & ev. um/auszubauen: Longstreth, der Schüler von …, hat ihr angeboten sie solle ihm helfen, falls die Machlups bauen oder umbauen! Wunderbar. Vielleicht führt das zu etwas mehr. Genau was Dorothy will, kann & braucht. Sie hat so viele gute Ideen & hat schon so vielen Leuten geholfen, daß es richtig wäre, wenn sie eine solche Chance hätte. Wir haben schon öfter darüber gesprochen, daß sich etwas dieser Art für sie ergeben sollte, bes. weil das ihr einen Rückhalt für später schafft, wenn ich in Pension bin oder nicht mehr lebe.

Heute kam … Dr Schleehauf aus Tübingen, eine Schülerin von Peter (der genau vor 1 Jahr hier war). Sie hatte eine Dissertation über Spiele geschrieben, ganz gut. Wir diskutierten das. Sie war offenbar ganz Peter ergeben; ein armes kleines Wesen, aber nett & gescheit.

Neulich Abend mit Salins & einem Soziologen aus München, der auch Aktionär von Prognos ist, namens …, zum Nachtmahl im Lande. Sehr nett. Der Mann kommt wohl auf einige Monate nach USA. Salin ist schon eine Persönlichkeit & ich bewundere immer wieder seine Meisterschaft mit der er die deutsche Sprache handhabt. Enorm belesen; humanistische Bildung im besten Sinne, dabei ziemlich viel Sinn für Realität.

Habe H. Broch gelesen (Esch & die Anarchie). Einer der "Schlafwandler". Nicht erfreulich, aber stark, jedoch nicht so stark wie Kafka mit dem er irgendwie zus.gehört.

Hannchen schrieb: Sie fährt erst auf 3 Tage zu Maria Haberler. Gut; dann wird sie in besserer Verfassung sein wenn sie hier ankommt.

Nun werde ich schon immer ungeduldiger bis Dorothy & Carl kommen. Die kleine Karin wird mir auch dann abgehen. –

Oskar Morgenstern Tagebuchedition: Tagebuch 1959-60, Eintrag 1960-06-18
(Zugriff über http://doi.org/11471/319.25.36)