Mo. 8. Juni
Gestern Hochzeitstag. Ich hoffe Dorothy hat meine Blumen bekommen, die ich noch in P. bestellt hatte; ebenso meine Briefe. Heute schon 2 Wochen, daß ich abreiste ich fühle mich einsam. Voriges Jahr die Vorträge in Genf gefielen mir, da Dor. bei mir war. Es ist so ganz anders. Hier ist alles so beschränkt, bes. die Unterhaltung, die Themen, der entsetzlich enge Horizont. Ich fühle mich nicht frei; komisch, dabei hindert mich ja niemand formell.
Mit H. im Museum gestern, die Breughel etc. ansehen, Titian. Wenig Velasquez. Das M. war fast leer!! Wogen am Sonntag im Prado es nur so wimmelte, einfache Leute, vom Land usw. Hier kaum Fremde, nicht ein einziges Auto vor der Tür. Was ist los? Es ist ein sehr gutes Museum. Der alte Franz Josef hat schon viel gebaut. 2 Mus., Burgth., Oper, Rall, Univ. Dabei war das Land so viel ärmer. Was baut man heute: Unterführungen! Was für eine Vernachlässigung der Wiss., Lehre usw., dabei weiss man heute wie sehr es auf diese praktisch ankommt. Mittw. hat mich der Fin. Min. Schmitz eingeladen zum Lunch. Ich werde diesen Punkt aufbringen. Damals auch die Eisenbahnen gebaut, wie heute die Strassen.
Habe etwas über Toulon nachgedacht, aber noch keine Synopsis. Wohlstetters Aufsatz ist recht gut ("Sin & G in Am.") aber nicht tief. Ich möchte vor allem auf die Frage oder Tatsache eingehen, daß wenn eine gute Th., die das Problem erkennt & bis zu einem gew. Grade behandelt, mit etwas nicht fertig wird, jede andere Methode inferior ist, ausser "Kunst", d.h. unsere Unfähigkeit "K." zu beschreiben, denn dann könnte man es ja tun.
Neulich von A. Portmann in Diogenes einen interess. Aufsatz über menschl. Entwickelung gelesen. Daraufhin mit ihm in Basel tel. Er will mir weiteres senden. Bes. wichtig die Beobachtungen über d. 1. Lebensjahr & die Entwickelung des Gehirns & die soz. Einflüsse. (Ich glaube unsere beiden Kinder sind z.T. intelligent weil Dor. & ich uns so viel mit ihnen beschäftigt haben, von aller Frühe an, mit grosser Freude & aller Aufmerksamkeit. So kam es dass Carl mit 2 Jahren das ganze Alphabet lesen konnte.)
Ich las hier ein Buch das ich schon kannte: wenn man wieder liest wird das an derselben Gedächtnis-Speicherstelle wieder abgelagert, & "aufgefrischt" oder völlig neu, was doch schade um den Platz ist?? Ebenso beim Anhören derselben Musik? Aber man erinnert sich doch daß eine Aufführ. besser war als eine Andere etc. Viele Probleme.
(Zugriff über http://doi.org/11471/319.25.38)

