OSKAR MORGENSTERN TAGEBUCHEDITION //
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tagebücher / 1972-73 / 1973-11-24

Sa. 24. Nov.

Die Woche war gut gegangen, hier zu Hause & in NYU. Concert hier am Montag (passabel), Vorlesung (3 p G) Colloq. gut, etc. Dann Thanksgiving, nur wir 3, aber mit Carl tel. Und dann: am Abend eine neue "Episode". Für etliche Minuten war ich offenbar verwirrt, redete seltsame Sachen & "erwachte" daraus völlig normal. Dorothy war dabei. Keinerlei sonstigen Folgen. Beim Essen hatte ich wenig Appetit, & spürte irgendwelches ziehen (oder so etwas ähnliches) im Gesicht, so daß ich öfters mit der Hand darüber fuhr. Aber das verging auch & ehe die "Episode" kam hörte ich mit Vergnügen Karins Klavierspielen an.

Heute mit Haynes & Dr Menken tel (Neurologe) & Ergebnis: Morgen früh ins Spital. Obwohl Brainscan & Electroenc.gr. gut waren, will man nun einen Farbstoff injezieren um zu sehen ob es doch eine gefährliche Stelle gibt. Wenn ja (& falls nicht zu tief im Gehirn) kann man etwas tun, z.B. Operation etc. … Wenn klein kann das Aspirin helfen & alles völlig beseitigen (das ist das neueste, wie mir auch Dr Knoppers sagte mit dem ich Mittw. lunchte; (Pres. v. Merck, Dr med. Dr Pharm.!), es sei die "hottest discovery"). Nun aber: Der Test ist nicht ungefährlich: etwa 5-10% gehen fehl (entweder Tod oder Schlag (massiver)). Eine interess. Illustration unserer Beispiele über Entscheidungsth! Wenn es gut ausgeht, kann ich das in Vorlesungen verwenden. Falls Aspirin nur genommen wird & kein Test gemacht wird kann es sein: Heilung oder massiver Schlag (viell. nicht Tod, aber viell. Unmöglichkeit der Kommunikation!) Dann lieber bald sterben –.

Ich habe mit Dorothy, die sehr tapfer ist, allerlei finanzielles etc besprochen – für den Fall des Todes oder Inkapazität (die viel schlimmer wäre! & aus der ich erlöst werden möchte). Die Familie wird in guten Verhältnissen gelassen. Falls ich sterbe, wünsche ich daß Dorothy bald einen guten, ihr würdigen Mann fände. Carl macht seinen Weg & Karin wächst in ein schönes Wesen heran. Was für unendliche Freude mir die Familie gegeben hat!

Nun, es muß ja nicht alles so kommen. Es gibt viell. noch Jahre gesunden, glücklichen Lebens für uns alle.

Merkwürdig daß dieses Heft fast gerade zu Ende kommt – Symbolisch? Gestern wollte ich ein neues kaufen, aber es wurde zu spät in den Laden zu gehen. So werde ich Montag Dorothy bitten mir ein neues ins Spital zu bringen, als ein Zeichen daß ich die Hoffnung nicht aufgebe.

Oskar Morgenstern Tagebuchedition: Tagebuch 1972-73, Eintrag 1973-11-24
(Zugriff über http://doi.org/11471/319.25.44)