[Anonym]
Platz 3: Reinhard Müller: Marienthal. Das Dorf – Die Arbeitslosen – Die Studie. StudienVerlag, Innsbruck / Wien / Bozen 2008. (ISBN 978-3-7065-4347-7)
in: Pro-Regio-Online. Das Informationsnetzwerk für Literatur und Publikationen zum Ländlichen Raum, Unsere BestenListen 2008, Die Bestenliste Nr. II (2008), Herbst 2008 (Boxberg-Wölchingen), unter: http://www.pro-regio-online.de/html/bestenlisten_2008.html.
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Platz 3
Reinhard Müller: Marienthal. Das Dorf – Die Arbeitslosen – Die Studie. StudienVerlag, Innsbruck / Wien / Bozen 2008. (ISBN 978-3-7065-4347-7)
Die »soziographische Studie«: »Die Arbeitslosen von Marienthal«, die Anfang der 1930er Jahre in diesem Industriearbeiterdorf entstand, wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Klassiker der empirischen Sozialforschung und gilt bis heute immer noch als das Standardwerk zum Thema Arbeitslosigkeit und als eine bedeutende Gemeindestudie. Seine literarische Eindringlichkeit, die wortgenaue Beschreibung der »müden Gemeinschaft«, der »Schrumpfung des psychologischen Lebensraumes« und des »Zusammenbruchs der Zeitstruktur« sowie seine leichte Lesbarkeit machen die »Marienthal-Studie« zum Meilenstein der Sozialreportage einer Arbeitslosengesellschaft.
Das Buch von Reinhard Müller versucht nun nicht, die vorliegende Studie in einer weiteren Interpretation und sozialwissenschaftlichen Würdigung zu rezitieren, sondern will mit seiner Arbeit die »Geschichte hinter der Geschichte« erhellen und ermittelt dabei in vier Richtungen. Zum ersten, in Richtung des Ortes hinter dem Ort, der zum Vorschein bringt, dass es sich beim angeblichen »Dorf« Marienthal um gar kein Dorf im herkömmlichen Sinne handelt, sondern eigentlich um eine »Arbeiterkolonie«, die um die Tuchfabrik herum gebaut wurde. Diese direkte Abhängigkeit hatte zur »totalen Arbeitslosigkeit« der 1300 Betroffenen geführt. In einem lang angelegten geschichtlichen Bogen, wird die Geschichte Marienthals als Teil der Geschichte des Hauptortes Gramatneusiedl von 1100 bis 2007 nachgezeichnet. Zum zweiten, in Richtung des Entstehungshintergrundes der Studie: zur Genese, zu ihrer Durchführung, zu ihrer Publikation und zu ihrer damaligen Rezeption. Zum dritten, in Richtung der Personen hinter der Studie, in Form der ausführlichen biographischen Darstellung des 18-köpfigen Forscherteams. Und zum vierten, in Richtung der Rezeptionsgeschichte der Marienthal-Studie bis heute in Form einer chronologischen Aufarbeitung der Veröffentlichungen (Publikationen und Medien) zur Studie.
Dem Autor gelingt mit dieser sehr umfangreichen und sehr detailbeflissen-ausgeführten Fleißarbeit eine Art »Archäologie des Ortes Marienthal«, die dazu beiträgt, dass wir heute mehr über Marienthal wissen, als das wenige, das in dem weltbekannten Buch von 1933 berichtet wird. Die Einbettung des Ortes in diesen geschichtlichen Kontext wirkt zweifach: Einerseits zerstört sie den »Mythos Marienthal«, der den Ort zu dem weltweiten Synonym einer an massiver »Arbeitslosigkeit erkrankten« Arbeitslosengemeinschaft gemacht hat. Zum anderen hilft es dabei, den Ort von dieser stigmatisierenden Einengung und begrifflichen Gefangenschaft abzulösen und wieder in den geschichtlichen Fluß der Tradition und eigener Weiterentwicklung zu entlassen. Diese Wirkung birgt in sich etwas Entlastendes und Befreiendes, vor allem für die betroffenen Bürger, deren Leben vor der »Arbeitslosigkeitskatastrophe« existiert hat und auch nach ihr notwendigerweise weiterexistieren musste.
Das Buch ist ein Meisterwerk, das das Wissen um und über Marienthal deutlich erweitert und erhellt hat, und als eine Pionierarbeit der »kontextualen Gemeindeforschung« einzuschätzen ist und daher zurecht in unsere BestenListe gehört.