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Die
Textilfabrik Marienthal
Die
erste Textilfabrik Marienthal
1820 bis 1827
Die
Textilfabrik Marienthal
weist drei Entwicklungsphasen auf, an deren Anfang die »k(aiserlich)
k(önigliche) priv(ilegierte) Flachs- und Werg-Spinnfabrik zu Marienthal«
stand. Mit den vom pensionierten Polizeidirektor und k(aiserlich) k(öniglichen) Rat
Leopold Pausinger
(1763–1848) bereitgestellten Ersparnissen kaufte sein
Interessent (eine Art rechtlicher Teilhaber), der Kärntner Erfinder
Franz Xaver Wurm (1786–1860), von Johann Nußdorfer im Herbst 1820 die
Theresienmühle.
Dieser aus drei Gebäuden bestehende Komplex an der
Piesting, den der
Müllermeister
Ignaz Osmann (1730–1778) zwischen 1771 und 1774 hatte errichten
lassen, wurde unter Leitung von Fabrikdirektor Wurm in den nächsten
Jahren zu einer Flachsspinnerei umgebaut. Im größten Gebäude, welches
parallel zur Piesting lag, befanden sich die Wasserradanlage sowie die
Wohn- und Kanzleiräume des Fabrikdirektors, im nördlich gegenüber
gelegenen Gebäude Wohnungen für die Beschäftigten, Stallungen und
Vorratskammern, in dem südwestlich gelegenen Gebäude die eigentliche
Fabrikanlage. Obwohl dieses Unternehmen in den Taufmatriken bereits
1820 als »Fabrick« bezeichnete wurde
(der Name »Marienthal« ist für
1823 erstmals belegt), nahm es erst 1823 den Betrieb auf, und zwar mit 19 Beschäftigten,
doch stieg deren Zahl bis zur Schließung auf etwa 120. Mittels
Wasserkraft wurden in der aus einer Flachshechelei und einer
Flachspinnerei bestehenden Fabrik 73 verschiedene Maschinen für
Flachsband, Feinspinnerei, Wergband, Spagat, Seile, Gurten, Zwirn und so
weiter betrieben. Nach der Verhaftung des Fabrikdirektors Franz Xaver Wurm wegen
Geldfälschung im März 1826 musste die Fabrik im Sommer 1827 stillgelegt werden.
Der alte Fabrikbestand kann dem Katasterausschnitt 1820 entnommen
werden, der Umbau des alten Mühlen- und Fabrikbestands (strichlierten
Fläche einschließlich der Erweiterung am
Feilbach)
1845 zum
Arbeiterwohnhaus Altgebäude
dem Katasterausschnitt 1869.
Katasterausschnitt 1820
≡
Katasterausschnitt
1869

Die
zweite Textilfabrik Marienthal
1830 bis 1845
Die
zweite Textilfabrik Marienthal war die »k(aiserlich) k(önigliche)
priv(ilegierte) Marienthaler Baumwoll-Gespinnst und
Woll-Waaren-Manufactur-Fabrik« von
Hermann Todesco (1791–1844). Dieser erhielt 1830 von der
niederösterreichischen Statthalterei (Landesregierung) die Genehmigung
zur Errichtung seiner Fabrik, welche 1832 durch den Staatsrat bestätigt
wurde. Der Kauf des ehemaligen Pausinger-Wurmschen Fabrikgebäudes durch
Hermann Todesco vom neuen Besitzer Franz Knapp wurde zwar erst im
Dezember 1832 rechtsgültig abgeschlossen, doch war die Fabrik unter
Leitung des Fabrikdirektors Johann Dienert (1790–?) bereits seit 1830 in Betrieb,
allerdings noch als Flachsspinn- und Hechelfabrik. 1833 wurde unter dem
neuen Fabrikdirektor Rudolph Münich (1778–?) – ihm folgte 1836 Karl Becky (1797–?), diesem 1843
Peter Zimmermann (1788–?) – das alte Fabrikgebäude großteils
abgerissen und an dessen Stelle ein neuer, dreigeschossiger Bau
errichtet. Der Komplex bestand aus drei U-förmig angeordneten, miteinander verbundenen Steinbauten. Darin befanden sich
nunmehr eine Baumwollspinnerei (1835 mit 6.500 Spindeln) und die erste
mit Wasserkraft betriebene Baumwollweberei Österreichs (1835 mit 80 Webstühlen), Kanzlei- und Lagerräume sowie Wohnungen für die
Arbeiterschaft und den Fabrikdirektor samt Familie. Der Betrieb zählte
1835 insgesamt 286 Beschäftigte in der Spinnerei und 73 in der Weberei,
1843 jedoch – bedingt durch technische Neuerungen – in der Spinnerei nur mehr 140. Am Ende der Ära Hermann Todeso betrieb die Textilfabrik Marienthal 7.500 Spindeln und erzeugte
jährlich 200.612 Wiener Pfund Baumwollgarn und Zwirn. Nach dem Tod Hermann Todescos im November 1844 wurde das
Unternehmen von seine Witwe
Johanna Todesco (1806–1870) vorübergehend weitergeführt und
1845 aufgelassen, der ehemalige Fabrikkomplex 1845 zum
Arbeiterwohnhaus Altgebäude
umgebaut.
Bild 1834

Die
dritte Textilfabrik Marienthal
1845 bis 1930
Hermann
Todescos ältester Sohn,
Max Todesco (1813–1890), gründete 1845 die Marienthaler
Baumwollspinnfabrik als neues Unternehmen. Er legte die Fabrik
seines Vaters vorübergehend still und ließ das alte Fabrikgebäude im Sommer 1845 zum
Arbeiterwohnhaus umbauen (Arbeiterwohnhaus
Altgebäude), wobei das ehemalige Werkgebäude um
zwölf, das einstige Wohnhaus um sieben Fenster vergrößert wurde. 1846
wurde ein zweites Wohnhaus (Arbeiterwohnhaus
Neugebäude) eröffnet, welches allerdings erst
1850 seine Fertigstellung fand. Ein drittes, ebenfalls 1846 errichtetes Wohngebäude (Arbeiterwohnhaus Schulhof) wurde erst 1847 bezogen. Seither kann man
auch von einer Arbeiterkolonie Marienthal sprechen. Im Herbst 1845 kaufte Todesco
vom Müllermeister Franz Löffler (1804–?) in Rannersdorf (heute zu
Schwechat, Niederösterreich) die
Ladenmühle, der sie seinem
Bruder Valentin Löffler (1808–?) bis Ende 1845 verpachtet hatte. Die
Lage der Ladenmühle verdeutlicht der
Katasterausschnitt 1869
(strichlierte Linien). Unter
Fabrikdirektor Peter Zimmermann
(1788–?)
wurde das Gebäude, welches der
Müllermeister
Ignaz Osmann (1730–1778) vermutlich 1751 hatte errichteten
lassen, 1846 abgerissen. Nach Fertigstellung der 1845 begonnenen
Kanalarbeiten an
Fischa
und
Piesting
sowie des Werkskanals (der heutige
Feilbach) wurde im
Herbst 1846 mit dem Bau einer neuen Spinnerei an Stelle der
alten
Ladenmühle und auf
den umliegenden Gründen zwischen Fischa und Feilbach begonnen. Die Spinnerei wurde 1847
eröffnet und 1850 fertig gestellt. 1854 wurden in der neuen Fabrik mit 27.200 Spindeln 960.000 Pfund Garne erzeugt, womit Marienthal nach den Textilfabriken in Pottendorf
(Niederösterreich) und Trumau (Niederösterreich) auf der Produktionsebene die damals drittgrößte im Amtsbezirk Ebreichsdorf war. Diese dritte Fabrik Marienthal wurde
1864 mit der nahen Textilfabrik Trumau (Niederösterreich) zur »Marienthaler
und Trumauer Actien-Spinn-Fabriks-Gesellschaft« fusioniert, welche
später in »Actien-Gesellschaft der Baumwoll-Spinnereien, Webereien, Bleiche, Appretur, Färberei und Druckerei zu Trumau und Marienthal«
umbenannt wurde. Vor allem unter den Generaldirektoren Gustav
Haggenmacher
(?–1873) und Leopold Specht (1869–1927) entwickelte sich
die Textilfabrik Marienthal zu einem wirtschaftlich stabilen Unternehmen. Während die Zahl der Beschäftigten nach Rückgängen in den 1850er Jahren bis Anfang der 1880er wieder auf etwa 1.000 stieg, danach aber weitgehend konstant blieb, kam es im Zuge der Produktionserweiterung und technischer
Neuerungen zu einer enormen Bautätigkeit. Diese hielt, wenngleich seit 1900 abgeschwächt, bis 1915 an. 1925 setzte unter den neuen Eigentümern Isidor Mautner (1852–1930) und seinem Sohn
Stephan Mautner (1877–1944) ein letzter Aufschwung ein, der 1929 zum Beschäftigtenhöchststand in der Fabrikgeschichte Marienthals führte: 1200 Arbeiter und Arbeiterinnen sowie 90 Angestellte.
Zwischen Juni 1929 und Februar 1930 wurde die Textilfabrik Marienthal schrittweise stillgelegt.
Katasterausschnitt 1869

Der
Produktionsablauf dieser dritten
Textilfabrik Marienthal kann auch
anhand der Gebäude nachvollzogen werden: Der mittels
Industriegleis zu den Baumwollmagazinen an der
Fischa angelieferte
Rohstoff wurde in der Putzerei und Mischerei sowie in der Karderie für
die Spinnerei aufbereitet. Von hier ging ein Teil der Produkte zu der
auf der anderen Straßenseite gelegenen Bleiche und Appretur, wo die
Garne ihr endgültiges Aussehen erhielten und in der Warenlegerei für den
Versand fertig gemacht wurden. Ein anderer Teil der aus der Spinnerei
kommenden Produkte kam in die Weberei, deren Produkte gefärbt und
teilweise bedruckt wurden; von hier kamen die Gewebe in die Appretur, wo
sie ihr endgültiges Aussehen erhielten und in der Warenlegerei für den
Versand fertig gemacht wurden.

Grundsätzlich ist festzuhalten, dass die folgende Darstellung nur einen
Querschnitt bieten kann: Zahlreiche seit der Gründung der dritten
Textilfabrik Marienthal errichtete Gebäude wurden bis zur Schließung 1930 abgerissen oder durch
neue ersetzt. Auch änderte sich im Laufe der Jahrzehnte bisweilen die
Nutzung der Gebäude – bei meist gleich bleibender Bezeichnung.
Die
Textilfabrik Marienthal bestand 1930 aus
drei Hauptbetrieben: eine
Spinnerei, eine Weberei und eine Druckerei. Dazu kamen fünf Hilfsbetriebe:
je eine Färberei, Wäscherei und Bleiche sowie zwei Appreturen.
Zusätzlich gab es eine Reihe von Nebengewerben nur für den eigenen
Bedarf wie die Schmiede, Schlosserei, Eisendreherei, Tischlerei und
Zimmerei.
Das
zwischen
Fischa
und Feilbach gelegene Fabrikgelände der
Textilfabrik Marienthal wird durch die Hauptstraße in zwei Areale geteilt: Auf dem
westlichen Gelände stand der Bleiche- und Appreturkomplex mit
zahlreichen Anbauten und Nebengebäuden, auf dem östlichen der
Spinnereikomplex, der Webereikomplex sowie der Färberei-, Wäscherei- und
Druckereikomplex; auch diese drei Gebäudeblöcke hatten zahlreiche
Anbauten und Nebengebäude. Die nachfolgende Übersicht versucht eine
vollständige Erfassung aller Gebäude und Gebäudeteile der Fabrik 1930:
insgesamt 157 Gebäude und Anbauten mit 46.005,36 m2
verbauter Fläche auf 28.783,93 m2 verbauter Grundfläche.

Eine ausführliche Beschreibung der einzelnen Gebäude und Gebäudeteile der dritten
Textilfabrik Marienthal finden Sie unter:
●
Spinnereikomplex: 1847 bis 1850 in Betrieb genommen; 1930: 40 Gebäude und
Anbauten, insgesamt 18.029,20 m2 verbaute Fläche auf 7.045,22 m2 verbauter Grundfläche;
●
Webereikomplex:
1855 in Betrieb genommen; 1930: 39 Gebäude und Anbauten, insgesamt 9.613,01 m2 verbaute Fläche
auf
8.583,57 m2
verbauter Grundfläche;
●
Bleiche- und Appreturkomplex:
1869 in Betrieb genommen; 1930: 33 Gebäude und Anbauten, insgesamt
6.170,96 m2
verbaute Fläche auf
5.024,24 m2
verbauter Grundfläche;
●
Färberei-, Wäscherei- und Druckereikomplex:
Färberei 1881, Druckerei 1882 und Wäscherei 1887 in Betrieb genommen; 1930: 45 Gebäude und Anbauten, insgesamt
12.192,19 m2 verbaute Fläche auf
8.130,90 m2
verbauter Grundfläche;
●
Industriegleisanlage: 1873 in Betrieb genommen.

© Reinhard Müller
Stand: Dezember 2013
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