Max Preglau
»Die Arbeitslosen von Marienthal« – 1. Warum ist diese Studie bis heute gesellschaftlich relevant? – 2. Wäre die Soziologie heute noch in der Lage, solch eine Studie durchzuführen?
Auszug aus einem Referat, gehalten in Innsbruck am 10. November 2008.
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Max Preglau
1. Die gesellschaftliche Relevanz und aktuelle Bedeutung der Marienthal-Studie
Die Marienthal-Studie macht in eindringlicher Weise ein Phänomen sichtbar und verstehend nachvollziehbar, das nach dem Sozialtheoretiker und Sozialphilosophen Jürgen Habermas kapitalistischen Gesellschaften gleichsam als Geburtsfehler eingeschrieben ist und das er als »Kolonialisierung der Lebenswelt« bezeichnet hat: Dabei dringen »… die Imperative der verselbständigten Subsysteme … von außen in die Lebenswelt – wie Kolonialherren in eine Stammesgesellschaft – ein und erzwingen die Assimilation; aber die zerstreuten Perspektiven der heimischen Kultur lassen sich nicht soweit koordinieren, dass das Spiel der Metropolen und des Weltmarktes von der Peripherie her durchschaut werden könnte« (Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, S. 522). Es ist nach Habermas Aufgabe Kritischer Gesellschaftstheorie, das »Spiel der Metropolen und des Weltmarktes« für die »Peripherie« durchschaubar zu machen, und genau dazu leistet die Studie »Die Arbeitslosen von Marienthal« einen exemplarischen Beitrag. Sie hat denen, die in verbreiteter öffentlicher Ignoranz oder gar Verachtung, auf sich allein gestellt, ihre elende und verschämte Existenz zu fristen gezwungen waren, öffentliche Aufmerksamkeit und wenigstens symbolische Anerkennung verschafft – und damit indirekt eine notwendige Voraussetzung geschaffen für eine Politik, die in das Spiel der Metropolen und des Weltmarkts interveniert, um dessen Opfern auch in materieller Hinsicht Anerkennung und Hilfe zukommen zu lassen. Studien wie diese haben auch tatsächlich längerfristig indirekt dazu beigetragen, dass Metropolen und Weltmarkt durch Demokratisierung und Sozialstaatlichkeit gezähmt und die Alltagswelt der BürgerInnen vor den von Markt und Obrigkeitsstaat ausgehenden Entbehrungen und Anpassungszwängen wirksam geschützt werden konnten. Dementsprechend sind »Massendemokratie« und »Wohlfahrtsstaat« seit ihren Anfängen Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts bis in die 1990er-Jahre – speziell in der »goldenen Zeit des Wohlfahrtsstaates« in den 1960er- und 1970er-Jahren – ausgebaut worden.
Aber gerade heute droht die Gefahr der Kolonialisierung ungeachtet dieser Entwicklung wieder akut zu werden: Die durch entsprechende Liberalisierung und Deregulierungsmaßnahmen auf politischen Wegen in Gang gesetzte Globalisierung der Unternehmen und der Märkte hat zunehmend die Fassungskraft der Nationalstaaten und deren politische Steuerungskapazität überschritten und die Staaten in einen tendenziell sozial- (und umwelt-)politisch ruinösen Standortwettbewerb hineingetrieben. Während in den »nationalen Wettbewerbsstaaten« auch hierzulande unter den ideologischen Vorzeichen einer »neoliberalen Hegemonie« die Sozialstandards und die für Sozialinvestitionen bereitgestellten Ressourcen abgesenkt werden, ist auf der anderen Seite mit der aktuellen Finanzkrise und der bereits erkennbaren Krise der Realwirtschaft eine neue Woge der Kolonialisierung der Lebenswelt im Anrollen. Die Marienthal-Studie ist daher heute wieder aktueller denn je: Sie kann uns an die verheerenden Auswirkungen von ökonomischer Krise und Arbeitslosigkeit an das Alltagsleben erinnern und eine Warnung davor sein, die politischen Zügel der Weltmärkte weiter schleifen zu lassen und den Sozialabbau weiter zu betreiben. In diesem Sinne sollte diese Ausstellung auch nicht nur als museales Ereignis, als Rückblick auf eine versunkene Zeit aufgefasst werden, sondern als Warnung vor einer Zukunft, die eintreten könnte, wenn wir nichts dagegen politisch unternehmen.
2. Die Marienthal-Studie und die gegenwärtige Soziologie: Wäre eine solche Studie heute noch möglich?
Die Soziologie ist heute aus internen Gründen, aber auch aus externen, politischen Gründen anders als in der Zwischenkriegszeit weiter ausdifferenziert und spezialisiert und in größerer Distanz zur politischen Praxis:
a) innerwissenschaftliche Gründe
– Ein »positivistisches« Methodenideal weist eher in Richtung Neutralität / Distanz vom Forschungsobjekt und Abstinenz der ForscherInnen. Bis in die kritische Soziologie hinein herrscht die Ansicht vor, »… dass die kontrollierte Erhebung von Daten mit einer unkontrollierten Intervention ins Forschungsfeld … unvereinbar« (Jürgen Habermas) sei.
– Die Differenzierung zwischen Sozialwissenschaft und Politik hat zugenommen, das Interesse der WissenschafterInnen an politischen Problemen und das Interesse der Politik an Ergebnissen der Sozialwissenschaft ist geringer geworden.
– Der Abstand zwischen den Disziplinen ist weiter fortgeschritten: Daher ist ein interdisziplinärer Zugang trotz vielfacher diesbezüglicher Postulate heute schwieriger geworden.
b) externe, politische Gründe: »neoliberale« Hochschulreform
– Verstärkte Drittmittelabhängigkeit der Forschung bindet Forschung stärker an die privaten Interessen finanzkräftiger Auftraggeber oder an die rein innerwissenschaftlichen Qualitäts- und Relevanzkriterien der öffentlichen Fördergeber.
– Die Praxis der Evaluation und der »indikatorengesteuerten Ressourcenzuwendung« an den reformierten Universitäten erzwingt die Ausrichtung der Forschungstätigkeit der ForscherInnen an wissenschaftsinternen Evaluierungskriterien, in denen »Wissenstransfer« und »Praxisrelevanz« ebenfalls eine nur untergeordnete Rolle spielen.
– Der Systemwandel der Universität von der öffentlichen Anstalt im Interesse der individuellen und gesellschaftlichen Emanzipation durch Bildung durch Wissenschaft, die von der Humboldtschen Universitätsreform an bis zur demokratischen Hochschulreform der 1970er-Jahre Leitbildcharakter hatte, zum quasi-privaten »Forschungsunternehmen« hat neben der inneren universitären Demokratie auch die Funktion der gesellschaftlichen Aufklärung an den Rand gedrängt: Die Universitäten treten nicht mehr als »Sprachrohr stummen Leidens« und als »Anwälte der Schwachen« öffentlich in Erscheinung und schreiten der Gesellschaft nicht mehr »mit der Fackel voran« (Ernst Bloch); statt dessen betreiben sie mehr oder weniger professionelles »Public Relations« à la »Lange Nacht der Forschung«*, in der es darum geht, mit mehr oder weniger spektakulären Show-Auftritten um die Gunst des Publikums zu werben, das ja mit seinen Steuern für den Wissenschaftsbetrieb aufkommt.
[* Bei der vierten »Langen Nacht der Forschung« in Innsbruck am 8. November 2008 präsentierten 87 Institutionen an zwölf Standorten ihre Forschungsleistungen. Anm. R.M.]
Alle diese Faktoren wirken in Richtung mehr Selbstorientierung, mehr Anpassung an die Werte und Interessen von AuftraggeberInnen und Förderinstitutionen sowie mehr Marketingorientierung der Wissenschaft. Die Wissenschaft rückt damit – nochmals mit Habermas gesprochen – selbst näher an das »System« heran und weiter von der Lebenswelt ab. Es ist daher heute vielleicht nicht unmöglich, aber leider doch weniger wahrscheinlich geworden, dass die Sozialwissenschaften noch einmal eine Leistung vom Schlage einer Marienthal-Studie zu Stande bringen, eine Studie, die im Stande wäre, die Effekte der »Kolonialisierung der Lebenswelt« erlebnismäßig nachvollziehbar zu machen und nachhaltig auf politische Einstellungen der Öffentlichkeit Einfluss zu nehmen.