Marie Jahoda über das »Gesellschaft- und Wirtschaftsmuseum in Wien«

Wien, Herbst 1932 bis Herbst 1933

Mit zunehmender Reife und gelegentlichen Besuchen des Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums begann ich zu begreifen, wieviel Otto Neurath uns zu lehren hatte. Die Gelegenheit, sein Wissen und seine Persönlichkeit voll zu erfassen, ergab sich für mich, als ich nach Fertigstellung des Manuskripts von Marienthal im Jahre 1932 auf eine Anstellung als Volksschullehrerin wartete, die ungefähr nach einem Jahr kam.1 Eines Tages kam ein Brief von Otto Neurath, wie immer nicht mit seinem Namen, sondern mit einem kleinen Elephanten unterzeichnet, in dem er mich einlud, während der voraussichtlich langen Wartezeit im Büro des Museums an der Entwicklung von Bildstatistiken mitzuarbeiten. Von seiner Seite war das ein typischer Akt der Hilfsbereitschaft, denn ich habe und hatte keine visuelle Phantasie, während doch die große Leistung Otto Neuraths im Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum darin bestand, komplexe Tatbestände visuell sichtbar und erfaßbar zu machen. Meine Arbeit bestand im Wesentlichen darin, statistisches Material zusammenzutragen.
Das Büro, in dem wir arbeiteten, war von Otto Neuraths Persönlichkeit und seinen Einfällen belebt, getragen und gelegentlich durcheinander gebracht. Otto Neurath liebte es, seine philosophischen Ideen und die Ereignisse des Tages mit seinen jüngeren Mitarbeitern zu besprechen, wann immer es ihm paßte. [...]
Das intellektuell interessanteste Ereignis jenes Jahres waren für mich die Seminare, die Otto Neurath nach Schluß des offiziellen Arbeitstages organisierte, und an denen Rudolf Carnap2 oft teilnahm. Otto Neurath hatte die Idee, [Sigmund] Freuds Ich-Analyse und Massenpsychologie3 in positivistische Formulierungen zu übersetzen.
Es braucht kaum gesagt zu werden, daß dieser »Rettungsversuch« mißlang, was aber die geistige Anregung, die diese Seminare boten, keineswegs beeinträchtigte. Ich glaube, daß Otto Neurath als Resultat dieser Seminare gewisse Formulierungen Freuds als unwissenschaftlich beiseite schob. Diese Seminare fanden statt, als der Wiener Kreis auf seinem geistigen Höhepunkt stand. Für Otto Neurath, der unermüdlich an der Vereinigung aller Wissenschaften auf positivistischer Grundlage arbeitete, war das Resultat eindeutig. Für mich erzeugten diese Seminare einen intellektuellen Konflikt, mit dem ich mich erst im späten Alter zu einer Zeit abgefunden habe, in der kaum jemand mehr den Positivismus in den Sozialwissenschaften mit Otto Neuraths Überzeugungskraft vertrat.

Marie Jahoda: Im Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum, in: Arbeiterbildung in der Zwischenkriegszeit. Otto Neurath – Gerd Arntz. Herausgegeben von Friedrich Stadler. Wien–München: Österreichisches Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum / Löcker Verlag 1982, S. 43–44.

1 Marie Jahoda war vom Dezember 1933 bis November 1934 als Hilfslehrerin an verschiedenen Volks- und Hauptschulen Wiens tätig. Anmerkung Reinhard Müller.
2 Rudolf Carnap (Ronsdorf [Wuppertal–Ronsdorf] 1891 – Santa Monica, California 1970): Philosoph; 1926 bis 1931 in Wien, wo er sich 1926 an der Universität Wien habilitierte und als Privatdozent für Theoretische Philosophie, seit 1930 als titular außerordentlicher Universitätsprofessor (tit. ao. Univ.-Prof.) lehrte; 1931 Berufung nach Prag (Praha), 1936 Emigration in die USA. Anmerkung Reinhard Müller.
3 Vgl. Sigmund Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse. Leipzig–Wien–Zürich: Internationale Psychoanalytischer Verlag 1921. Anmerkung Reinhard Müller.

© Reinhard Müller -- Graz, im Oktober 2006

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