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Diverse Unternehmungen Bristol und Street, 1938–1940 Im August 1938 zog Marie Jahoda zu ihrer Cousine Clara Jahoda (1901–1986) nach Bristol, wo sie gemeinsam in einer kleinen Wohnung in Clifton, Caledonia Place 6, lebten. Es waren dies jene Monate, in denen ihren nahen Angehörigen die Flucht aus Österreich gelang: Bruder Fritz Jahoda (1909–) und Ehefrau Hedwig Jahoda (1911–1961) kamen im Mai 1938 nach London, ebenso Schwester Rosi Kuerti (1905–2004) und deren Sohn Anton Kuerti (1935–), welche aber im August 1938 nach Istanbul (İstanbul) gingen, während ihr Ehemann Gustav Kuerti (1903–1998) im Oktober 1938 in die USA entkommen konnte. Im Mai 1939 traf Franz Jahoda (1930–) mit einem Kindertransport in Großbritannien ein, wo er von seinen Tanten Marie und Clara Jahoda in Bristol betreut wurde. Dort wohnten später auch noch Claras Schwester, Marie Jahodas Cousine Adele Rankl (geborene Jahoda; 1903–1963), mit ihrem Ehemann, dem Dirigenten und Komponisten Karl Rankl (später Carl R.; 1898–1968), denen ebenfalls 1939 die Flucht aus dem besetzten Österreich gelungen war. Marie Jahodas Mutter Betty Jahoda (1881–1967) kam zusammen mit ihrem Sohn Eduard Jahoda (10ß3–1980) und dessen Frau Susanne Jahoda (1907–1995) im August 1939 nach Großbritannien; sie reisten aber noch im selben Monat gemeinsam mit Franz Jahoda in die USA weiter. Die geglückte Rettung ihrer Familie beflügelte Marie Jahoda wohl, auch in Bristol ihre Bemühungen um österreichische Flüchtlinge fortzusetzen, insbesondere durch Werbung für Affidavits bei diversen Wohltätigkeitsveranstaltungen.Daneben musste Jahoda auch für ihren Unterhalt sorgen. Der Inhaber einer Möbelfirma, der Quäker Crofton Endres Gane (1878–?), ermöglichte ihr einen kleinen Forschungsauftrag: Vom September bis Dezember 1938 arbeitete sie drei Monate als Market-Researcher bei »P.E. Gane Ltd.« in Bristol, wo sie Untersuchungen über Möbelgeschmack und Kaufgewohnheiten durchführte. Darüber berichtete Jahoda in ihrem 1946 erschienenen Artikel »The Consumer’s Attutude to Furniture: A Market Research«. Einen zweiten kleinen Forschungsauftrag führte sie vom Januar bis März 1939 im Rahmen des von dem Nationalökonomen Herbert Tout (1904–1997) geleiteten »University of Bristol Social Survey« durch. Es ging darum, die etwa 220 Hilfsorganisationen in Bristol zu erfassen und zu strukturieren. Aber auch dieser Bericht wurde nur anonym und als hektografiertes Druckwerk publiziert: »Memorandum on the Preliminary Results of the Social Surbey’s Study of Voluntary Social Agencies in Bristol«. Die nunmehr zweiunddreißigjährige Marie Jahoda war in dieser Zeit sehr niedergeschlagen und von Selbstzweifeln erfüllt: »I work three times as hard as I would do in Austria, and the result is three times as bad. It is probably not possible at my age, even with making every possible effort, to get the background knowledge which is essential for social research. I have exactly the same experience with my work at the survey now. I think I am really doing what I can; and then some quite untrained person comes and tells me an essential fact which I have never heard of.«1 Interessant ist, dass sie sich damals – sechs Monate vor Beginn des Zweiten Weltkriegs – zumindest in einem Punkt sicher war: »I know exactly what I want: I want to go back to Austria, I don’t want to be a foreigner all my life. And if I have to be it, I don’t want to do work which I could do, I know this, quite well in my own surroundings, and which here is rightly exposed to criticism from everybody, trained or untrained, with good or bad intentions towards my person. This ridiculous struggle to achieve something which cannot be achieved is exhausting.«2 In dieser Situation tat ihr sicher eine Reise nach Dänemark gut, wo sie vom 15. bis 23. August 1939 unterwegs war und sich als Reiseleiterin ein kleines Zubrot verdiente. Ökonomisch gab es zu diesem Zeitpunkt für Marie Jahoda keine fundamentalen Probleme mehr. Auf Initiative von Frederick C(harles) Bartlett (1886–1969) hatte sie um ein Pinsent-Darwin Studentship of Cambridge University angesucht, welches ihr Mitte Dezember 1938 auf drei Jahre bewilligt wurde. Obwohl das Stipendium seit Januar 1939 lief, arbeitete sie zunächst drei Monate am bereits zugesagten Teilprojekt des »University of Bristol Social Survey«, ehe sie mit ihrem eingereichten Projekt »Socio-Psychological Problems in a Factory« zu arbeiten begann. Auch dabei benutzte sie die Methode der teilnehmenden Beobachtung und arbeitete selbst als ungelernte Arbeiterin sechs Monate lang in der Papierfabrik »E.S. & A. Robinson Ltd.« in Bristol, wobei sie die als Hilfsarbeiterinnen direkt von der Schule in die Fabrik geholten Vierzehnjährigen beobachtete. Und wieder blieb aufgrund des Einspruchs der Fabrikinhaber der Bericht unveröffentlicht: »Socio-Psychological Problems in a Factory«; allerdings erschien eine Kurzfassung 1941 unter dem Titel »Some Socio-Psychological Problems of Factory Life«. Im Juni 1940 musste Marie Jahoda – die britische Regierung führte vorbeugende Maßnahmen gegen eine Invasion der Deutschen Wehrmacht durch – Bristol verlassen. In dieser Situation gelang es alten Wiener Freunden und sozialdemokratischen Kampfgefährten, dem Ehepaar Friedrich Scheu (1905–1985) und Helga Scheu (1912–?), ihren Gastgeber, den Inhaber der bekannten Schuhfabrik »C. & J. Clark«, zu überreden, Marie Jahoda auf dessen Gut in Street (Somerset), Whitenights, einzuladen, wo sie halbtags als Gärtnergehilfin arbeitete. Nach zwei Monaten, im August 1940, musste Jahoda aus denselben Gründen wie Bristol nunmehr auch Street verlassen. Zugleich beschloss sie den Abbruch ihres Forschungsprojekts und – noch lange vor seinem Auslaufen – den Verzicht auf die weitere Inanspruchnahme des Pinsent-Darwin Studentship of Cambridge University.
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1 Marie
Jahoda: Brief an Alexander Farquharson. Bristol-Clifton, am 10. März
1939, in: Archiv für die Geschichte der Soziologie in
Österreich, Graz, Nachlass Marie Jahoda, Signatur 41/1,
»Farquharson, Alexander«, pag. 16.
2 Marie
Jahoda: Brief an Alexander Farquharson. Bristol-Clifton, am 10. März
1939, in: Archiv für die Geschichte der Soziologie in
Österreich, Graz, Nachlass Marie Jahoda, Signatur 41/1,
»Farquharson, Alexander«, pag. 16.
© Reinhard Müller -- Graz, im Oktober 2006 |