Gramatneusiedl (eine Laudatio)
in: Kurier. Niederösterreich. Unabhängige Tageszeitung für Österreich« (Wien), vom 10. Dezember 1982.
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Gramatneusiedl (eine Laudatio) – Von Hans Weigel
Tripstril existiert nicht. Kühdreckstätten ist gleichfalls ein Phantasiename. Stinkenbrunn heißt längst Steinbrunn. Buxtehude ist ein ehrsamer Ort zwischen Hamburg und der Nordsee. Wie es sein Schicksal trägt, und ob sein Name immer noch stellvertretend für »kleines, provinzielles Nest« steht, das ist mir nicht bekannt.
Aber Gramatneusiedl leidet unter seinem Image. Woher es wohl kommt?
Wenn ich erzähle, daß ich an einer Diskussion teilnehme oder eine Lesung abhalte … in Pottendort, in Ebenfurth, sogar in Wampersdorf, lächelt niemand. Als ich kürzlich eingeladen war, in Gramatneusiedl an einer Diskussion teilzunehmen und eine Lesung abzuhalten, da wurde gelächelt.
Ich selbst lächelte nicht. Aber nur deshalb, weil ein Jahr vorher Elfriede Ott zu einer Lesung in Gramatneusiedl gebeten worden war, weil sie sich ein durchaus anspruchsvolles Programm zusammengestellt hatte, und mir dann begeistert von einem vollen Saal und positivem Anklang erzählt hatte.
So fuhr ich in erwartungsvoller Stimmung nach Gramatneusiedl, fand dort ein schönes Schulhaus, das zugleich auch ein Kulturhaus ist, und in diesem Haus gleich auch eine Ausstellung, Gemälde und Graphiken, gar nicht schlecht, teilweise sogar bemerkenswert, einiges konventionell, aber nichts Kitschiges.
Ein Erlebnis war schon vorher auf der Hinfahrt zu registrieren: Wie nah von Wien ist doch diese Gemeinde! Schwechat, da ist man als Wiener sozusagen zu Hause. Und dann in Schwechat nach rechts, und man ist sozusagen im Handumdrehen dort. Ich wage die Behauptung, daß es von gewissen Punkten Wiens nach Klosterneuburg oder nach Aspern weiter ist als nach Gramatneusiedl; und Klosterneuburg und Aspern liegen vor den Toren Wiens. Doch Gramatneusiedl liegt irgendwo im Niemandsland. Nicht nur mit dem Wagen, auch mit der geschätzten Bundesbahn hat man es dorthin und dorther leicht. Es gibt Züge, die brauchen nur fünfzehn Minuten vom und zum Südbahnhof.
So nah also. Aber das wär's nicht. Mir das Wesentliche: so ehrgeizig. Diskussionen sind meist steril. Man kann nicht umhin, an ihnen teilzunehmen, wenn man aufgefordert wird, aber es kommt fast nie etwas heraus. Man hat nachher ein schales Gefühl in der Seele und im Hirn und denkt: Schade um die Zeit! Nichts davon damals an jenem Sonntag-Nachmittag in Gramatneusiedl. Die erste Wortmeldung war a tempo da, und es wurde lebhaft, engagiert, temperamentvoll sehr lange diskutiert, über die Kultur in der kleinen Gemeinde. Es wurde kritisiert, es wurde angeregt. Es kam dies und das heraus. Zum Beispiel, daß diese kleine Gemeinde sich vernachlässigt fühlt. Daß sie sich nicht als Anhängsel Wiens versteht, sondern als eigenständiger Organismus.
Der Saal war sehr gut besucht. Wenn ich die Einwohnerzahl von Gramatneusiedl in Rechnung stelle und mit der Zahl der am Sonntag, 17.00 Uhr, bei der Diskussion anwesenden Gramatneusiedler vergleiche, müßten, bei entsprechendem kulturellem Interesse, Hunderte bei einer solchen Diskussion in Bruck an der Mur, Tausende bei einer solchen Diskussion in Wels anwesend sein.
Die Tatsache, daß man drei Radioprogramme und zwei Fernsehprogramme ins Haus bekommt, ist nicht zu unterschätzen, erscheint mir gerade für die kleinen Gemeinden sehr segensreich und ein großartiges Gegengewicht gegen das einstige dortige Monopol des Kinos mit seinem kulturellen Unwert. Aber die sogenannten Medien dürfen keine Ausrede sein, sind kein vollwertiger Ersatz für die lebendige dreidimensionale Anwesenheit von Vortragenden, Künstlern, von Bildern und von Autoren.
Es gibt etliche Niederösterreich-Gesellschaften. Was tun sie für Gramatneusiedl? Die Gramatneusiedler sind musikliebend. Sie sollten sich nicht nur zum Muttertag und zum Advent zusammenfinden. Die kleine Gemeinde ist die Basis. Wenn es dort unten nicht stimmt, wackelt alles,
Wer diesen meinen Text bis hierher gelesen hat, ist aufgerufen, sich um Gramatneusiedl zu kümmern. Die Postleitzahl ist 2440, die Kennzahl 02234, die Telefonnummern des Gemeindeamtes sind 22 05 und 22 12.