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Carl Jahoda Allgemeine NährpflichtIn wachen Träumen sehe ich zu Zeitenden Nährpflichtstaat vor meinem Aug ersteh'n. An einem Schnürchen sehe ich ihn leiten, harmonisch ordnet sich das Weltgescheh'n. Die Not ist nun mehr philosophische Begriff, den zum Verständnis vergangner Zeit man erläutert, wo unvorhergeseh'n, wie an verborgnem Riff, so manches Lebensschicksal ist gescheitert. Mit früher nie geahnter Sicherheit findet sein Brot ein jeder, sein Behagen; wenn die Natur nicht störet die Zufriedenheit, seh' ich die Menschen sich versteh'n, - vertragen. Da kam an einem Metzgerladen ich vorbei, wo Frau'n ihr Minimum an Fleisch beheben,1 dort gab's zu meinem Staunen ein Geschrei, als ging es irgend jemand schon an's Leben. Und als ich näher kam, den Grund zu suchen, den ich versteh'n nicht konnte, noch erraten, da hört ich zwischen Schreien, Schelten, Fluchen, nur zwischendurch etwas wie »Lungenbraten«.2 Ein Weib schrie, dass es alle ander'n hörten, da ihr der Metzger »Vorderes« 3 wollte geben, den Lungenbraten aber, den begehrten, der schönen, jungen Frau gab, die daneben. Vergeb'nes Müh'n, das Weib zu überzeugen, da doch beim Ochsen ungleich die Ration! Ein Weib bringt man mit Logik nicht zum Schweigen, schon gar nicht, wittert irgendwie sie Korruption. Es pflanzt der Streit sich fort bis auf die Straße, das Volk ergreift Partei für den, der lauter schreit, die Menge wächst zur sogenannten breiten Masse und macht Revolution bei der Gelegenheit. Die Staatsgewalt zur Demission gezwungen, weicht machtlos der Reaktion, die, da ihr dieser Streich gelungen, sogleich errichtet einen Herrschaftsthron. Da seh das Weib ich wieder zum Metzger laufen, doch untertänig steht sie da voll Zagen; heut kann für Geld sie nicht mal »Vorderes« kaufen, um einen Knochen bettelt sie, um ihn zu benagen. Wenn auch das alles nur ein Traum war, konnt' das Erwachen doch mich nicht erheitern, denn plötzlich wurde es mir offenbar: es wird die Nährpflicht an den Ochsen scheitern! Quelle:
Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich, Nachlass
Marie Jahoda, Signatur 41/7.2, pag. 10.
Das
Gedicht bezeugt Carl Jahodas Bewunderung des Erfinders, Philosophen
und pazifistischen Sozialreformers Josef
Popper-Lynkeus (1838-1921), dessen
sozialreformerische Ideen in der allgemeinen Nährpflicht (anstatt
der allgemeinen Wehrpflicht) gipfelten.
1 Diese
Anspielung auf die Hungerjahre in Wien legt nahe, dass das Gedicht
bald nach Ende des Ersten Weltkrieges entstanden ist. Anmerkung
Reinhard Müller.
2 Lungenbraten:
Lendenbraten. Anmerkung
Reinhard Müller.
3 Vorderes:
auch »Wadschinken«, vor allem als Gulasch- und Suppenfleisch
genutztes Rindfleisch. Anmerkung
Reinhard Müller.
© Reinhard Müller -- Graz, im Oktober 2006 |
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